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Britischer Fisch und amerikanisches Chlorhühnchen dürften bald die englische Cuisine dominieren, zumindest, wenn der Brexit den Gang geht, der sich aktuell abzeichnet. Denn der oberste Brexiteer, Boris Johnson, zeigt sich hartleibig in den Verhandlungen mit der EU. Ein No-Deal ist wahrscheinlicher denn je. Gleichzeitig kommt er den USA und ihren Forderungen nach Marktzugang weit entgegen. Auf britischen Tellern könnten im Endeffekt also heimischer Fisch und amerikanisches Hühnchen bleiben, für frisches europäisches Gemüse ist da kein Platz (und kein Geld) mehr.

Ein knappes halbes Jahr nach dem offiziellen Austritt aus der EU müsste ein Abkommen über das künftige europäisch-britische Verhältnis eigentlich fast schon in trockenen Tüchern sein. Immerhin sprach der wortgewaltige Premier vor der Wahl von einem „ofenfertigen Deal“, den er in der Hinterhand habe. Der Zeitplan war von Beginn sportlich und da war die Coronakrise noch gar nicht einberechnet: Ganze elf Monate waren vorgesehen, um Themenfelder wie Güter, Dienstleistungen, berufliche Qualifikationen und vieles mehr zu klären.

Eine einjährige Verlängerungsklausel ist zwar vorgesehen, muss aber von der britischen Regierung bis 15. Juni gezogen werden. Das hat Boris Johnson rundheraus abgelehnt, ein entsprechendes Gesetz durchs Parlament gebracht und sich auch von der – laut Bank of England – schlimmsten Wirtschaftskrise seit 300 Jahren nicht davon abbringen lassen. Aber Fortschritt ist weit und breit nicht in Sicht. Der EU-Unterhändler Michel Barnier klagte jüngst, dass kein Einlenken erkennbar und der Zeitplan kaum haltbar sei.

Beide Seiten liegen in zentralen Punkten auseinander, es zeichnet sich ein grundsätzlicher Konflikt ab. Während das Vereinigte Königreich sich als Verhandlungsziel mehr Autonomie und Souveränität gesetzt hat, bleibt es die Position der EU, dass die Integrität des Binnenmarktes geschützt werden muss. Keine Extrawurst für London also. Unterhalb dieser eher philosophischen Ebene liegen zwei konkrete Stolpersteine: die Frage des regulatorischen Rahmens und Fischerei. An beiden lassen sich die eher abstrakten Grundhaltungen illustrieren.

Während das Vereinigte Königreich sich als Verhandlungsziel mehr Autonomie und Souveränität gesetzt hat, bleibt es die Position der EU, dass die Integrität des Binnenmarktes geschützt werden muss.

Das „Level Playing Field“ – wie der angestrebte regulatorische Rahmen im Fachsprech genannt wird – soll dafür sorgen, dass britische Unternehmen nach dem Brexit nicht gegenüber ihrer europäischen Konkurrenz bevorteilt werden, indem London Arbeitsstandards herunterschraubt, die Umweltgesetzgebung ausdünnt oder bestimmten Unternehmen mit Staatshilfen unter die Arme greift. Für die EU gibt es daher einen klaren Link zwischen Zugang zum Binnenmarkt und der Verpflichtung, sich an diese Regeln zu halten. Für die Brexiteers ist allerdings die Vorstellung, sich an europäische Regeln halten zu müssen Anathema. Johnson argumentiert gewohnt pompös, dass Großbritannien ohnehin viel höhere eigene Standards anstrebe als die EU und daher kein Grund zur Sorge bei den kleinmütigen Europäern bestehe. Regeln hier, Souveränität da.

Beim Fisch erscheint es auf den ersten Blick ungewöhnlich, dass dieser Wirtschaftszweig, der gerade mal zwölf Tausendstel der britischen Ökonomie ausmacht, das Potential hat, einen Deal mit Europa scheitern zu lassen. Aber der symbolische Wert ist deutlich höher. Nicht zufällig gibt es kaum bessere Fototermine für einen Premierminister zur Demonstration von Souveränität über die britische See, als mit einem dicken Fisch in der Hand vor einem englischen Fischerboot zu stehen. Gleichzeitig lässt sich am Fisch die wahrgenommene Ungerechtigkeit der EU so wunderbar konkret exemplifizieren. Durch die Gemeinsame Fischereipolitik werden seit Jahren Quoten festgelegt, die es europäischen Fischern ermöglichen, in britischen Gewässern zu fischen.

Und teilweise stehen ihnen dafür höhere Quoten zu, als ihren englischen Kollegen. Als plakatives Beispiel wird immer der Kabeljau aus dem englischen (!) Kanal angeführt, hier stehen Frankreich 84 Prozent und dem Vereinigten Königreich lediglich neun Prozent zu. Dieses Missverhältnis machten sich die Brexiteers schon früh zunutze. Nicht von ungefähr waren die Küstenorte, die seit Jahren im Niedergang befindlich sind, lautstarke Unterstützer des Brexit. Was allerdings verschwiegen wird, ist der Umstand, dass die etwa 30 Prozent der Fangrechte, die Großbritannien insgesamt zustehen, von der Regierung in London seit Jahren an wenige zahlkräftige Großunternehmen vergeben werden, ein Umstand, der sich auch nach dem Brexit nicht ändern wird. Was übrigens auch gleichbleiben wird, ist die Notwendigkeit, Zugang zum europäischen Markt zu bekommen, denn ein Großteil des in britischen Gewässern gefangenen Fischs wird nicht auf der Insel selbst verzehrt. Es ist also durchaus möglich, dass Großbritannien sich hier bei den Fangquoten durchsetzt, danach aber keine Abnehmer für das Meeresgetier findet.

Die berüchtigten Chlorhühnchen, das genmanipulierte Rindfleisch oder andere Spezereien, die bisher keinen Eingang in europäische Supermärkte fanden, sollen britischen Verbrauchern bald zugänglich sein.

Boris Johnson macht sich also einerseits für mehr Fisch stark und nutzt dabei geschickt das Bild des kleinen englischen Fischtrawlers, der bald wieder einen größeren Fang ins malerische Dorf unter den Kreidefelsen bringen kann. Auf der anderen Seite signalisiert seine Regierung aber in den Verhandlungen mit den USA große Offenheit für amerikanische Agrarprodukte. Die berüchtigten Chlorhühnchen, das genmanipulierte Rindfleisch oder andere Spezereien, die bisher keinen Eingang in europäische Supermärkte fanden, sollen britischen Verbrauchern bald zugänglich sein. Zu Beginn werden sie zwar noch mit höheren Zöllen belegt, aber diese sollen spätestens nach zehn Jahren wegfallen. Dann sollen Käuferinnen und Käufer selbst, souverän, entscheiden, welches Produkt sie erwerben. Es erscheint also vermarktungstechnisch recht praktisch, dass die USA auch darauf bestehen, das viele Kleingedruckte auf den Verpackungen zu reduzieren. Offenbar soll den Britinnen und Briten der Appetit nicht durch zu viel Information verdorben werden.

Hinter dieser Strategie Johnsons und seiner Regierung verbirgt sich nicht die Sorge um die kleinen Fischerdörfer in Wales oder Cornwall. Sie wollen auch nicht zwanghaft höhere Arbeitsstandards oder schärfere Umweltgesetze einführen, woran sie durch die EU gehindert werden. Stattdessen wollen sie den Boden, den EU-Regeln in vielen ganz praktischen Lebensbereichen wie Arbeit, Einkauf oder auch saubere Atemluft geschaffen haben, loswerden oder zumindest nachhaltig perforieren. Die Corona-Krise war für einige in der Ministerriege nur eine lästige Ablenkung, nicht umsonst hat die Regierung als Ganzes in der Krisenbekämpfung weitgehend versagt. Stattdessen marschieren sie weiter stramm in eine Zukunft, von der sie sich noch weniger staatliche Einmischung, noch weniger Regeln und dafür eher mehr Markt und Profit für eine kleine Minderheit ohnehin schon Reicher versprechen. Was dabei für die einfachen Bürgerinnen und Bürger auf dem Teller landet, spielt keine Rolle.