Es war der Gänsehautmoment des Labour-Parteitags. Die Partei ist offen für ein zweites Referendum, erklärte Brexit-Schattenminister Keir Starmer. Und, so der entscheidende Nachsatz, bei diesem Referendum müsste auch die Option des Verbleibs in der EU zur Wahl stehen. Der Applaus, der vorher schon anhaltend und laut war, wollte nun kaum mehr enden und der Saal erhob sich jubelnd.

Die Delegierten feierten Starmer mit Standing Ovations. Einige seiner Kollegen aus der Führungsriege aber saßen mit eher versteinerten Gesichtern da. Dieser Kontrast illustriert die Zerrissenheit der Partei. Bislang war Labour in der Brexit-Frage bewusst vage geblieben. Man hoffte, den Spagat zwischen den eigenen zunehmend proeuropäischen Mitgliedern und den Wählerinnen und Wählern in der großen Zahl von euroskeptischen Labour-Wahlkreisen so besser überstehen zu können. Denn die Debatte zum Brexit birgt Gefahren für Labour wenn es darum geht, künftig Wahlen zu gewinnen. Die Kluft zwischen den vielen neuen, eher europafreundlichen Wählern aus der urbanen, gut ausgebildeten Mittelschicht und der klassischen Labour-Wählerschaft aus der Arbeiterklasse Nord- und Mittelenglands erschien unüberbrückbar. Entsprechend wurde jede Festlegung vermieden, um niemanden zu verprellen. Beim letzten Parteitag hatte man, noch im Rausch der fast gewonnen Wahl von 2017, keine Debatte über die eigene Brexit-Position zugelassen. Das kam auch dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn selbst entgegen, dem zwar der Ruch des linken Euroskeptikers anhängt, der aber bislang erfolgreich um eine klare Festlegung herumlavieren konnte.

Auf Dauer konnte sich die Opposition ihrer Majestät in der Brexit-Frage nicht mehr wegducken.

Aber schon im Vorfeld des diesjährigen Parteitags hatte sich abgezeichnet, dass dieses Lavieren nicht länger möglich sein würde. Sowohl die mächtigen Gewerkschaften als auch Momentum, die Kampagnenbewegung zur Unterstützung von Corbyn, hatten sich dafür ausgesprochen, die Position von Labour zu klären. Sie sahen sich dabei einig mit mehr als 150 Ortsvereinen, die Anträge zum Brexit eingereicht hatten - eine Tatsache, der sich der Vorsitzende mit seinem basisdemokratischen Anspruch nur schwer entziehen konnte. Aber auch das Argument der staatspolitischen Verantwortung wurde zunehmend lauter. Die Premierministerin steht einer Regierungspartei vor, die vollends in ideologischen Lagern zerstritten ist. Die Tories machen dabei den Eindruck, dass sie eher Großbritannien wirtschaftlich und politisch schwer schädigen, als dass irgendeine Faktion Kompromisse eingeht. Auf Dauer konnte sich da die Opposition ihrer Majestät nicht mehr wegducken.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Labour neben den Tory-Chaoten das bessere Bild abgeben würde, war von Beginn an groß. Erwartet wurde ein von der Führung oktroyierter Formelkompromiss, der niemanden wirklich bindet. Auf den ersten Blick wirkt die nun erzielte Einigung auch genauso. Aber es verbirgt sich mehr dahinter. Es ist Labour gelungen, die bisherigen Brüche in einem intensiven, demokratischen Prozess in einen Kompromiss zu überführen. Alle Beteiligten der mehr als fünf Stunden dauernden Debatte schwärmen von der respektvollen, sachlichen und zielorientierten Atmosphäre, die am Ende zu einem sorgsam ziselierten Text führte. Darin können sich eher Brexit-zugeneigte Vertreter ebenso wiederfinden, wie die vielen europhilen Remain-Befürworter, die sich Labour in den letzten Jahren zugewandt haben. Das Papier macht deutlich, dass Labour faktisch jeden Deal der Tories, darunter auch No-Deal oder Verschleppungstaktiken wie einen Blind Deal, ablehnen wird. Stattdessen fordert die Partei entweder Neuwahlen - das ist die favorisierte Option - oder eben ein zweites Referendum. Darüber hinaus fordert Labour jedoch auch die Fortsetzung der Demokratisierung der EU und die Vertiefung europäischer und internationaler Kooperation. Gerade letzteres ist mit einem Austritt nur schwer vorstellbar und liefert damit einen ersten Hinweis, wie die Linke in Labour mit einem EU-Verbleib versöhnt werden könnte.

Labour hat sich nicht ausreichend mit der Frage befasst, warum eigentlich so viele Menschen für den Brexit votiert haben.

Aber der Zusammenhalt, der diese Debatte prägte, ist vorläufig. Vor diesem Parteitag war Labour in einen intensiven internen Machtkampf verwickelt. Die Brexitfrage galt als eine der Bruchlinien, an denen sich die Differenzen zwischen den euroskeptischen Linken und den europhilen Kräften der politischen Mitte aufzeigen lassen würden. Das war in Liverpool nicht der Fall und erstaunlicherweise hat sich auch noch niemand von dieser Einigung distanziert. Die tiefen Gräben zwischen Corbyn-Anhängern und Gegnern sind zwar nicht verschwunden, momentan aber weniger sichtbar. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen hat Corbyn seit seiner Wahl 2015 alle  Auseinandersetzungen gestärkt überstanden, seine Machtposition ausgebaut und seine Position konsolidiert. Die Kämpfe zwischen den Corbynistas und der so genannten alten Garde sind daher vorerst entschieden und er müsste wohl erst eine Wahl verlieren, um wieder angreifbar zu werden. Zum anderen konzentrieren sich viele seiner Gegner momentan auf die aus ihrer Sicht drängendere Frage - die Abwendung eines katastrophalen Brexits. Daher tragen sie den beim Parteitag gefundenen Kompromiss mit.

Denn er enthält alle Bestandteile der Wunschliste, die man in der Partei zusammentragen kann: die Tür nach Europa wird ein Stück weit geöffnet, der Brexit kann für Labour zum Steigbügel an die Macht werden und Corbyn erweist sich staatsmännisch im Vergleich zur chaotischen Regierung. Jetzt kann sich Labour vorerst zurücklehnen und abwarten, wie sich die Tories bei ihrem Parteitag in der kommenden Woche selbst zerfleischen.

Aber dieses sehr taktische Vorgehen verdeckt tiefer liegende Probleme. Denn wenn man die Labour-Brille absetzt, sieht es längst nicht so rosig aus. Auch wenn sich die Regierung um Theresa May im Sommer beinahe selbst zerlegte, ein Bild des Schreckens abgibt und sie sich beim EU-Gipfel in Salzburg letzte Woche bitter blamierte – Labour hat nicht wirklich Boden auf die Konservativen gut machen können. In den Umfragen liegen beide Parteien etwa gleichauf. Bei den Kommunalwahlen im Mai hat Labour auch nicht so gut wie erwartet abgeschnitten. Stattdessen ist nun auch beim Parteitag in Liverpool noch einmal deutlich geworden, dass die Partei sich nicht ausreichend mit der Frage befasst hat, warum eigentlich so viele Menschen für den Brexit votiert haben. So lange die Partei keine überzeugenden Antworten auf die tiefer liegenden sozialen und wirtschaftlichen Ursachen findet, wird auch der Kompromiss des Parteitags nicht dazu führen, dass eine mögliche Wahl oder auch ein potentielles zweites Referendum automatisch gewonnen wird.