70 Jahre nach der Endspielteilnahme – nach dem „Wunder von Bern“ – und unmittelbar nach einer für ihn erschütternden Europawahl wünscht sich Viktor Orbán dringend einen Erfolg bei der UEFA Euro 2024 in Deutschland. Natürlich ist Ungarn nicht das einzige Land, in dem Fußball eng mit Politik verwoben ist. Als der britische Premierminister Rishi Sunak die nächste Parlamentswahl für den 4. Juli ansetzte, hat er womöglich darauf gesetzt, dass die Europameisterschaft nationalistische Gefühle befeuern und so das breite Streben nach politischem Wandel ein Stück weit hemmen könnte. Aber die Fußball-Obsession der ungarischen Politik übersteigt alles Übliche.

Vielen Stimmen zufolge war der deutsche Sieg im WM-Finale in Bern am 4. Juli 1954 die „echte Geburt der Bundesrepublik“, zumindest, was das Selbstvertrauen anging. Für Ungarn, das nach 1938 zum zweiten Mal ins WM-Finale gelangt war, bedeutet Bern einen nie wieder erreichten Höhepunkt – darauf folgte ein langer Niedergang. Wenn es in späteren Jahren der ungarischen Mannschaft gelang, die bundesdeutsche zu schlagen, wie etwa 1985 bei einem Freundschaftsspiel, dann kamen ihr Glück und schlechtes Wetter zu Hilfe. So schmerzhaft die Niederlage in Bern auch war, rief sie doch keine negativen Gefühle gegen die Deutschen hervor, da die ungarischen Fußballfans überwiegend falsche Entscheidungen des Trainers und des englischen Schiedsrichters dafür verantwortlich machten. Heute gilt ungarischen Sportjournalisten die Bundesliga als die ungarischste aller großen Fußball-Ligen, weil dort Péter Gulácsi, Willi Orban und Roland Sallai spielen, bis vor kurzem auch die Kapitäne der Nationalmannschaft Ádám Szalai und Dominik Szoboszlai. Bei den älteren Fans einiger deutscher Clubs bleiben die Namen Lajos Détári, Gábor Király und Pál Dárdai unvergessen.

Auf die aktuelle Sommer-EM in Deutschland setzen die Ungarinnen und Ungarn große Hoffnungen, da ihre Nationalmannschaft in den vergangenen anderthalb Jahren ungeschlagen geblieben ist. Das allmählich ansteigende Fußballfieber im Land bezeugt auch die Tatsache, dass 2023 der beliebteste Name für neugeborene Jungen „Dominik“ lautete, der Vorname des Mannschaftskapitäns. Fußball ist jedoch nicht nur populär, sondern hat in der ungarischen Politik schon immer eine wichtige Rolle gespielt, seit den schmerzhaften 1950er Jahren. Damals wollte das nachgeahmte stalinistische Regime unter Mátyás Rákosi den Erfolg der von Ferenc Puskás angeführten Fußballnationalmannschaft nutzen, um die Gesellschaft in der Zeit schwerer politischer Repressionen zu beruhigen und zu besänftigen. Das autokratische Regime, das Viktor Orbán seit 2010 im Schnelldurchlauf errichtet hat, hat das Land auf vielen Ebenen zurück in die Atmosphäre der 1950er Jahre versetzt. Bereits während Orbáns erster Amtszeit als Ministerpräsident von 1998 bis 2002 wurde Ungarns Sieg im „Jahrhundertspiel“ über England von 1953 zum Thema eines Spielfilms, in dem sein Freund Károly Eperjes die Hauptrolle spielte: Ferenc Puskás. 2014 überreichte Orbán den Puskás-Preis für das beste Tor des Vorjahres an Zlatan Ibrahimović. Er benannte auch den Fußballclub seines Heimatdorfes Felcsút und dessen Akademie nach dem ungarischen Fußballhelden – der Puskás Akadémia FC spielt seit 2013 in der ersten Liga. Und kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament und den Kommunalwahlen ließ Orbán es sich nicht nehmen – zur Belustigung vieler Ungarinnen und Ungarn –, selbst ein neues Buch über die 100-jährige Geschichte des Fußballs im 1 800 Einwohner zählenden Felcsút vorzustellen.

Der gesamte Vorstand des ungarischen Fußballverbands ist mit Oligarchen besetzt, die eng mit Orbán verbunden sind.

Die Obsession, mit sportlichen Erfolgen ungarische Geschichte zu schreiben, kulminierte in Orbáns Olympia-Plänen für 2024. Die entsprechende Kampagne begann damit, dass das von Orbáns Fidesz dominierte Parlament 2010 den ehemaligen Fechter und Olympiasieger von 1972 Pál Schmitt zum Staatsoberhaupt wählte. Doch im weiteren Verlauf wurden die Olympia-Kampagne von der jungen liberalen Bewegung Momentum aus der Bahn geworfen. Die breite Opposition gegen das verschwenderische und undurchsichtige Megaprojekt verlangte eine Volksabstimmung, die Orbán in Budapest auf jeden Fall verloren hätte, und so wurde die Bewerbung ganz plötzlich zurückgezogen. Ein erneuter Anlauf für eine ungarische Olympia-Bewerbung ist gut möglich.

Die Einmischung der Regierung in sportliche Angelegenheiten seit Orbáns Comeback 2010 war ganz wichtig für die Etablierung neuer Machtstrukturen. Der Bau von Stadien wurde nationale Strategie, angefangen mit dem kompletten Neuaufbau des großen, in der Nachkriegszeit errichteten Népstadions, das heute „Puskás-Arena“ heißt. Prominente Fidesz-Politiker übernahmen auch Ämter in Sportvereinen, wie der langjährige Europa-Abgeordnete Tamás Deutsch als Präsident von MTK Budapest. Der gesamte Vorstand des ungarischen Fußballverbands ist mit Oligarchen besetzt, die eng mit Orbán verbunden sind. 2010 installierte die Regierungspartei Fidesz ihren Vorsitzenden Gábor Kubatov als Präsidenten des Fußballclubs Ferencváros. Dahinter stand die kaum verschleierte Absicht, die Popularität dieses Spitzenvereins politisch auszuschlachten. Inzwischen führt Ferencváros mit sechs Titeln in Folge die ungarische Liga konkurrenzlos an.

Was die Ausgaben der Regierung für Fußballclubs und -Akademien anbelangt, zählt Orbáns Heimatdorf zu den größten Profiteuren.

Die Deindustrialisierung Ungarns in den 1990er Jahren führte auch zum Niedergang mancher traditioneller Fußballvereine: Eine ganze Generation wuchs auf, die das Nationalteam weder bei Europa- noch bei Weltmeisterschaften antreten sah, und die Fußballer gewöhnten sich daran, vor kleinem Publikum zu spielen. Daher trugen die Eintrittskarten nur wenig zum Budget der professionellen Vereine bei, und diese mussten stattdessen auf Werbung, Tantiemen und Spenden von – meist staatlich kontrollierten – Unternehmen setzen. Orbán regte Unternehmen mit Steuererleichterungen dazu an, mehr in Fußball zu investieren.

Was die Ausgaben der Regierung für Fußballclubs und -Akademien anbelangt, zählt Orbáns Heimatdorf zu den größten Profiteuren. Felcsút erhielt ein überdimensionales Stadion. Doch diese ländliche Extravaganz blieb lange ein innenpolitisches Thema, bis man im letzten Jahr die israelische Nationalmannschaft einlud, zwei internationale Spiele dort auszutragen, weil die Sicherheitsbedenken im eigenen Land zu groß waren. Diese Verlegung war nur möglich, weil Viktor Orbán und Benjamin Netanjahu eng miteinander befreundet sind. Auch andere Freundschaften des Premierministers haben Auswirkungen auf den Fußball. Waren bereits Bedenken laut geworden, weil Ungarn trotz Putins Angriff auf die Ukraine weiterhin russisches Öl und Gas kauft, halten sich seit April hartnäckige Gerüchte, dass Gazprom als Sponsor des ungarischen Spitzenclubs Ferencváros einsteigen werde.

In Orbánistan werden die großen Fußballer der goldenen Zeit, vor allem der 1950er Jahre, wie Heilige verehrt. Trotzdem konnten die hohen Ausgaben für Sport und besonders für Fußball bislang keine vergleichbaren Spieler hervorbringen. Das Geld hat sich definitiv nicht in Fußballerfolge umgesetzt, zumindest ist keine hochwertige Nationalliga entstanden. Dennoch sollte man diese Investitionen nicht als komplette Fehlkalkulation betrachten, denn ihr Ziel war stets ein anderes: die politische Vorherrschaft zu sichern. Statt die nationale Einheit anzustreben, wie es anderswo der Fall wäre, geht es in Ungarn um parteipolitischen Nationalismus.

In allen Ländern sorgen die heimischen Athletinnen und Athleten für patriotische Empfindungen, doch Ungarn verstärkt sie deutlich mehr als andere Staaten. Vor dem Spiel singen die Fußballer mit der Hand auf dem Herzen die Nationalhymne, und sie wiederholen dieses Ritual auch nach dem Spiel. Inzwischen ist dieser Pflichtausbruch nationaler Gefühle allerdings mehr Substitut als Substanz. Während Ungarn im Laufe des 20. Jahrhunderts Weltklasse-Trainer exportierte, werden sie heute importiert, sowohl für die Clubs als auch für die Nationalmannschaft. Der Mann hinter der aktuellen Erfolgsserie ist der Italiener Marco Rossi, der im vergangenen Oktober die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen hat.

Weder die Clubs noch der Nationalverband unternehmen viel gegen Gewalt und Rassismus.

Fußballnationalismus ist allerdings nicht unbedingt sanft und harmlos. Weder die Clubs noch der Nationalverband unternehmen viel gegen Gewalt und Rassismus. Während die UEFA entsprechende Kampagnen führt und das Gleiche von den Nationalligen erwartet, erfüllt Ungarn seine Verpflichtungen nicht wirklich. Umgekehrt können sich ultranationalistische Fans stets auf den Schutz ihres Landes verlassen. Orbáns erste Justizministerin Ibolya Dávid wurde 2001 mit dem Ausspruch „Ich verstehe nicht viel von Fußball.“ bekannt, als man sie um ihre Meinung zu verschiedenen Skandalen befragte, darunter Ausbrüche von Antisemitismus. Skandalträchtig war auch das Aufeinandertreffen von Deutschland und Ungarn 2021 in München. Kurz zuvor hatte das ungarische Parlament ein Gesetz gegen LGBTIQ-Informationsrechte für Minderjährige beschlossen, woraufhin der Münchner Stadtrat und LGBTIQ-Aktivistinnen und Aktivisten forderten, das Münchner EM-Stadion beim Euro-2020-Gruppenspiel der beiden Mannschaften in Regenbogenfarben zu erleuchten. Der europäische Fußballverband UEFA lehnte dieses Ansinnen ab, da es einer politischen Aussage gleichgekommen wäre. Von der UEFA gab es bislang auch keinen Kommentar zur aktuellen ARD-Umfrage zur Hautfarbe deutscher Nationalspieler.

Trotzdem war es nicht die UEFA, sondern die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin, die Orbáns Regime lange Zeit vor strengeren Maßnahmen schützte, obwohl es den Rechtsstaat in Ungarn ausgehöhlt hatte. Laut einem ungarischen Witz hatte Angela Merkel dafür drei Gründe: Audi, Mercedes und BMW – die drei wichtigsten Automobilunternehmen, die alle stark in Ungarn investiert haben, oft mit besonderen Deals mit Orbán. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende, der Ball ist rund, und auch Gary Lineker kann sich einmal irren. In der Politik wie im Fußball können Trends gebrochen werden, und das Unerwartete kann geschehen.

Aus dem Englischen von Sabine Jainski