Kaum war die Tinte trocken, da ging es bereits wieder los. Dabei hatten sich beide Länder erst auf eine Formulierung geeinigt, die den seit der Taxonomie-Debatte anschwellenden Konflikt beilegen sollte. Ob mit Erneuerbaren Energien oder Atomstrom: Deutschland und Frankreich sollten ihre Unterschiede bei der Wasserstofferzeugung in Kauf nehmen und gemeinsam am Aufbau eines europäischen Wasserstoffmarktes arbeiten.

Doch der Konsens vom 22. Januar hielt nicht lange. Wenige Tage später entbrannte der Streit aufs Neue, diesmal im Rahmen der Verhandlungen um die Erneuerbare-Energien-Richtlinie namens RED II. Frankreich bildete eine Koalition aus elf Mitgliedstaaten und ging in die Offensive. Alles deutet darauf hin, dass die anstehenden Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten, Kommission und EU-Parlament den Streit weiter eskalieren werden. Denn am Ende geht es nicht nur um Milliardengelder. Es geht auch um die Führungsfrage in Europa. Und hier ist klar: Frankreich will diese für sich entscheiden.

Der Krieg in der Ukraine mag das transatlantische Bündnis zusammengeschweißt haben. Für Deutschland und Frankreich wurde er jedoch zum Spaltpilz. Beide Länder sind sich schon lange bewusst, dass sie unterschiedliche Antworten auf globale Herausforderungen haben. Nun wissen sie, dass ihre Vorstellungen vorwiegend inkompatibel sind. Die Zeiten, in denen sie Kompromisse erarbeiteten, die sie dann den übrigen Europäern verkaufen konnten, sind passé. Es bricht eine neue Epoche an: die Epoche der offenen Konfrontation. Und Emmanuel Macron weiß sie meisterhaft zu inszenieren. Als Bundeskanzler Olaf Scholz nach der Verschiebung des Deutsch-Französischen Ministerrats im Oktober nach Paris eilte, um ein Vieraugengespräch mit dem Präsidenten zu führen, ließ dieser ihn ein paar Minuten vor den Toren des Elysée-Palasts warten. Ein Affront, der zeigen sollte, wer den Takt angibt. Vergleichbares ereignete sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, als Olaf Scholz sprach (14.15 Uhr) und Macron, der wenig später das Wort ergreifen sollte (14.45 Uhr), nicht erschien.

Dass der französische Präsident sich aktuell nicht in der Rolle des Zuschauers sieht, liegt auf der Hand. Er will auf der Bühne stehen, da, wo die Geschichte geschrieben wird. Kein Weg soll an ihm vorbeiführen. Bereits am 9. Februar hatte er beim Empfang von Wolodymyr Selenskyj im Elysee- Palast demonstrativ gezeigt, wer das Sagen in Europa hat. Scholz war dabei – jedoch nur als Gast, als Gast von Macrons Gnaden. Und dann München, der Ort, an dem in der Regel ein Signal der Einigkeit gesendet wird. Macron entschied sich anders. Seine Rede war am Ende nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit dem Kurs von Bundeskanzler Scholz und dessen European Sky Shield Initiative (ESSI).

Es bricht eine neue Epoche an: die Epoche der offenen Konfrontation.

Was den Präsidenten dabei stört, ist nicht nur, dass Deutschland Frankreich ausgrenzt und sich anmaßt, die Führung in einem Bereich zu übernehmen, in dem Frankreich traditionell die Nase vorne hat. Macron sieht im deutschen Projekt eine Absage an den Rüstungsstandort Europa. Denn mit der Beschaffung von Luftverteidigungssystemen aus Israel (Arrow 3) und Amerika (Patriot) würde die EU nicht nur der teuersten Option den Vorrang geben. Sie würde, so Macron, eine einzigartige Gelegenheit verstreichen lassen, ihre industrielle und technologische Verteidigungsbasis zu stärken.

„Keine europäische Entwicklungslösung, die hinterher nicht läuft. (. . .) Es gibt auf dem Markt alles, was wir brauchen.“ Diese Ausführungen vom ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn bei der Debatte zur Nationalen Sicherheitsstrategie im September 2022 hatten bereits in Paris für große Aufregung gesorgt. Beim NATO-Verteidigungsministertreffen in Brüssel, vier Wochen später, hatte Deutschland Nägel mit Köpfen gemacht und zusammen mit 15 europäischen Ländern – darunter dem Beitrittskandidaten Finnland – eine Absichtserklärung zur Umsetzung der ESSI unterzeichnet. Für Frankreich, das auf einmal isoliert dastand, eine unzumutbare Situation. Nun lädt Macron zu einer großen Konferenz nach Paris ein. Ein geschickter Schachzug, denn am Ende bestimmt der Gastgeber nicht nur die Agenda, sondern auch wer eingeladen wird. Und an dieser Stelle hat sich der Präsident unmissverständlich geäußert: Die Konferenz solle allen EU-Mitgliedern und Industriellen offenstehen. Nicht-Europäer seien nicht erwünscht. 

Macrons forsches Vorgehen mag als Auswuchs französischer Arroganz erscheinen. Doch in der Substanz liegt der französische Präsident richtig. Scholz’ Fixierung auf Biden wird mittlerweile nicht nur in Paris mit Argwohn betrachtet, sondern auch in den USA – und das nicht nur im republikanischen Lager. Der anstehende US-Präsidentschaftswahlkampf sollte diesen Trend noch verstärken. Ähnlich wie die dramatisch zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China, welche der jüngste Beitrag von Henry Olsen in der Washington Post Anfang März deutlich macht: „Die Vereinigten Staaten können es sich nicht leisten, den Großteil der konventionellen Verteidigungskräfte für Europa bereitzustellen und gleichzeitig eine wachsende Bedrohung durch China einzudämmen. (...) Der Pazifik ist für die strategischen Interessen der USA zu wichtig, als dass Biden Europa den Vorrang einräumen könnte. Deutschland muss sich mehr engagieren – und zwar schnell.“ Der Schwenk nach Europa wird in diesem Zusammenhang nur ein Intermezzo sein. Es ist allen klar. Aus französischer Sicht verfolgt der Bundeskanzler eine Strategie, die Europa abhängig von den USA macht und am Ende die eigene Handlungsfähigkeit gefährdet. Daher die Härte, die Macron gegenüber Deutschland an den Tag legt.

Der Ansatz des französischen Präsidenten wurde oft eindimensional interpretiert, nämlich als Ausdruck der Sorge, dass der Krieg in der Ukraine zu einem weiteren Machtgewinn Deutschlands führen könnte. Das ist sicherlich richtig, gleichzeitig aber zu kurz gegriffen. Denn Macron ist überzeugt: Der Krieg ist Teil eines hybriden Konfliktes globalen Ausmaßes. Die Antwort darauf kann daher nur globaler Natur sein. Sein Drang zu handeln lässt ihn nun Strategien wie am Fließband produzieren. Wer sich damit auseinandersetzt, merkt: Frankreich hadert noch immer mit einer klaren Positionierung in der neuen geopolitischen Landschaft. Die Methode hingegen ist klar: Es geht nur mit Partnern. Frankreich musste in den letzten Monaten anerkennen, dass man sich mit Ressourcen einer Mittelmacht in einer Welt voller Großmachtambitionen nicht mehr allein behaupten kann. Für das selbstbewusste Land eine schmerzhafte Erkenntnis und eine Zäsur historischer Tragweite.

Frankreich hadert noch immer mit einer klaren Positionierung in der neuen geopolitischen Landschaft.

Dass Macron bei der Vorstellung der Strategic Review (Toulon, 9. November 2022) die Rolle der USA als Garant europäischer Sicherheit würdigte, ließ viele zucken. Zu Recht: Die Geste überrascht. Sie darf aber nicht als Unterwerfung verstanden werden. Im Gegenteil, sie ist vielmehr Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses, das beide Länder als Schlüssel zum Equilibrium sieht. Die „strategische Verschiebung“, von welcher der Präsident in Toulon sprach, ist somit plastischer geworden. Bereits Charles de Gaulle hatte eine vergleichbare Erfahrung durchgemacht. Nachdem er (vergeblich) die Annäherung an die Sowjetunion gesucht hatte, zeigte sich: „Am Ende des Weges, den de Gaulle ursprünglich geplant hatte, um Amerika entbehrlich zu machen, und von dem sich Amerika eine stärkere Integration Frankreichs in die NATO erhofft hatte, hat sich die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden seit langem befreundeten Gegnern (...) als Schlüssel zum Equilibrium erwiesen (…)“ (Henry Kissinger, Diplomacy).

Trotz erheblicher Divergenzen bestehen heute zwischen Frankreich und den USA zahlreiche Schnittmengen. Das wird in Deutschland, das sich schon immer als der bessere Partner der USA betrachtet hat, oft übersehen. Die Erklärung, die Biden und Macron beim Besuch des französischen Präsidenten in Washington Anfang Dezember abgaben, belegt dies auf eindrückliche Weise. Allein das Kapitel zur vertieften Kooperation im Bereich der zivilen Atomkraft hätte Berlin zu einer Reaktion bewegen sollen. Doch die Angst, die USA vor den Kopf zu stoßen, ist zu groß, als dass man in Berlin bereit wäre, eine klare Sprache zu sprechen.

Die Suche nach Partnern ist nun in vollem Gange. Das zunehmend aggressive Vorgehen Chinas dürfte den im Januar eingeleiteten Annäherungsprozess mit Australien beschleunigen. Macron hat zudem angekündigt, die Beziehungen zu Indien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten verbessern zu wollen. Mit Afrika soll nun auch „ein neues Partnerschaftsmodell“ realisiert werden, das – so Macron – von „tiefer Demut“ geprägt sein soll: eine gewaltige Herausforderung angesichts der kolonialen Erblast und des wachsenden Einflusses Russlands und Chinas auf dem Kontinent.

In Europa hat der Präsident schon längst Tatsachen geschaffen und mit Griechenland (27. September 2021), Italien (25. November 2021) und Spanien (19. Januar 2023) Verträge abgeschlossen, welche die bilateralen Beziehungen auf ein neues Level hieven sollen. Die am 10. März vereinbarte „Détente cordiale“ (Mathieu Droin) mit Großbritannien reiht sich in dieselbe Logik ein. Doch wer genau hinschaut, merkt: Das Puzzle ist nicht vollständig. Der Osten bleibt außen vor. Macron weiß: Dort ist die Folgebereitschaft deutlich weniger ausgeprägt als in Westeuropa. Der Grund liegt auf der Hand. Dort hat Frankreich vor und im Zuge des Krieges einen Vertrauensverlust erlitten, der sich nunmehr nur schwer reparieren lässt.

Mit der Europäischen Politischen Gemeinschaft hat der französische Präsident ein Forum initiiert, das viel Potenzial birgt, aktuell jedoch ins Leere zu laufen scheint. Deutschland hat es bis jetzt nur am Rande unterstützt. Daran führt aber kein Weg vorbei. Das Misstrauen gegen beide Länder ist in Osteuropa zu stark, als dass sie sich Einzelgänge erlauben könnten. Am Ende werden sie ohnehin nicht alleine gestalten können. Die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur ist zwar eine Angelegenheit für alle. Ohne entschlossenes deutsch-französisches Zusammenwirken wird sie aber nicht zustande kommen.