In ganz Europa zücken die Finanzminister der Mitgliedsstaaten ihre Scheckbücher. Die belgische Regierung will 1 Milliarde Euro für Ausrüstung aufwenden, Kroatien in den kommenden drei Jahren 41 Prozent mehr in die Verteidigung investieren, Dänemark strebt das NATO-Ausgabenziel von 2 Prozent an, Finnland kündigte einen einmaligen Schub der Verteidigungsausgaben um 70 Prozent an, Frankreich sagte 27 Prozent mehr bis 2025 zu, das Vereinigte Königreich 13 Prozent mehr bis 2024 und zu guter Letzt beschloss Deutschland ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Und die Liste könnte um einiges länger fortgeführt werden. Wohin man schaut: Erhöhung der Militärausgaben auf breiter Front. So jedenfalls der Plan. Doch können die Ambitionen der einzelnen Länder aufgehen oder sind es lediglich Versprechungen, die als erste Reaktion nach der russischen Aggression zwar verständlich, aber in der Realität kaum umsetzbar sind?
Zweifellos werden kurz- und mittelfristig die Rüstungsanstrengungen in Europa erhöht werden. Zu sehr ist das westliche Bündnis und auch die Europäische Union vom Vorgehen Russlands geschockt, als dass man in Kürze wieder zur Tagesordnung übergehen könnte, zumal ein Ende des Krieges nicht abzusehen ist. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir in Europa eine Aufrüstungsspirale erleben werden, wie wir sie aus dem Kalten Krieg kennen. Denn auch Russland, dessen Macht primär auf seinen Energiereserven und den Streitkräften beruht, wird mit Sicherheit auf den Aufrüstungsschub im Westen reagieren. Doch folgende fünf sicherheits- und wirtschaftspolitische sowie finanzielle Gründe lassen erhebliche Zweifel an der Realisierbarkeit der angekündigten Vorhaben aufkommen.
Erstens, Europa droht eine Rezession: Sämtliche Wirtschaftsforschungsinstitute, die meisten Regierungen und der Internationale Währungsfonds prognostizieren eine anhaltende Wirtschaftsflaute. Die derzeitige Inflation, die Erhöhung speziell der Energiekosten und Probleme der globalen Lieferketten lassen die Alarmglocken in vielen industriellen Branchen klingeln. Produktionseinschränkungen wurden bereits vorgenommen oder zumindest angekündigt. Treffen diese Prognosen zu – und Zweifel daran gibt es kaum –, führt dies in Kürze zu einem erheblichen Rückgang der Steuereinnahmen. Schon jetzt sind viele Länder in Europa hoch verschuldet. Die Finanzkrise 2008/09 hat ihre Spuren hinterlassen und ist in der EU längst noch nicht völlig verarbeitet. Daher sind an der Finanzierbarkeit der jetzt angekündigten zusätzlichen Ausgaben im Verteidigungshaushalt gewaltige Zweifel angebracht, es sei denn, das jahrzehntelang propagierte Dogma von der notwendigen Reduzierung der Verschuldung öffentlicher Haushalte wird rasch über Bord geworfen.
Zweifellos werden kurz- und mittelfristig die Rüstungsanstrengungen in Europa erhöht werden.
Zweitens, die Kosten der Corona-Pandemie: Die derzeitige volatile Wirtschaftssituation hat ursächlich auch mit der Corona-Krise zu tun. Lockdowns und andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie – wie die Einschränkung des öffentlichen Lebens – und der Produktionsrückgang in vielen Branchen haben nicht nur den Gesundheitssektor belastet, sondern auch die Regierungen zu finanziellen Maßnahmen in ungekanntem Ausmaß gezwungen. Quasi mit einem Federstrich wurden scheinbar unverrückbare Grundfesten europäischer Finanzpolitik außer Kraft gesetzt. Der Maastricht-Vertrag der EU von 1993 sieht vor, dass das öffentliche Defizit nicht mehr als 3 Prozent des BIPs betragen darf, die öffentlichen Schulden nicht höher als 60 Prozent des BIPs liegen dürfen und die Inflationsrate in keinem EU-Land1,5 Prozent über der der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen darf. Keines dieser drei Kriterien wird derzeit annähernd erfüllt und die EU behilft sich mit der Feststellung, dass dies aufgrund der Corona-Krise eine Ausnahme ist, die so rasch wie möglich überwunden wird. Konkrete Pläne zur Rückkehr zu den Maastricht-Kriterien, obwohl immer wieder beschworen, gibt es nicht.
Drittens, die anfallenden Aufwendungen zur Umkehr des Klimawandels: Durch den Ukrainekrieg ist so manches Ziel zur Bewältigung des Klimawandels in den Hintergrund gedrängt worden, beispielsweise zügig die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren. Nun werden jedoch teilweise bereits beschlossene Klimaprogramme zurückgefahren. So wurde der reduzierte Einsatz von Kohle zunächst verschoben. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Denn je länger die Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels hinausgeschoben werden, umso mehr werden sie später kosten.
Viertens, die Militär- und später die Aufbauhilfe für die Ukraine: Verständlicherweise haben sich zahlreiche Länder bereits jetzt verpflichtet, der Ukraine nicht nur Waffen zu liefern, sondern sie auch auf absehbare Zeit finanziell und wirtschaftlich zu unterstützen. Aktuell geht es zudem um die Versorgung ukrainischer Flüchtlinge sowie darum, die Wirtschaft – so gut es geht – in einer Kriegssituation am Laufen zu halten. Später müssen die zerstörten Städte und die kaputte Infrastruktur wiederaufgebaut werden. Seriöse Schätzungen über die Höhe dieser Belastungen gibt es nicht. Die Unterstützungsmaßnahmen müssen sich aber sicherlich an der Dimension des Marshall-Plans nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges orientieren.
Der Versuch, mit der Ostpolitik eine Partnerschaft aufzubauen, ist gescheitert.
Fünftens, die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland: Völlig ausgeschlossen ist, dass mit Putins Regierung an die Zeiten der Entspannungspolitik vor und nach dem Ende des Kalten Krieges angeknüpft wird. Dazu ist zu viel politisches Vertrauen verloren gegangen. Der Versuch, mit der Ostpolitik eine Partnerschaft aufzubauen, ist gescheitert. Der Westen wird sich langfristig vor Putins Regime nicht nur militärisch schützen müssen, sondern auch seine politischen und vor allem wirtschaftlichen Beziehungen anders gestalten. Trotzdem werden die Ukraine, das übrige Europa und die USA – in welchem politischen Rahmen auch immer – mit der russischen Regierung über eine Beendigung des Krieges oder zumindest einen Waffenstillstand verhandeln müssen. Und ohne russische Energielieferungen wird Europa auf absehbare Zeit kaum auskommen können, wie die schwierige Diskussion über den Stopp von Erdölimporten belegt. Die gestiegenen Energiepreise sind schon jetzt ein Hinweis darauf, was in Zukunft auf uns zukommen könnte. Es wird weder ohne Einschränkungen im Energieverbrauch noch ohne höhere Kosten und Zugeständnisse an Russland möglich sein, die Energieversorgung in Europa nachhaltig zu sichern.
Kurzum: Die anstehenden finanziellen Belastungen unterschiedlichster Art können kaum alle erfüllt werden, zumal erhöhte soziale Kosten anfallen werden, wenn die Wirtschaft schwächelt. All diese finanziellen Strapazen gleichzeitig zu stemmen, entspräche der Quadratur des Kreises. Kompromisse werden vermutlich in sämtlichen Bereichen vonnöten sein. Auch eine erhöhte Verschuldung der öffentlichen Haushalte ist wahrscheinlich. Sind wir doch ehrlich: Längst nicht alle heute angekündigten und geplanten Aufwendungen zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit werden realisiert werden können. Es wäre angebracht, bereits jetzt – obwohl der Krieg in der Ukraine noch längst nicht beendet ist – die langfristigen Folgen in den Blick zu nehmen und die Bürger auf die anstehenden Engpässe und notwendigen Einschränken vorzubereiten.