Wann hat es das zuletzt gegeben? „Phänomenal“ und „unglaublich“ – Worte, die gegenwärtig den Umfragen-Höhenflug des Spitzenkandidaten der französischen Sozialisten im Europawahlkampf beschreiben. Raphael Glucksmann ist die Überraschung des EU-Wahlkampfes schlechthin. Ein Außenseiter, der die einst mächtige, 2017 unter Francois Hollande brutal abgestürzte Parti Socialiste wieder träumen lässt.
Was ist passiert? Auch im Lager des französischen Präsidenten Emanuel Macron kratzt man sich die Köpfe. Woche für Woche robbt sich Glucksmann in den Umfragen an die Kandidatin des Präsidentenlagers, die Abgeordnete des Europaparlaments Valérie Hayer, heran. Wie zwei kommunizierende Röhren: Der Gewinn des einen ist der Verlust der anderen.
Während Demoskopen Glucksmann noch im Februar zwischen neun und zehn Prozent sahen, galten rund 20 Prozent plus für Hayer zunächst als sicher. Seitdem fällt Macrons Kandidatin Schritt für Schritt zurück. Ende Februar knapp 17 Prozent, Anfang Mai wurde sie von Harris interactive nur noch bei 15 Prozent gesehen. Glucksmann steigt unterdessen stetig in der Wählergunst auf und liegt nun mit 14,5 Prozent beinahe gleichauf.
Die Europawahlen könnten für die zerstrittene französische Linke durchaus Weichen stellen. Brice Teinturier, stellvertretender Generaldirektor des Marktforschungsinstituts Ipsos, ist sich sicher, dass „sich in der Linken etwas tut“. Die guten Umfragewerte für die Liste PS-PP – die die Sozialistische Partei (PS) und Glucksmanns eigene Bewegung Place publique (PP) vereint – zeigten, dass „die sozialdemokratische Sensibilität nicht verschwunden ist“, so der Meinungsforscher.
In der Parti Socialiste kann man das Glück kaum fassen, dass es tatsächlich gelingt, verlorene Wähler zurückzuholen.
In der Parti Socialiste kann man das Glück kaum fassen, dass es tatsächlich gelingt, verlorene Wähler zurückzuholen. Auf der einen Seite sind dies vom linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon und seiner Ultraradikalisierung Verprellte. Auf der anderen Seite von Macrons Rechtsdrall empörte Wählerinnen und Wähler. Die effiziente Kampagne Glucksmanns – der übrigens kein Mitglied der PS ist – sägt gegenwärtig vor allem an Mélenchons Führungsanspruch innerhalb der kurzlebigen linken Allianz, der Nouvelle Union populaire écologique et sociale (Nupes). In dieser war die PS hinter der linken La France insoumise (LFI) von Mélenchon und den Grünen sogar auf den dritten Platz verwiesen worden. Und nun diese Wende. LFI, ursprünglich auf rund zehn Prozent geschätzt, ist seither abgestürzt und liegt nur noch bei knapp über sieben Prozent. Die Grünen, Europe Ecologie-Les Verts (EELV), dümpeln bei unter sechs Prozent.
Für die Linke wird am Tag nach der Wahl eine Schlacht um die Deutungshoheit der Ergebnisse einsetzen. Die Kritiker des PS-Parteichefs Olivier Faure werden vermutlich die Wiederauferstehung der sozialdemokratischen Linken feiern und sich darin bestätigt sehen, dass Nupes Gift für die PS sei. Andere werden versuchen, eine Neuauflage der Nupes unter PS-Führung zu entwerfen. Bei LFI behauptet man trotzig, dass die Europawahlen keinen Einfluss auf die Neuformierung der Linken haben würden und dass Mélenchon seine Führung in den Umfragen wiedererlangen werde, je näher das Jahr 2027 und die nächsten Präsidentschaftswahlen rückten.
Für die Französinnen und Franzosen sind die Wahlen zum Europaparlament die erste nationale Wahl seit 2022, seit der Wiederwahl Macrons, und die letzte vor 2027. Es ist daher nicht überraschend, dass der Europawahlkampf im Nachbarland, anders als in Deutschland, bereits seit Macrons Regierungsumbildung Mitte Januar an Fahrt aufgenommen hatte. Nicht wenige Parteien, darunter die linkspopulistische LFI, erklären die Europawahl unermüdlich zum nationalen Referendum. Und haben damit nicht einmal Unrecht.
Der sich zuspitzende Wettlauf der Mitte macht in Paris allerdings fast vergessen, dass das wahre Drama anderswo spielt: der uneinholbare Abstand beider Mitte-Parteien zur rechtsextremen Partei Rassemblement National (RN). Die von dem 28-jährigen Spitzenkandidaten Jordan Bardella angeführte Liste könnte laut YouGov an die 33 Prozent einfahren. 30 Prozent zumindest gelten für den RN als sicher.
Floppt Macrons Last-Minute-Strategie, droht ihm auch parteiintern Gegenwind.
Damit wächst der Druck auf die eher unbekannte Valérie Hayer ins Unermessliche. „Macrons Autoritätskapital, über das [er] in der Folgezeit noch verfügen kann, hängt vom Wahlergebnis ab“, sagt Jérôme Fourquet vom französischen Meinungsforschungsinstitut IFOP. Schneidet Hayer besser ab als angenommen, kann Macron hoffen, noch eine Weile Herr der Lage zu bleiben. Vor allem in der eigenen Partei. Wird Hayer jedoch von Glucksmann ein- oder sogar überholt, „wird jeder verstehen, dass es mit Macron vorbei ist,“ so Fourquet. Qua Verfassung darf Macron 2027 nach zwei Amtszeiten ohnehin nicht mehr kandidieren.
Den Außenseiter Glucksmann, so viel ist klar, hatte in Macrons Wahlkampfteam niemand auf dem Schirm. Nun macht sich, angesichts des drohenden Fiaskos am 9. Juni, Panik breit. Der Präsident stürzt sich in den Wahlkampf. Spricht in einer Neuauflage seiner großen Sorbonne-Europa-Reden von der gemeinsamen Verteidigung, der Stärkung der EU gegenüber China oder den USA und über die Ukraine. Er gibt Interviews und zeigt sich. Doch die Zustimmungswerte sinken. Die französischen Wählerinnen und Wähler sorgen sich laut Umfragen eher um die Migration nach Europa (42 Prozent), den Klimawandel (36 Prozent), und die Zukunft der Landwirtschaft (35 Prozent).
Macron, der seine Spitzenkandidatin Valérie Hayer aufgegeben zu haben scheint, schickt nun seinen jungen Premier ins Rennen. Das heiß diskutierte Fernsehduell zwischen Renaissance und RN soll nun wenige Tage vor den Wahlen, am 23. Mai, Gabriel Attal gegen Jordan Bardella bestreiten. Marine Le Pen stichelt unterdessen genüsslich, dass das Macron-Lager seit Beginn der Kampagne „darum kämpft, aus diesen Wahlen kein Referendum für oder gegen Emmanuel Macron“ zu machen.
Floppt Macrons Last-Minute-Strategie, droht ihm auch parteiintern Gegenwind. Die Anhänger des linken Flügels, die sich um den Vorsitzenden des Gesetzesausschusses in der Nationalversammlung, Sacha Houlié, versammeln, werden die Schlappe als Strafe für Macrons Rechtsruck deuten. Der Präsident hatte im Januar mit der Kabinettsumbildung und der Ernennung des jungen Gabriel Attal zum neuen Premier einen rechtspopulistischen Weg eingeschlagen. Mit einem Ergebnis um die 15 Prozent erhielte der linke Flügel Argumente, um sich einer möglichen künftigen Koalition mit den rechtslastigen Republikanern zu widersetzen.
Stufe um Stufe erklimmt Marine Le Pen den Elysée-Palast.
Genau mit diesen aber liebäugelt Macron, um 2027 alle Kräfte für den letzten Wahlkampf zu versammeln. Den Zweikampf „Progressive gegen Nationalisten“, zwischen Renaissance und ihren Verbündeten gegen die Partei Marine Le Pens. Glaubt man den Unkenrufen, könnte der aber schon in der Nacht zum 10. Juni entschieden werden.
Feiern die Rechtsextremen in der Wahlnacht ein doppelt so gutes Ergebnis wie Macron, ist die Erzählung des unaufhaltsamen Aufstiegs der Marine Le Pen besiegelt. Stufe um Stufe erklimmt sie den Elysée-Palast. Ihre Partei ist schon jetzt aus dem politischen Alltag Frankreichs nicht mehr wegzudiskutieren. Mit 30 Prozent Zustimmung würde Rassemblement National quasi „banalisiert“ und zur Mehrheitspartei werden – mit weitreichenden Konsequenzen für die Handlungsfähigkeit des französischen Parlaments.
Europawahlen, die in Frankreich zuletzt nur 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen lockten, folgen eigenen Dynamiken. Wie wenig ein Europawahl-Erfolg mit nationaler Wertschätzung zu tun haben kann, dass könnten euphorisierte Sozialisten schon mal bei Frankreichs Grünen erfragen. Im Jahr 2009 hatte deren Liste Europe Ecologie-Les Verts mit über 16 Prozent einen historischen Durchbruch geschafft und sich überraschend als drittstärkste politische Gruppierung des Landes durchgesetzt. Drei Jahre später erreichte ihre Kandidatin Eva Joly bei den Präsidentschaftswahlen 2012 kaum mehr zwei Prozent. Dass diese Gefahr auch dem rechtsextremen Lager droht, davon geht gegenwärtig jedoch niemand aus – hier sind die Zustimmungswerte stabil.
Die Europawahlen jedenfalls wühlen Frankreich auf und werfen ein grelles Licht auf dessen politische Landschaft. Die durchleidet seit 2017 einen fundamentalen Wandel: Die nahezu vollständige Implosion der Volksparteien bei zeitgleicher Erstarkung der extremen Ränder. Frankreich, soviel ist jetzt klar, ist alles andere als raus aus der Phase tiefer Instabilität.