Die französischen Präsidentschaftswahlen sind und bleiben eines der großen politischen Spektakel Europas. Das Interesse an diesem besonderen Ereignis lebt von jeher – von Charles de Gaulle bis Emmanuel Macron – von der Qualität der Hauptakteure, aber auch von der Schlüsselrolle, die Frankreich in den internationalen Beziehungen nach wie vor einnimmt. Der mit individuellen lyrischen Tiraden und zahlreichen Drehungen und Wendungen gespickte Plot, in dem auch neue Figuren wie Eric Zemmour oder Christine Taubira auftreten, verstellt jedoch tendenziell den Blick auf die eigentlich spielbestimmenden Dynamiken. Die französischen Wahlen sind nämlich einerseits Teil einer außergewöhnlichen nationalen Geschichte und stehen andererseits in einem europäischen Kontext, der ihre spezifischen Eigenheiten relativiert.

Eine bleibende Eigenheit sind die Besonderheiten der progressiven Organisationen, deren Krise seit mehreren Monaten die Schlagzeilen beherrscht. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es in Frankreich erst seit den 1970er Jahren eine sozialistische Partei von Bedeutung. Zuvor waren die Kommunisten die linke Massenpartei. Die Parti socialiste (PS) wurde dank der Strategie ihres damaligen Vorsitzenden François Mitterrand, mit der Parti Communiste Français ein Bündnis zu bilden, bei der französischen Linken mehrheitsfähig. Sie blieb aber am Rand des europäischen Modells von Sozialdemokratie. Das heißt nicht, dass sich das Projekt Mitterand durch besondere Radikalität ausgezeichnet hätte. Aber anders als in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien bewahrte die Führungsspitze weitgehend ihre Autonomie gegenüber den Gewerkschaften und auch dem, was heute als „Sozial- und Solidarwirtschaft“ bezeichnet wird – also Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und anderen Vereinigungen.

Heute ist Frankreichs sozialistische Partei – im Kern nunmehr lediglich ein Netzwerk von Kommunalpolitikern – angeschlagen. Sie läuft Gefahr, an den Wahlurnen und finanziell auszubluten, weil der Staat die Wahlkampfkosten von Kandidatinnen und Kandidaten, die weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten, nur teilweise erstattet.

Das Aus einer sozialistischen Partei wäre in Europa nichts Neues. Ähnliches hat man schon in Griechenland und Italien erlebt. Zudem beschränkt sich die Krise der traditionellen politischen Organisationen nicht auf die gemeinhin als „links“ definierten Parteien. In vielen Ländern betrifft sie auch konservative, liberale, nationalistische und sogar christdemokratische Kräfte, die bislang als „rechts“ eingestuft wurden und sich jetzt neu zu definieren suchen.

Heute ist Frankreichs sozialistische Partei – im Kern nunmehr lediglich ein Netzwerk von Kommunalpolitikern – angeschlagen.

In Frankreich zeigt sich diese Krise auf zweierlei Weise. Erstens: in der Schwächung der alten Präsidentenparteien, also der Sozialisten und der Neo-Gaullisten. Hinzu kommt, dass ihre Kandidatinnen und Kandidaten es schwer haben, sich zu behaupten. Zweitens: Insbesondere die Kandidatinnen und Kandidaten der Sozialisten, Grünen und Republikaner haben wenig für den Mechanismus der Vorwahlen übrig, durch den der politische Auswahlprozess eine stärkere Rationalisierung erfahren soll. Die vor einigen Jahren eingeführten Vorwahlen tragen vor allem der Schwierigkeit Rechnung, Geschlossenheit herbeizuführen, ob innerhalb einer politischen „Familie“ oder einer Partei.

Im Dezember nominierten die Republikaner in einer Vorwahl die erfahrene Politikerin und amtierende Ratspräsidentin der Region Île-de-France, Valérie Pécresse, als Präsidentschaftskandidatin. Unter den Linksparteien wurde die Idee einer gemeinsamen Vorwahl diskutiert, durch die man sich auf eine gemeinsame Kandidatur einigt, um zu verhindern, dass die Stichwahl nicht wieder wie 2017 von Macron und einem rechtsextremen Gegner ausgetragen wird. Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris und Kandidatin der PS, die in Meinungsumfragen derzeit sehr schwach abschneidet, unterstützte dies. Hidalgos weiter links stehende Konkurrenten Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise) und Yannick Jadot (Die Grünen), die beide zwar bescheidene, aber immer noch höhere Umfragewerte erzielen, lehnten die Idee einer gemeinsamen Vorwahl jedoch ab.

In einer historischen Initiative haben sich nun über 460 000 Menschen – darunter auch Prominente wie Juliette Binoche – zu einer inoffiziellen Abstimmung, einer „Primaire populaire“ zusammengefunden, bei der vom 27. bis 30. Januar die Kandidatur ausgewählt werden soll, die sich am stärksten für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Demokratie einsetzt. Hidalogo, Mélenchon und Jadot lehnen die Initiative jedoch ab und betonten, sich durch ihren Ausgang in keiner Weise gebunden zu fühlen.

Generell ist in Europa ein Prozess der kreativen Zerstörung zu beobachten, der die alten Parteien infrage stellt und neue Strukturen und Bewegungen hervorbringt. Gleichzeitig wenden sich viele Bürgerinnen und Bürger vom Wahlgeschehen ab, ziehen sich zurück und beschränken sich darauf, ihre Empörung zu bekunden oder sich in lokalen sozioökonomischen Initiativen zu engagieren. Das Ausmaß dieser kreativen Zerstörung variiert. In Frankreich entstehen seit den „Nuits debout“ 2016 – den nächtlichen Demonstrationen gegen einen Gesetzesentwurf zur „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts – solche Empörungsbewegungen immer wieder neu und nehmen ganz unterschiedliche Formen an. Zu ihnen gehören die „Gelbwesten“ ebenso wie die Demonstrationen gegen die Liberalisierung des Rechts auf Eheschließung. Und wie im übrigen Europa gibt es auch in Frankreich militante Impfgegnerbewegungen, die noch von keiner parlamentarischen Gruppierung kanalisiert werden konnten.

Die spektakulärste Neuausrichtung der nationalen politischen Organisationen zeigt sich seit 2017 in der Bewegung „La république en marche“ (LRM). Emmanuel Macron hat keine Anstrengungen unternommen, die LRM in eine traditionelle politische Partei umzuwandeln. Damit ging er das Risiko ein, dass seine parlamentarische Mehrheit keinen stabilen Rahmen bekommt und sich eine inhaltlich verwandte Konkurrenzorganisation formiert. So kam es zur Entstehung der neuen Partei „Horizons“ mit Macrons ehemaligem Premierminister Edouard Philippe als Vorsitzendem. Die LRM ist aber nicht die einzige Bewegung, deren Entstehung die politische Landschaft Frankreichs durcheinandergewirbelt hat.

Auf der Linken gründete François Mitterrands früherer Minister Jean-Luc Mélenchon nach seinem Versuch, die nationale Debatte zwischen ihm selbst und Marine Le Pen zu polarisieren, die Partei „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich). In ihr finden sich von der traditionellen Sozialdemokratie enttäuschte Wählerinnen und Wähler ebenso wieder wie radikale Linke. Nachdem „La France insoumise“ 2017 überraschend auf fast 20 Prozent der Stimmen kam, konnte sie diesen Erfolg bei den folgenden Wahlen nicht wiederholen. Im April 2022 könnte sie zwar das beste Wahlergebnis aller linken Organisationen erzielen, dürfte aber laut Umfragen nicht über 15 Prozent erreichen, die sie bräuchte, um in die zweite Runde zu kommen.

Gleichzeitig wenden sich viele Bürgerinnen und Bürger vom Wahlgeschehen ab, ziehen sich zurück und beschränken sich darauf, ihre Empörung zu bekunden.

Auf der Rechten beschränkte sich im 21. Jahrhundert die Neuausrichtung der beiden wichtigsten Parteien – in den 1970er Jahren von Jacques Chirac (Rassemblement pour la République) beziehungsweise Jean-Marie Le Pen (Front National) gegründet – lange Zeit auf Namensänderungen. Mit der Umbenennung des „Front National“ in „Rassemblement National“ brachte Marine Le Pen ihren Willen zum Ausdruck, die Strategie ihres Vaters fortzusetzen und die parlamentarische Vertretung der extremen Rechten zu verbreitern.

Die Ergebnisse der kommenden Wahlen werden zeigen, inwieweit Eric Zemmours Bewegung „Renaissance“ die Wettbewerbssituation der etablierten Parteien auf der französischen Rechten umwälzen wird. Zemmour ist Meinungsmacher bei CNews – ein mit Fox News in den USA vergleichbarer Sender. Er wurde kürzlich wegen Volksverhetzung verurteilt, weil er unbegleitete ausländische Minderjährige in Frankreich als „Diebe“, „Mörder“ und „Vergewaltiger“ bezeichnet hatte.

Das aktuelle politische Gefüge in Frankreich ist also ziemlich unübersichtlich. Die entscheidende Frage wird jedoch sein: Wie viele Bürgerinnen und Bürger werden am 10. April 2022 überhaupt zur Wahl gehen?

Aus dem Französischen von Christine Hardung

Dieser Artikel erschien zuerst bei Social Europe.