In Wien war das Ergebnis natürlich erwartet worden und richtig geschockt war am Ende niemand mehr. Dafür braucht es die internationalen Schlagzeilen, welche die historische und politische Dimension des eindeutigen Wahlsiegs der FPÖ am Sonntag als das bezeichnen, was es ist: eine Zäsur (Neue Zürcher Zeitung) und ein „Rechts-Knall“ (Bild).
29 Prozent, die FPÖ wurde bei der österreichischen Nationalratswahl so stark wie noch nie. Ihr Parteichef Herbert Kickl, alles andere als ein Volkstribun und Charismatiker, toppte damit das bislang beste Ergebnis Jörg Haiders aus dem Jahr 1999 mit knapp 27 Prozent. Haider gilt als Role Model aller gegenwärtigen Rechtspopulisten in Europa. Kickl hingegen begann seine Karriere als Redenschreiber und galt bis dato eher als Stratege im Hintergrund denn als Front Runner.
Diesen klaren Sieg kann Kickl jedoch niemand nehmen. Egal, ob er ihn in eine Regierung führt oder in die Opposition: Das Momentum liegt bei ihm. „Unsere Hand ist ausgestreckt“, flötete er am Wahlabend, „an jede Partei“. Eins ist klar: Die Nationalratswahl 2024 ist voller historischer Superlative – im positiven wie negativen Sinne – und markiert die Zeitenwende in die Dritte Republik.
Wie groß wäre der Erfolg erst gewesen, wenn die FPÖ einen Charmeur als Spitzenkandidat gehabt hätte? Das ist auch schon die erste Lehre aus dem österreichischen „Rechts-Knall“: Das autoritäre, tendenziell undemokratische Anti-Eliten-Protestprojekt FPÖ nährt sich mittlerweile aus sich heraus, sie ist nicht mehr so stark abhängig von einer Führerpersönlichkeit. Sie ist endgültig zur eigentlichen „Volkspartei“ Österreichs geworden, mit solider Stammwählerschaft quer durch alle Milieus und Geschlechter. Nur im urbanen Umfeld schwächelt sie.
SPÖ-Chef Andreas Babler wollte seine Partei mit herzhaftem Linkspopulismus beleben.
Den ersten Platz im Jahr 1999, als Jörg Haider die FPÖ so richtig groß machte, errang noch die SPÖ. Nur ein Vierteljahrhundert später sind die Machtverhältnisse umgekehrt. Die Sozialdemokratie ist nur mehr Dritte und mit knapp 21 Prozent am historischen Tiefpunkt. SPÖ-ChefAndreas Babler wollte seine Partei mit herzhaftem Linkspopulismus beleben, gelungen ist es ihm nicht. Er kam gerade noch über die psychologisch wichtige 20-Prozent-Marke. Der Austro-Sozialismus reüssierte immer dann, wenn er mittiger und gemäßigter auftrat als andere sozialdemokratische Parteien in Europa. Bablers Links-Kurs blieb unbedankt.
Paradoxerweise konnte das Arbeiterkind Babler mit seinem an Didier Eribon angelehnten und stark von autobiografischen Anekdoten aufgeladenen Duktus vom „Stolz“, den er der Arbeiterschaft zurückgeben will, bei seiner Zielgruppe, der Arbeiterschaft, nicht punkten. Direkt von der FPÖ holte die SPÖ so gut wie keine Stimmen (lediglich 29 000 ihrer 1,03 Millionen Wählerinnen und Wähler). Gewonnen hat sie vor allem in urbanen Bezirken, in denen die „Bobos“ leben, die gebildete, weltoffene, linke Bourgeois-Boheme, die gerne Grün wählt, aber diesmal taktisch zur SPÖ wechselte.
Die mächtige Wiener SPÖ-Landespartei hat schon im Vorfeld der Wahlen durchblicken lassen, dass sie das Experiment Babler lieber früher als später beenden würde. Ganz so einfach wird das jedoch nicht. Babler hat eine Statutenänderung durchgebracht, die eine Direktwahl des Parteivorsitzenden durch die Basis vorsieht. Wer ihn gegen seinen Willen abmontieren will, muss zuerst eine Art Volksbegehren innerhalb der SPÖ organisieren. Wenn zehn Prozent aller Parteimitglieder dafür unterschreiben, kann der Parteivorstand einen Gegenkandidaten nominieren. Antreten kann dann auch jede oder jeder, der 1 500 Unterschriften für sich sammelt. Dann wird abgestimmt, bekommt keiner eine Mehrheit, gibt es eine Stichwahl.
Fazit: Eine Sozialdemokratie, die sich in Flügelkämpfen verstrickt und nicht jemanden aus der Mitte, sondern vom Rand aufs Schild hebt, schafft es nicht, sich als starke Alternative zum Rechtspopulismus aufzustellen. Das Framing Bablers durch seine Gegner als „extrem“, nämlich „linksextrem“, schlug durch. Vielleicht wäre ein moderater Spitzenkandidat doch die bessere Wahl gewesen. Vom Glauben, den Rechtspopulisten direkt Wählerinnen und Wähler abspenstig machen zu können, muss man sich zumindest in Österreich besser verabschieden.
Vielleicht wäre ein moderater Spitzenkandidat doch die bessere Wahl gewesen.
Das musste auch die ÖVP spüren, die am vergangenen Sonntag ihren historisch größten Verlust erlebte. Gerade einmal 19 000 Wählerinnen und Wähler wechselten von der FPÖ direkt zur ÖVP, und das, obwohl ihr Parteichef Karl Nehammer voll auf den Kanzlerbonus setzte und gleichzeitig „blaue Parolen“ zu den dominanten Themen Sicherheit und Migration kopierte, wenn auch in etwas verdaulicherem Ton.
Autosuggestion bis zum Schluss half am Ende dann eben doch nicht. Noch bei der ÖVP-Wahlkampf-Abschlussveranstaltung am Freitag war von einem „Fotofinish“ nach einer „Aufholjagd“ die Rede. Aber das auch von Umfragen befeuerte Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ÖVP und FPÖ gab es wohl nie. Mit 26 Prozent landete die ÖVP eindeutig abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Satte elf Prozent weniger als noch 2019 und der Absturz von Platz 1. Dass Karl Nehammer den Sebastian-Kurz-Boost nicht kriegen würde, war immer klar. Anders als in der SPÖ ist die Loyalität in der Partei zu ihm derzeit jedoch noch ungebrochen.
Und jetzt? Kickl ist der Sieger – aber gleichzeitig auch wieder nicht, da niemand mit ihm koalieren will. Nicht einmal die ÖVP, die zwar keine Koalition mit seiner Partei, aber mit ihm als Person im Vorfeld dezidiert ausgeschlossen hat. Er habe sich während der Pandemie „radikalisiert“ und sei ein Sicherheitsrisiko für die Demokratie. Es gibt also ein „Brandmäuerchen“ in Österreich, das die Form einer Dreierkoalition aus ÖVP, SPÖ und den liberalen Neos annehmen könnte. ÖVP und SPÖ könnten sich – Stand Montagabend – zwar auch mit einer „arschknappen“ Mehrheit von 93 der 183 Mandaten im Parlament zusammenraufen und eine Art MiGroKo (Mittelgroße Koalition) gegen den selbsternannten VoKaKi (Volkskanzler Kickl) schmieden. Wahrscheinlicher scheint, dass sich ÖVP und SPÖ dazu die Unterstützung der gestärkten Neos (neun Prozent) nehmen – und nicht die der abgestraften Grünen (acht Prozent), mit denen die ÖVP bis dato in einer unbefriedigenden kleinen Koalition regiert hat.
Willkommen in der Welt der Dreierkoalition, Österreich! Kanzler Nehammer müsste sich dann aber schon eine scharfe Reformagenda zulegen, um nicht als Kanzler einer Koalition der Verlierer dazustehen. Viele Visionen, viel Gestaltungswille hat er bis jetzt nicht gezeigt.
Nicht auszuschließen ist, dass die ÖVP am Ende nicht doch ihr „Mit-Kickl-sicher-nicht“-Dogma über Bord wirft und zu dem Schluss kommt, dass man mit dem „Sicherheitsrisiko“ Kickl als Juniorpartner könnte, sofern ihr die FPÖ zum Beispiel die machtpolitisch essentiellen Ressorts Finanz, Innen und Justiz überlässt. Aus der österreichischen Industrie war bereits vor der Wahl eine deutliche Empfehlung für ein blau-schwarzes wirtschaftsliberales Projekt zu hören gewesen. Der Präsident der Industriellenvereinigung Georg Knill hält die SPÖ unter Babler für „standortschädlich“.
Somit ist der Wahlkampf geschlagen, die Machtkämpfe beginnen aber erst. Das mit der Dritten Republik mag übertrieben klingen. Aber wenn man als Fundament der Zweiten Republik Österreich die Große Koalition, die Konkordanzdemokratie, den Interessenausgleich zwischen den beiden einstigen Großparteien SPÖ und ÖVP annimmt, dann ist all das spätestens mit dieser Nationalratswahl zerbröselt.