Der Tod von Alexej Nawalny im Strafgefangenlager IK-3, im Permafrostgebiet hinter dem Polarkreis ist ein dramatisches, finsteres Ereignis. Kaum überraschend, und dennoch kaum zu glauben. Wenige Tage vor dem ukrainischen Rückzug aus Awdijiwka und kurz vor dem Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow liest sich die Meldung über Nawalnys Ableben wie ein schlechter Scherz.
Der Tod von Alexej Nawalny ist die dritte Erschütterung des spätputinschen Systems in kurzer Zeit. Fast zwei Jahre nach dem Überfall auf die Ukraine und acht Monate nach der Wagner-Revolte wird in diesen Tagen ein abermaliger Beweis dafür erbracht, wie sehr das öffentliche Geschehen in Russland durch plötzliche, schockierende, klandestin zustande kommende Ereignisse dominiert wird. Gewalt scheint der letzte verbleibende Modus der Politik zu sein. Der russischen Gesellschaft bleibt nichts anderes übrig, als Putin, Prigoschin und Nawalny bei ihren Triumphen wie Tragödien zuzuschauen.
Seit einem Vierteljahrhundert arbeitet der Kreml daran, tatsächliche Mechanismen der Macht hinter einer dichten Nebelwand von Inszenierungen und Manipulationen zu verbergen, zuvorderst vor den eigenen Bürgerinnen und Bürgern. Politik ist Theater in Russland. Eine erprobte Strategie, die Zynismus nährt und Apathie fördert. Allerdings sind die besagten, sich häufenden Erschütterungen zu wuchtig, um ihre Auswirkungen durch Zensur und Propaganda sauber unter Kontrolle halten zu können. Jedes Mal offenbart sich nolens volens eine bis dato unterschätzte Schwäche des Systems.
So glaubte man lange an den kollektiven Charakter der Entscheidungsfindung in der russischen Führung. Eine populäre These lautete, Putin wäre vor allem deswegen so langlebig und unangefochten akzeptiert, weil er gekonnt als Schiedsrichter zwischen unterschiedlichen Gruppierungen in der Elite manövrieren und vermitteln konnte. Nach dem 24. Februar 2022 haben Russland und die Welt jedoch gelernt, dass richtungsweisende Entscheidungen in einem sehr viel engeren Kreis als gemeinhin angenommen getroffen werden, womöglich gar in Gänze selbstherrlich. Ein System, das von einem Mann derartig dominiert wird, ist fatal eng an seinen Lebenszyklus gebunden.
Gewalt scheint der letzte verbleibende Modus der Politik zu sein.
Auch der Aufstand der Wagneristen rüttelte an einem alten russischen Machtaxiom: Russland ist ein starker Staat, weil sein Gewaltmonopol so kostenintensiv und exzessiv organisiert ist. Über ein Dutzend zuständiger Dienste, Behörden und zuarbeitende private Sicherheitsfirmen, mehrere Millionen Männer unter Waffen, stetig steigende Sicherheitsetats – und trotzdem stellt sich nicht ein einziger Uniformierter aus freien Stücken und genuinem Pflichtbewusstsein der Prigoschin-Kolonne in den Weg, solange aus Moskau keine unmissverständlichen Anweisungen kommen. Dauerte es womöglich so lange, eben weil der Kreis der finalen Entscheider so klein geworden ist? Und sind nicht auch Angehörige der Polizei und Armee alles andere als immun gegen den lähmenden Einfluss der allgegenwärtigen Politikinszenierung?
Der Tod von Alexej Nawalny entgleitet aber der Deutungshoheit des Kremls. Von weiten Teilen der russischen Gesellschaft wird er als Mord verstanden, nicht verwunderlich angesichts des unwürdigen Versteckspiels um seinen Leichnam und der eindeutigen Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs durch die kontinuierlich verschärften Haftbedingungen. Auch ein tatsächlicher, wiederholter Anschlag auf sein Leben ist denkbar, gleichwohl man die Wahrheit vermutlich nie erfahren wird. Dies ist jedoch nicht mehr wichtig, genauso wenig wie die Frage, ob Prigoschins Flugzeug wirklich ganz von allein vom Himmel gefallen ist. Die Leute glauben das unwiderlegbar Intuitive. In einem System der inszenierten, unechten Politik ist nur noch wichtig, was die Leute glauben. Und für die allermeisten lief es folgendermaßen ab: Wladimir Putin, der Alleinherrscher Russlands, hat seinen wichtigsten Widersacher Nawalny erst so weit weg wie nur möglich versteckt und dann hinrichten lassen. Wirkt das als Zeichen der Stärke und Souveränität, vor allem in den Augen der herrschenden politischen Elite?
Die Antwort lautet: Ja. Der Tod von Alexej Nawalny ist eine tiefe Entmutigung für russische Dissidentinnen und Dissidenten, die im Exil wie in Russland selbst an seiner Person Halt und Orientierung gefunden haben. Nawalny hatte wie kein anderer erspürt, wie viel Dynamik und Protestpotential in der nur vermeintlich apathischen russischen Gesellschaft stecken. Er hat eine erfolgreiche Allianzbildung der zersplitterten Opposition praktiziert, öffentliche Politik durch Straßenwahlkampf und Debattenformate wiederbelebt, Massendemonstrationen mitinspiriert und immer wieder Innovationen erfunden, die junge, nicht-zynische Unterstützer angesprochen haben – mal auf YouTube, mal durch ein Netzwerk aktivistischer Stäbe.
Der Tod von Alexej Nawalny ist eine tiefe Entmutigung für russische Dissidentinnen und Dissidenten.
Er hat sich nicht dazu verleiten lassen, ein hauptstädtischer, Moskauer Politiker zu werden, sondern stets Kontakte in unterschiedlichste Teile des Landes mit viel Zeit- und Krafteinsatz gepflegt. Am wichtigsten, er hat dem Fatalismus der Enttäuschten und der Älteren immer wieder funktionierende Strategien entgegengesetzt, sich fast zum Bürgermeister von Moskau wählen lassen und damit anschaulich gezeigt, warum Handeln nicht sinnlos ist. Kurzum – er hat einer ganzen Generation seiner Landsleute genau das aufgezeigt, was der Kreml zu verstecken versuchte, nämlich wie eine zukunftsorientierte, republikanische, hoffnungsfähige, dialogbereite Politik aussehen könnte.
Nawalny hat auch Lernfähigkeit hinsichtlich seiner frühen, nationalistischen Geschmacklosigkeiten gezeigt, während einer Inhaftierung von kirgisischen Mitinsassen ein paar Brocken ihrer Landessprache gelernt und sich zuletzt für Rechte von diskriminierten muslimischen Strafgefangenen eingesetzt. Sein Wirken und sein Leben sind fortan eine öffentlich zugängliche didaktische Ansammlung von konkreten Beispielen dafür, dass Russland keinem unausweichlichen, kulturellen Fluch von Autokratieanfälligkeit unterworfen ist und keine demokratieunfähige Untertanengesellschaft bleiben muss.
Der Kreml hat diese Fähigkeiten und Strategien erkannt – und diese als Gefahren richtig eingeschätzt. Die Organisation von Nawalny ist brutal zerschlagen worden. Weitere Ermittlungen und Verfahren gegen ihre Angehörige sind zu erwarten. Der Tod von Alexej Nawalny ist in dieser Hinsicht ein folgerichtiger Höhepunkt der Repression, eine finale Absage an Duldung von potenziell wirkmächtigen Alternativen.
In einem Monat ereignet sich die planmäßige plebiszitäre Amtsbestätigung Putins als Präsident der Russländischen Föderation. Laut der durch ihn selbst modifizierten Verfassung wird er noch bis 2036 Zeit haben, um alles zu verwirklichen, was er noch vorhaben könnte. Seine öffentlichen, mit Elan vorgetragenen, historisierenden Ausführungen sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass selbst ein Ende des russisch-ukrainischen Krieges mitnichten auch die Befriedigung der geopolitischen Neuordnungsambitionen Putins bedeuten muss.
Die Organisation von Nawalny ist brutal zerschlagen worden.
Womit er sich offensichtlich nicht mehr viel beschäftigen wollte, ist die Feinsteuerung des innenpolitischen Machtapparats: Die Wahlkampagne wird recht behäbig von seiner Präsidialadministration geführt, der Wahlzettel ist so kurz wie noch nie und selbst das Experimentieren mit einem quasi-alternativen Kandidaten wie Boris Nadeschdin wurde schnell wieder ad acta gelegt.
Und jetzt das: Ein Schattenspiel von Gerüchten und Mutmaßungen, die nicht mehr aufzuklären und einzufangen sind, ein neuer Zweifel an der Qualität der Entscheidungen von ganz oben (in der UdSSR hätte man Vorkehrungen getroffen, um so einen VIP-Häftling nicht „aus Versehen“ zu verlieren), ein Märtyrer kurz vor dem Wahltermin. Zudem eine energische, authentische Statthalterin des politischen Vermächtnisses Nawalnys jenseits des Zugriffs der russischen Geheimdienste. Der fulminante, ideal inszenierte Auftritt Julia Nawalnajas wird in die Geschichte politischer Manifeste eingehen: Sie schafft es, nicht nur die Trauer und den Schock ihres millionenfachen Publikums auf- und anzunehmen. Sie scheut auch nicht davor zurück, an Wut, Zorn und sogar Hass zu appellieren, die so viele der Anhängerinnen und Anhänger Nawalnys derzeit empfinden. Therapeutisch gesprochen ist das ein unerlässlicher Schritt auf dem Weg aus der Hoffnungslosigkeit zu neuem Mut. Niemand aus der russischen Opposition hatte bisher die Glaubwürdigkeit, die Kommunikationsfähigkeit, das Team, die Ressourcen und das richtige Timing für ein derartiges Konsolidierungsangebot.
Der linke Soziologe und Philosoph Grigori Judin zitiert in seinem Nachruf auf Nawalny Theodor Adorno (der wiederum Christian Grabbe zitiert) mit dem Ausspruch: „Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Man müsse Illusionen abschütteln, die tiefste Stufe der Mutlosigkeit und Verzweiflung erreichen, bevor man wieder zu Handlungsfähigkeit finden kann, bevor man sich nicht mehr aufhalten lässt durch Selbstberuhigungen – „wie alt kann Putin schon noch werden“, „der Krieg ist eh bald vorbei“, „was kann ich als Einzelner ausrichten“.
Nawalny pflegte über seine Frau zu sagen: „Sie ist viel härter als ich“. Die Härte kann sie gut gebrauchen. Sie steht zwar nicht auf dem Wahlzettel, aber plötzlich ist sie so etwas wie eine Präsidentschaftskandidatin des alternativen Russlands. Drei Tage nach dem Tod ihres Mannes. Als hätte sie in der Zeit Adorno gelesen.