Der Westbalkan ist gemeinhin für seine turbulente Vergangenheit und politische Instabilität bekannt. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Region jedoch im Stillen einen Namen in der Technologiebranche gemacht: Der sich entwickelnde IT-Sektor will verstärkt die Aufmerksamkeit sowohl von Investoren als auch von globalen Tech-Unternehmen auf sich ziehen. Ein Boom in der Technologiebranche der Region verspricht eine aufregende Zukunft für die Staaten auf dem Westbalkan, wo gut bezahlte und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze in der Vergangenheit Mangelware waren. Eine solche Entwicklung könnte genau das sein, was die Region braucht, um zu den EU-Mitgliedstaaten aus der Region aufzuschließen – bis am Ende die vollständige EU-Integration für alle erreicht wäre.
Die Hoffnung ruht auf jungen und talentierten Menschen, die ihre Fähigkeiten und Ressourcen einsetzen wollen, um innovative Lösungen zu schaffen, welche die Tech-Industrie der Region potenziell verändern könnten. In den sechs Nicht-EU-Ländern auf dem Westbalkan – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – kommen jedes Jahr etwa zehn Prozent aller Hochschulabsolventen aus dem Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologien. Diese Zahl dürfte weiter steigen, da Jobs in der IT-Branche immer beliebter werden.
EU-Mitgliedstaaten aus der erweiterten Balkanregion wie Rumänien und Bulgarien sowie der Westbalkanstaat Kroatien sind in dieser Hinsicht Vorreiter in der Tech-Industrie, denen der Rest des Westbalkans folgen will – gerade weil mehrere der dort ansässigen Unternehmen in den vergangenen Jahren zu „Einhörnern“ geworden sind. „Einhörner“ sind Firmen, die eine Unternehmensbewertung von mindestens einer Milliarde US-Dollar erreichen. Dieser Status gilt als ein bedeutender Meilenstein für Start-ups. Die Erfolge von Unternehmen wie UiPath aus Rumänien, Payhawk aus Bulgarien und Infobip aus Kroatien sprechen nicht nur für das Potenzial dieser Unternehmen selbst, sondern sollen auch das Wachstum des IT-Sektors der Region weiter vorantreiben. Neben diesen haben sich mehrere andere internationale Technologieunternehmen auf dem Westbalkan angesiedelt, um auf die Technik-Talente der Region zuzugreifen. Darüber hinaus bauen die Tech-Start-ups der Gegend auf neue Technologien wie Künstliche Intelligenz, Blockchain, FinTech und auch Gaming, und konnten diverse Investitionen an Land ziehen. Das wiederum bedeutet langfristig Arbeitsplätze und Wachstum.
Im Vergleich zu den Ländern der Region, die bereits Teil der EU sind, stehen die Länder, die noch nicht dazugehören, allerdings vor einer großen Herausforderung.
Im Vergleich zu den Ländern der Region, die bereits Teil der EU sind, stehen die Länder, die noch nicht dazugehören, allerdings vor einer großen Herausforderung: dem Mangel an verfügbarem Privatkapital für ihre weitere Geschäftsentwicklung. Die Problematik ist vielschichtig. So konzentriert sich bisher nur eine begrenzte Anzahl von Investoren auf die Westbalkan-Märkte, während andere regionale Geldgeber das Potenzial der Startups in der Region schlichtweg nicht kennen – oder es geflissentlich übersehen. Bis die gesamte Region in die EU integriert ist (was noch Jahrzehnte dauern könnte), dürften sich Initiativen wie Open Balkan als Not- oder Übergangslösung erweisen. Dieses Programm wurde im Oktober 2019 von den Staats- und Regierungschefs Serbiens, Albaniens und Nordmazedoniens mit dem Ziel ins Leben gerufen, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Westbalkanstaaten zu stärken.
Mit der Initiative soll – mittels Abbau von Handelsbarrieren und Ausbau des grenzüberschreitenden Geschäftsverkehrs – die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen regionalen IT-Unternehmen vereinfacht werden. Dies wiederum soll es den Unternehmen ermöglichen, Ressourcen, Wissen und Know-how zu teilen und so innovativere und wettbewerbsfähigere Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Die verstärkte Zusammenarbeit soll auch dazu beitragen, mehr ausländische Investitionen in die IT-Branche der Gesamtregion zu holen, die als ein größerer – sowie stabilerer und berechenbarerer – Markt angesehen wird als die einzelnen Märkte der jeweiligen Länder. Dies könnte dazu beitragen, den Kapitalfluss in die Branche zu erhöhen und mehr Wachstumsmöglichkeiten für Start-ups sowie kleine und mittelgroße Unternehmen zu schaffen. Außerdem soll die Initiative die Mobilität von qualifizierten IT-Fachkräften innerhalb der Region erleichtern und so die Verfügbarkeit von Talenten erhöhen, die Kompetenzentwicklung verbessern und den Austausch von Wissen fördern.
Die Weiterentwicklung der IT-Industrie und ihr potenzieller gemeinsamer Markt auf dem Balkan könnten auch dazu beitragen, die Wirtschaft der Region zu diversifizieren.
Die Weiterentwicklung der IT-Industrie und ihr potenzieller gemeinsamer Markt auf dem Balkan könnten auch dazu beitragen, die Wirtschaft der Region zu diversifizieren, die traditionell auf Branchen wie Landwirtschaft, Tourismus und das verarbeitende Gewerbe ausgerichtet ist. Die Regierungen in der gesamten Westbalkanregion versuchen aktuell, durch steuerliche Anreize mehr heimische und internationale IT-Unternehmen für Investitionen in die eigene Wirtschaft zu gewinnen. Dies dürfte die Investitionen von Risikokapitalgebern und Investoren in vielversprechende Start-ups und Unternehmen ankurbeln, was wiederum zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen und zur Bindung lokaler Talente führt – und damit auch die Zahl der heimischen Fachkräfte verringert, die sich im Ausland bewerben müssen.
Der Balkan mag eine bewegte Vergangenheit haben, aber dank der IT-Branche könnte die Zukunft rosig aussehen. Die talentierten Fachkräfte, die niedrigen Kosten und die unterstützende Regierungspolitik in der Region bieten ein fruchtbares Umfeld für florierende Tech-Start-ups. Wenn sich die Westbalkanstaaten und ihre Volkswirtschaften weiter entwickeln, könnten sie zu den EU-Mitgliedsländern der Region aufschließen und die bestehenden wirtschaftlichen Rückstände aufholen – bis zur vollständigen Integration in die Europäische Union.