Die Europäische Union ist im Inneren wie im Äußeren gefordert. Insbesondere durch den brutalen russischen Angriffskrieg ist das Migrationsgeschehen wieder stärker auf die politische Agenda und auch in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch die EU zeigt Handlungsfähigkeit – unabhängig vom heraufziehenden Europawahlkampf – oder im positiven Sinne: Genau deswegen. Denn es ist gelungen, tragfähige Lösungen zu entwerfen und die Schwebe des vergangenen Jahrzehnts zu überwinden, ohne dabei vor rechten Strömungen zu kapitulieren oder gar Extremisten das Zepter zu übergeben.
Im Vergleich zur Regierungsphase Angela Merkels hat sich das politische Umfeld in Europa massiv verändert. Mehr populistische und konservative bis nationale Regierungen führen heute europäische Mitgliedstaaten. Und trotzdem lag die Gesetzgebung beim Gemeinsamen Europäischen Asylpaket (GEAS) lange Jahre brach. Die Chance hätte viel früher genutzt und das GEAS reformiert werden müssen. Die Rolle Deutschlands und das Agieren der Regierung Merkel verdienen in dieser Hinsicht eine genauere Betrachtung. Denn als EU-Staat mit einer Vielzahl von Binnengrenzen zu anderen Mitgliedstaaten wurde sich viel zu lange bequem zurückgelehnt und EU-Außengrenzstaaten die Verantwortung überlassen. Denn solange die Zahlen der Asylsuchenden mit dem Zielstaat Deutschland im Rahmen blieben, wurden beide Augen zugedrückt. So wurden die betroffenen Länder wie Griechenland oder Italien sehr lange Zeit mit den Ankommenden und den sich daraus ergebenden Problemen alleine gelassen.
Spätestens nach den Jahren 2015/2016 stand erkennbar fest, dass die bisherigen Regelungen und insbesondere die der Dublin-III-Verordnung, welche das Zuständigkeitsregime und unter anderem die Zuständigkeit des Ersteinreiselandes in der EU festschreibt, gescheitert waren. Ein gemeinsames (!) europäisches Asylsystem, das die Verantwortung schutzberechtigten Menschen gegenüber auf nur wenige EU Staaten verteilt, kann nicht funktionieren. Doch erst als die Fluchtmigration auch Staaten wie Deutschland und Frankreich in großem Umfang betraf, wurde plötzlich auch ein allgemeiner Handlungsbedarf erkannt. Dennoch versandeten die Reformbemühungen in der letzten EU-Wahlperiode trotz jahrelanger Verhandlungen aufgrund politischer Blockaden und scheiterten letztlich. Diese Kritik gilt auch in Richtung der EU-Kommission unter Leitung von Ursula von der Leyen, denn auch hier ging viel Zeit ins Land und bis zuletzt war nicht absehbar, ob eine Einigung zustande kommen würde.
Ein Rückschritt in Nationalismus und einzelstaatliche Lösungen erscheinen einerseits angesichts des Voranschreitens der europäischen Einigung sowie unbestreitbarer Vorteile von offenen Binnengrenzen und des Binnenmarkts wenig attraktiv. Zum anderen belegen Ankunftszahlen in Großbritannien und die Verhärtung der dortigen innenpolitischen Debatten die Nachteile des EU-Austritts deutlich. Denn Migration findet statt und ist historisch betrachtet ein Regelfall. Konkret Fach- und Arbeitskräftemigration ist in weiten Teilen gewollt und notwendig. Es kommen jedoch auch immer mehr Menschen auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben in der EU und in der Konsequenz auch in Deutschland an. Wir brauchen auf kurzfristige Problemstellungen langfristige Strategien, denn internationale Krisen – gerade über die europäischen Grenzen hinaus – sind nur bedingt steuerbar und selten vermeidbar. Wir sind mit einer Lage konfrontiert, in der wir nicht kurzfristig Abhilfe schaffen können. Insbesondere Fluchtursachenbekämpfung, die für die Sozialdemokratie ein wichtiger Baustein im Umgang mit Fluchtmigration ist, gelingt nur auf lange Sicht.
Ziel ist die Durchsetzung von Steuerung und Ordnung – ohne dass die Rechte Geflüchteter auf ein faires Asylverfahren darunter leiden.
Um die aktuellen Herausforderungen zu meistern, brauchen wir ein Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen und vor allen Dingen: Eine geschlossene Politik der Humanität und Ordnung in der EU. Ausgehend vom Leitgedanken, dass kein Nationalstaat die aktuellen Probleme alleine lösen kann, gilt: Eine belastbare und tragfähige Lösung gibt es nur gemeinsam mit allen Partnern in der EU. Auch die deutsche Bundesregierung und allen voran Bundesinnenministerin Nancy Faeser haben einen großen Anteil daran, dass wir auf europäischer Ebene im Dezember 2023 eine historische politische Einigung des Rats der Europäischen Union und des Europäische Parlaments erreicht haben mit einem Neustart beim Umgang mit Geflüchteten.
Merkmal jedes politischen Handelns ist der Kompromiss. Zu viele unterschiedliche Interessen prallen aufeinander, insbesondere von Mitgliedstaaten, die Außengrenzen haben und zurecht entlastet werden wollen, und von EU-Staaten ohne Außengrenzen, von denen wiederum mittlerweile die wenigsten ein Interesse daran haben, Geflüchtete aufzunehmen. Doch die Lösung kann kein „weiter so“ sein, kein „entweder oder“ zwischen dem Sperren des Zugangs zum Asyl und der unregistrierten Weiterleitung der Ankommenden quer durch Europa. Ob Geflüchtete ein faires Asylverfahren bekommen, darf nicht davon abhängen, wo sie in der EU ankommen. Natürlich gibt es jetzt bereits EU-weite Mindeststandards für die Durchführung der Asylverfahren, die Zuständigkeit, die Unterbringung und die Versorgung Schutzsuchender. Sie werden bisher jedoch von wenigen Mitgliedstaaten angewendet. Ziel ist die Durchsetzung von Steuerung und Ordnung – ohne dass die Rechte Geflüchteter auf ein faires Asylverfahren darunter leiden. Zugleich sind Zuzugszahlen durch die klare Trennung zwischen Schutz- und Nichtschutzberechtigten zu reduzieren und andere Migrationsmotive auf geordnete Verfahren der Arbeitskräftemigration entlang von Bedarf und Kapazität zu verweisen.
Deutschlands Ziel der Begrenzung der irregulären Migration bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass weniger Menschen in die EU kommen dürfen, um hier Schutz zu suchen. Sie müssen nur besser auf die Mitgliedstaaten verteilt werden – geordnet, strukturiert, bewältigbar. Im Ergebnis überfordert es niemanden in der EU mit ihren insgesamt etwa 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, eine Million Menschen pro Jahr aufzunehmen und menschenwürdig unterzubringen. Es müssen nur alle mitmachen und sich an der Aufnahme Geflüchteter beteiligen. Im Umgang mit der Ukraine ist es Europa gelungen, Einigkeit und Zusammenhalt zu demonstrieren. Mit dem Beschluss der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz 2022 haben die EU-Mitgliedstaaten unter Beweis gestellt, dass es auch anders geht – wenn nur der Wille da ist.
Die GEAS-Reform beinhaltet verschiede Bausteine, um weiterhin der humanitären Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden gerecht zu werden und gleichzeitig irreguläre (Sekundär-)Migration zu begrenzen. Besonders die sich aus der Screening-Verordnung ergebende Verpflichtung, wonach die Identität der Personen, aber auch etwaige Gesundheits- und Sicherheitsrisiken festgestellt und alle Drittstaatsangehörigen rasch dem anzuwendenden Folgeverfahren zugeführt werden müssen sowie der Ausbau von EURODAC zu einer echten Migrationsdatenbank, die verpflichtende Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz in bestimmten Fällen bereits an den europäischen Außengrenzen – insbesondere bei geringer Aussicht auf Erfolg –und die Vereinbarung eines dauerhaften, verbindlichen und auf einem fairen Schlüssel beruhenden Solidaritätsmechanismus sind Instrumente, die auch auf Dauer wieder Recht und Ordnung in die EU-Migrationspolitik bringen können. EU-Mitgliedstaaten, die unter besonderem Migrationsdruck stehen, werden von anderen EU-Mitgliedstaaten entlastet – im Gegenzug wird die irreguläre Weiterwanderung von Menschen durch Asylverfahren bereits an den Außengrenzen eingedämmt.
Mitgliedstaaten, die unter Migrationsdruck stehen, können sich auf die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten verlassen.
Die Kommission beobachtet stetig die Lage und legt für jedes Jahr einen Bericht vor, der die erwarteten Migrationsbewegungen und den sich daraus ergebenden Migrationsdruck für die Mitgliedstaaten erfasst. Mitgliedstaaten, die unter Migrationsdruck stehen, können sich auf die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten verlassen. Dafür wird ein sogenannter Solidaritätspool eingerichtet, aus dem dann Entlastungsmaßnahmen an die begünstigten Mitgliedstaaten erfolgen. Wichtig ist, dass alle Mitgliedstaaten sich hieran beteiligen müssen und zwar anhand eines auf der Bevölkerungsgröße und dem Bruttoinlandsprodukt der Mitgliedstaaten basierenden Referenzschlüssels. Auch wenn dabei die Aufnahme von Geflüchteten nicht verpflichtend ist, sondern der Beitrag zum Beispiel auch finanzieller Art sein kann, ist das ein großer Fortschritt zum Status quo. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in der EU gibt es Kommunen, die gerne Geflüchtete aufnehmen würden. Eine geeignete Maßnahme zu ihrer Unterstützung wäre der finanzielle Ausgleich der Kosten aus dem EU-Haushalt oder auch die Berücksichtigung der geleisteten Aufwendungen bei der Berechnung der an den EU-Haushalt zu zahlenden Mittel der betreffenden Mitgliedstaaten.
Klare Regeln und rechtsstaatliche Standards gelten überall in der EU – ebenso wie die gemeinsamen Mindeststandards für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden. Dies ist auch ein wichtiger Zwischenschritt zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit überall in der EU. Den unhaltbaren Zuständen an den europäischen Außengrenzen und in einigen Mitgliedstaaten ist eine klare Absage erteilt worden. Ein Monitoring soll sicherstellen, dass sich die Mitgliedstaaten unter anderem bei den Verfahren an den Außengrenzen an die geltenden Regeln halten. Dazu richtet jeder Mitgliedstaat einen unabhängigen Mechanismus ein, der die Einhaltung des EU-Rechts und des Völkerrechts, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zum Asylverfahren und den Grundsatz der Nichtzurückweisung überwacht und sicherstellt, dass Verstöße untersucht und geahndet werden.
Hier gibt es allerdings auch eine klare Erwartungshaltung an die Europäische Kommission im Umgang mit Staaten wie Ungarn und anderen, und der Frage, wer welche Rechtsakte wie befolgt. In Zeiten, in denen Staaten wie Russland und Belarus die Instrumentalisierung Geflüchteter als Teil der Kriegsführung benutzen, bekommt die Frage, ob die EU ein Rechtsraum ist, in dem wir Menschenrechte verteidigen, eine neue Bedeutung. Die EU-Kommission wird zukünftig gefordert sein, die Einhaltung des GEAS noch stärker zu prüfen und Verstöße zu sanktionieren.
Mit der vorliegenden Verständigung auf die GEAS-Reform kommen wir einen entscheidenden Schritt weiter. Anstelle eines ineffizienten bis dysfunktionalen Systems, nationaler Abschottung und insbesondere an Teilen der EU-Außengrenzen weiterhin ungeregelten Verhältnissen bringen wir ein neues und gerechteres System an den Start als Grundlage einer neuen, solidarischen Migrationspolitik in der EU. Migration kann gesteuert und geordnet werden und humanitäre Standards für Geflüchtete werden so geschützt.
Der Erfolg der Vereinbarungen hat direkte Rückwirkungen auf die Konzeption Europas als Raum der „offenen (Binnen-)grenzen“. Die verstärkte Ankündigung und Durchführung von Binnengrenzkontrollen muss daher wieder zum absoluten wie zeitweiligen Ausnahmefall werden. Denn selbst Deutschland griff zu diesem drastischen Mittel mit Blick auf Polen, Tschechien oder Österreich. Hierzu müssen die neuen Regelungen nun schnell umgesetzt werden. Die Anwendung europäischen Rechts fußt auf der zentralen Überzeugung, diese Rechtssetzung als „eigenes“ Recht zu begreifen. Damit hängt der Erfolg zwingend von der Disziplin und Solidarität jedes EU-Mitgliedstaats ab. Deutschland wird eine Vorbildfunktion einnehmen müssen und zugleich sehr stark davon profitieren.