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Die britische Regierung droht erneut, aus den Verhandlungen über ihre künftigen Beziehungen zur Europäischen Union auszusteigen. Und nicht nur das: Über anonyme Informationen an gutgläubige Journalisten hat sie zwei eindeutige Drohungen veröffentlicht. So soll ein Gesetz verabschiedet werden, mit dem man sich über das im letzten Jahr unterzeichnete Austrittsabkommen hinwegsetzen würde – und insbesondere über das Nordirlandprotokoll. Dieses Protokoll sollte der EU eine rechtliche Kontrolle über Staatshilfen in Nordirland ermöglichen und die Zollformalitäten zwischen der Region und dem Rest Großbritanniens regeln. Insider aus der Downing Street haben nun aber die Information gestreut, dass sie sich darüber auf provokative Weise hinwegsetzen werden – „in vollem Bewusstsein, dass damit internationales Recht gebrochen wird“.
Außerdem droht die britische Regierung, Restriktionen gegen EU-Unternehmen zu verhängen, die versuchen, sich über London auf den globalen Märkten zu finanzieren. Laut dem Sunday Express, einer rechten und brexit-freundlichen Zeitung, erwägt Downing Street ein Dossier mit dem Vorschlag, „dass die EU für ihre Weigerung, sich zu einigen, bestraft werden könnte, indem ihre Möglichkeit zur Geldbeschaffung über die Londoner Finanzmärkte eingeschränkt wird“.
Der Zweck dieser beiden Drohungen ist klar: Die Verhandlungen zwischen dem Königreich und der EU haben einen toten Punkt erreicht, aber die Unstimmigkeiten sind durchaus lösbar. Es gibt zwei Themen: ein emotionsgeladenes und ein wichtiges. Das emotionale Thema sind die Fischereirechte. Da dies aber eine reine Quotenfrage ist, würde jeder erfahrene Verhandler sagen, dass es gelöst werden kann. Das wichtige Thema hingegen sind die Staatshilfen: Ein Großbritannien, das aus ideologischen Gründen immer gegen die öffentliche Unterstützung des privaten Sektors war, hat plötzlich sein Bedürfnis entdeckt, Technologiekonzerne zu subventionieren.
Der Covid-19-Abschwung hat viele Tories davon überzeugt, dass sie die Kosten eines No-Deal-Schocks hinter den Kosten des Virus verstecken können.
Wie bei allen Verhandlungen, an denen Premierminister Boris Johnson beteiligt ist, sind die Nebelkerzen und das Getöse in den Sonntagszeitungen in erster Linie an die eigenen Bürgerinnen und Bürger gerichtet. In zweiter Linie sind sie dafür gedacht, den Verhandlungspartner zu verwirren. Mein Verdacht ist, dass Johnson irgendwann einen Ausstieg inszenieren und einen Brexit ohne Abkommen erklären wird, um beim Fisch, bei der Staatshilfe und im Hinblick auf Nordirland geringfügige Vorteile zu erzielen. Die beiden Drohungen der letzten Tage sind dazu da, einen Casus Belli für einen solchen Ausstieg aus den Verhandlungen zu schaffen.
Der Covid-19-Abschwung hat viele Tories davon überzeugt, dass sie die Kosten eines No-Deal-Schocks hinter den Kosten des Virus verstecken können. Das britische Haushaltsdefizit soll in diesem Jahr 320 Milliarden Pfund betragen – gegenüber 57 Milliarden im letzten Jahr. Das Königreich erwartet in den nächsten fünf Jahren Defizite in doppelter Höhe der vorher prognostizierten Zahlen, das Verhältnis der Schulden zum Bruttoinlandsprodukt wird damit hundert Prozent überschreiten. Also sind die Politiker bereit, einen „No Deal“ zu inszenieren – wenn auch nur, um sich die Chance zu wahren, Johnsons Wählerbasis zufriedenzustellen, die aufgrund seines katastrophalen Umgangs mit der Pandemie ins Bröckeln geraten ist.
Aber wie die Tories auf die harte Tour lernen, liegt das grundlegende britische Problem in der „Souveränität”. Das Motto, „die Kontrolle zurückzugewinnen“, hat 52 Prozent der britischen Bürgerinnen und Bürger motiviert, 2016 bei der Volksabstimmung für den Brexit zu stimmen. Johnson hatte sich dieses Motto auf die Fahnen geschrieben, was ihm bei den Westminster-Wahlen im letzten Dezember einen erdrutschartigen Sieg einbrachte. Dieses Mantra – „die Kontrolle über unser Geld, unsere Grenzen und unsere Gesetze zurückzugewinnen” – wurde den Tory-Politikern geradezu eingebläut.
Unter Johnsons Vorgängerin träumten die Tories davon, dass sich Großbritannien aus allen gemeinsamen Standards befreien und zu einem „Singapur an der Themse“ werden könnte. Unter Johnson wurde dieser Traum immer fieberhafter.
Aber „Souveränität“ liegt nicht mehr in Geld, Grenzen oder gar Gesetzen begründet. Sie basiert auf Standards, die die EU-Staaten miteinander teilen – bei der Technologie, im Handel, im Finanzwesen, in der Landwirtschaft, beim geistigen Eigentum und bei den Verbrauchsgütern.
Unter Johnsons Vorgängerin Theresa May träumten die Tories davon, dass sich Großbritannien aus allen gemeinsamen Standards befreien und zu einem „Singapur an der Themse“ werden könnte. Die Idee war eine deregulierte Niedrigsteuerwirtschaft, die ihre Vorteile gegenüber einer stärker regulierten und auf Umverteilung beruhenden EU ausspielen könnte – nicht nur im Finanzwesen, sondern auch in Forschung, Technologie, Dienstleistungen und Produktion.
Unter Johnson wurde dieser Traum immer fieberhafter. Nicht nur werde Großbritannien seine Handelsbeziehungen zur EU kündigen, wie er im Februar sagte, sondern das Land solle auch zu einer globalen Kraft des Aufbrechens aller Handelsblöcke werden: „Die Menschheit braucht irgendwo eine Regierung, die wenigstens bereit ist, sich intensiv für den freien Austausch einzusetzen – ein Land, das bereit ist, seine Clark-Kent-Brille abzusetzen, in die Telefonzelle zu springen und im wallenden Gewand des Superstars für das Recht der Völker der Erde einzutreten, untereinander frei kaufen und verkaufen zu dürfen.“ Großbritannien werde sich an einem „multidimensionalen Schachspiel” beteiligen und gleichzeitig mit den Vereinigten Staaten, dem Commonwealth, mit Japan und der EU verhandeln – und, nicht zu vergessen, mit China und Indien.
Die Deglobalisierung ist eine Tatsache, und in den nächsten 25 Jahren wird die einzige Frage darin bestehen, wer gewinnt und wer verliert.
Das war immer schon eine Täuschung. Bereits vor der Coronavirus-Krise ging der Handelswert des globalen Warenaustauschs zurück – im Jahr 2019 beispielsweise um drei Prozent, und aufgrund der zunehmend protektionistischen Politik der Vereinigten Staaten und geopolitischer Spannungen verlangsamte sich auch das Wachstum des Handels mit Dienstleistungen. Die Idee, das Vereinigte Königreich könne dies im Alleingang rückgängig machen, war ebenso von Selbstüberschätzung bestimmt wie die wiederholten Drohungen der Tories, eine einzelne Fregatte auf den Weg zu bringen, um das Machtgleichgewicht im Südchinesischen Meer zu beeinflussen.
Covid-19 hat die Welt allerdings verändert. Mit der Pandemie begannen die Nationalstaaten, persönliche Schutzausrüstung und Atemgeräte zu beschaffen, zu horten und zu konfiszieren, Grenzen zu schließen, ihre Bürgerinnen und Bürger bevorzugt zu behandeln und sich gegenseitig für die Folgen verantwortlich zu machen. Und wenn wir einen Impfstoff haben, wird daraus ein Gerangel entstehen, wem er gehört und wie er verteilt werden soll – dies wird der Welt eine weitere hobbessche Lektion erteilen.
Die Deglobalisierung ist eine Tatsache, und in den nächsten 25 Jahren wird die einzige Frage darin bestehen, wer gewinnt und wer verliert. Trotz aller Freihandelsrhetorik müssen die Handlungen der Briten auf der Grundlage betrachtet werden, dass die Politik dort jetzt in der Hand von Menschen ist, die diese Tatsache verstehen. Dominic Cummings, Johnsons Chefberater – der dafür berüchtigt ist, während des Lockdowns seine Familie in Nordengland besucht zu haben – mag zwar nicht in der Lage sein, sich an grundlegende Regeln der öffentlichen Gesundheit zu halten, aber er kennt die Technologiebranche. Eine Führungskraft eines globalen Technologiekonzerns erklärte mir letzten Monat, die Tech-Welt werde sich „balkanisieren“. In den Zoom-Gesprächen der Mächtigen wird dies nun als unumkehrbar akzeptiert.
Die Strategie der Falken unter den Konservativen bestand immer darin, früh einen Brexit ohne Abkommen anzustreben und mit der Trump-Regierung ein Rahmenabkommen zu treffen. Dies ist allerdings ein riskantes Pokerspiel.
Es geht nicht einfach nur darum, den chinesischen Konzern Huawei aus dem Rückgrat des Internets auszuschließen. Den europäischen Politikern ist klar, dass sie im Gegenzug einen europäischen 5G-Marktführer aufbauen müssen, indem sie Teile der ehemaligen europäischen Telekomriesen neu zusammensetzen und eine transnationale Form von Staatshilfe leisten. Auch hinsichtlich der Plattformen der „Sozialen Medien” glauben die Insider, es werde separate EU-Inhaltsregulierungen, Anzeigenstandards, Steuerregeln und letztlich Konzerne geben.
Vielleicht werden Facebook, Google und Amazon nicht aufgrund von Wettbewerbsprinzipien zerschlagen. Aber sie müssen in Kauf nehmen, in Europa und Amerika als grundlegend getrennte Einheiten zu existieren, während sie aus China und chinesisch dominierten Ländern ausgeschlossen werden.
Die britische Regierung versteht, dass es die wichtigen westeuropäischen EU-Regierungen mit der Konsolidierung ernst meinen – von der Technologie über das Bankwesen und die Fahrzeugindustrie bis hin zu den Finanzmärkten. Die Strategie der Falken unter den Konservativen bestand immer darin, früh einen Brexit ohne Abkommen anzustreben und mit der Trump-Regierung ein Rahmenabkommen zu treffen. Dies ist, wie sich herausstellt, allerdings kein „multidimensionales Schach“, sondern ein riskantes Pokerspiel um hohe Einsätze.
Und deshalb will sich das Königreich von allen Resten europäischer Staatshilferegeln befreien. Im echten Singapur sind die führenden Unternehmen aller Sektoren von staatlichen Interessen durchdrungen. Dort herrscht, wie Guy de Jonquieres vom Europäischen Zentrum für Internationale Politische Ökonomie betont, eine grundlegend geplante Volkswirtschaft mit einer hochbezahlten und sehr talentierten Staatsbürokratie, die für den wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich ist.
Hinter der fremdenfeindlichen Rhetorik hat sich das Brexit-Projekt der autoritären britischen Rechten verändert: von einem „Paradies des freien Marktes” zu einer staatlich unterstützten Führungsmacht im Innovations- und Technologiebereich.
Hinter der fremdenfeindlichen Rhetorik hat sich das Brexit-Projekt der autoritären britischen Rechten daher verändert: von einem „Paradies des freien Marktes”, das das Rennen um die geringsten Umwelt- und Arbeitsmarktvorschriften gewinnt, hin zu einer (implizit) staatlich unterstützten Führungsmacht im Innovations- und Technologiebereich. Das ist es, was hinter Cummings Kampagne steckt, die öffentliche Verwaltung abzubauen und sie durch eine Konzernmeritokratie zu ersetzen. Und das ist es, was hinter der Rede des Staatsministers für Kabinettsangelegenheiten und Brexit-Befürworters Michael Gove im Juni steckt, in der er Franklin D. Roosevelt und Antonio Gramsci lobte.
Warum tun die Tories das? Weil sie es können. Weil der Widerstand gegen diese nationalistische, neoliberale Strategie zwischen Labour, den Liberaldemokraten, der Schottischen Nationalpartei und den Grünen zersplittert ist – Parteien, die bei allen Wahlen (des britischen Mehrheitswahlsystems) versuchen, sich gegenseitig Stimmen abzunehmen. Und weil es in Großbritannien, wo die tory-freundliche Presse und der konservative Rundfunk freie Hand haben, eine breite Basis für Fremdenfeindlichkeit gibt.
Cummings und andere Leute um Johnson herum gehören zu einer Sicherheitstechnokratie, die davon überzeugt ist, gleichzeitig die britische Armee umbauen, ein britisches Gegenstück zu General Electric aufbauen, das schottische Unabhängigkeitsprojekt im Keim ersticken und den britischen Imperialismus wieder aufbauen zu können – mit Accenture, McKinsey und Palantir in der Rolle des Robert Clive von Indien (des ersten britischen Gouverneurs von Bengalen).
Sie glauben an diese Fantasien, da es unmöglich ist, sich der Wirklichkeit zu stellen: Das Britannien, das sie regieren, ist jetzt eine untergeordnete Macht mit abnehmendem Einfluss und einer verrottenden Infrastruktur. Nur wenn Europa scheitert, könnte es aufblühen, aber – traurigerweise für sie – wird Europa nicht scheitern.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.