Vor rund einem Jahr trafen die demokratischen Kräfte von Belarus sich zu einer Konferenz in Warschau und legten sich in einer Resolution geopolitisch eindeutig fest: zugunsten der Europäischen Union. Während die Opposition sich seit 2020 kontinuierlich europafreundlich entwickelt, liegen die Dinge bei der belarussischen Gesellschaft jedoch anders.

Bei allen Umfragen der vergangenen Jahre sprachen sich in Belarus im Schnitt 10 bis 20 Prozent der Befragten für eine europäische Integration aus. Diese Zahlen liefern möglicherweise ein verzerrtes Bild, weil in Belarus viele Angst haben, auf politische Fragen eine ehrliche Antwort zu geben. Aus den verfügbaren Untersuchungen zu diesem Phänomen geht zum Beispiel hervor, dass bei Fragen mit Bezug zum Krieg das proukrainische Segment der Befragten im Schnitt rund neun Prozentpunkte kleiner ausfällt. Bei Fragen nach der geopolitischen Ausrichtung dürfte sich die angstbedingte Verzerrung in einer ähnlichen Größenordnung bewegen. Das würde bedeuten, dass der Anteil der EU-Befürworter in der belarussischen Bevölkerung in Wahrheit ungefähr 20 bis 30 Prozent ausmacht. Die verbleibende Mehrheit präferiert entweder die Anbindung an Russland oder die Neutralität, wobei bis 2023 stets eine Mehrheit für eine neutrale Position votierte, die zu allen außenpolitischen Polen die gleiche Distanz wahrt. In den jüngsten Erhebungen verzeichnet eine Allianz mit Russland jedoch die höchsten Zustimmungswerte: 40 bis 50 Prozent.

Der Grund für diese Verschiebung dürfte sein, dass die Neutralität aufgrund des heißen Krieges in der Region und aufgrund der Minsker Bündnisverpflichtungen gegenüber Moskau den Belarussinnen und Belarussen inzwischen mehr und mehr als eine Idealvorstellung erscheint, deren Verwirklichung in immer weitere Ferne rückt. Aus diesem Grund stagniert der Rückhalt für eine europäische Integration. Die jüngsten Untersuchungen zeigen, dass belarussische Befragte sich bei Fragen nach der geopolitischen Ausrichtung deshalb nicht für die Europäische Union aussprechen, weil dieser Weg den Menschen im Augenblick unrealisierbar oder sogar gefährlich erscheint.

Die Europaskepsis der Belarussinnen und Belarussen hat also nichts mit einer Ablehnung europäischer Werte zu tun. Dies wurde auch bei den Massenprotesten von 2020 deutlich und bestätigt sich zudem in aktuellen Erhebungen zum Thema Gesellschaftsvertrag in Belarus. Die Ursachen sind vielmehr pragmatischer Natur. Die Gesellschaft glaubt weder an die geopolitische Möglichkeit, sich von der russischen Kontrolle zu lösen, noch daran, dass die Wirtschaft ein Zerwürfnis mit Russland überstehen würde. Zudem sehen die Menschen nicht, dass die EU bereitwillig ihre Türen für Belarus öffnen würde.

An der belarussischen Westgrenze wurde in den vergangenen Jahren konsequent ein neuer Eiserner Vorhang geschaffen.

Im Gegenteil: An der belarussischen Westgrenze wurde in den vergangenen Jahren konsequent ein neuer Eiserner Vorhang geschaffen. Die Provokationen des Regimes, das gezielt Migrantenströme aus Drittstaaten über die Grenze schickt, die Mitwirkung am Krieg und die Ausweisung der meisten litauischen und polnischen Konsuln hatten zur Folge, dass man in Belarus inzwischen eine mehrmonatige Ochsentour hinter sich bringen muss, um an ein Visum für den Schengen-Raum zu kommen. Bis 2020 war Belarus Weltmeister bei der Zahl der erteilten Visa pro Kopf der Bevölkerung. Diese Spitzenreiterrolle mit 700 000 bis 800 000 Visa jährlich hat das Land inzwischen klar eingebüßt: 2023 wurden nur noch 160 000 Visa erteilt. An den wenigen noch geöffneten Grenzübergängen nach Litauen und Polen stehen manche mehr als 24 Stunden in der Warteschlange.

Viele Politiker in den Nachbarländern – vor allem in Litauen – betrachten die belarussische Gesellschaft zunehmend als Bedrohung. Damit versuchen nicht zuletzt Populisten politisch zu punkten. Die Folge: Das Einwanderungsrecht wird verschärft, und die Kontakte zwischen den Belarussen und den Menschen im Rest Europas nehmen ab. Die demokratischen Kräfte, die auf die europäische Integration setzen, stehen eindeutig quer zur aktuell herrschenden öffentlichen Meinung und zum belarussischen Isolationskurs gegenüber dem Westen. Dennoch besteht kein Anlass, die Situation zu dramatisieren. Historisch gesehen, ist nicht damit zu rechnen, dass der Meinungsunterschied zwischen der Opposition und den Exilanten auf der einen Seite und dem heutigen Durchschnittsbelarussen auf der anderen Seite ernste Folgen haben wird.

Über längere Zeiträume gab es immer wieder Schwankungen in der öffentlichen Meinung, wenn es um die geopolitische Ausrichtung geht. Seit Befragungen zu diesem Thema durchgeführt werden, durften die Soziologen in der Vergangenheit mindestens dreimal – in der Zeit von 2009 bis 2011, in den Jahren 2012/2013 sowie im Herbst 2020 – feststellen, dass proeuropäische Stimmungen stärker ausgeprägt waren als russlandfreundliche Einstellungen. Solche Aufwärtsbewegungen werden wir möglicherweise auch in Zukunft erleben.

Damit die Gesellschaft an diesen Punkt gelangt, müssen zunächst einmal die mentalen Barrieren abgebaut werden, die einer europafreundlichen Stimmung bislang im Weg stehen. Die Europäische Union muss wieder zu einer realistischen und sicheren Option werden, und das Bündnis mit Russland darf nicht länger als fest vorgegebenes Gleis wahrgenommen werden, aus dem Belarus nicht ausbrechen darf, wenn es wirtschaftlich intakt bleiben und seine Souveränität wahren will.

Wie die europäische Zukunft von Belarus sich gestalten wird, entscheidet sich zu einem großen Teil auf den Schlachtfeldern in der Ukraine.

Solche tiefgreifenden Transformationsprozesse kommen jedoch nur in Gang, wenn die Opposition die belarussische Bevölkerung erfolgreich davon überzeugt, dass der Weg in die Europäische Union für sie etwas Wünschenswertes ist. Zudem muss sich in der gesamten Region politisch und wirtschaftlich vieles grundlegend ändern: Der Krieg in der Ukraine muss aufhören, Russlands tragende Rolle für die belarussische Wirtschaft muss geschwächt werden, und die EU muss sich stärker für belarussische Bürgerinnen und Bürger öffnen. Wenn sich die Gesamtsituation in dieser Weise verändert, wird auch die öffentliche Meinung in Belarus sich von Grund auf wandeln, weil viele der heutigen Ängste vor der EU und die Anhänglichkeit an Russland nicht mehr aktuell sein werden.

Die deprimierende Realität sieht so aus, dass die demokratischen Kräfte und die Politik ihrer westlichen Partner auf die genannten Veränderungen kaum Einfluss haben. Wie die europäische Zukunft von Belarus sich gestalten wird, entscheidet sich wie vieles andere zu einem großen Teil auf den Schlachtfeldern in der Ukraine. Vor allem aber müssen die Opposition und diejenigen im Westen, die eines Tages ein europäisches Belarus erleben wollen, sich fragen, ob sie wirklich genug dafür tun, dass Belarus und Europa sich einander annähern oder zumindest nicht immer weiter auseinanderdriften. Zwei Bestrebungen stehen dabei insbesondere im Vordergrund.

Erstens geht es um Mobilität und Kontakte von Belarussen mit Europa: Viele Belarussen haben sich vom Westen wegorientiert und dem Osten zugewandt. Das gilt besonders für die Wirtschaft, die sich aus dem Krieg und der Unterstützung des Regimes heraushält und sich vom europäischen Markt zu den Märkten Russlands, Chinas und anderer asiatischer Länder umorientiert hat – und damit allein den Interessen des belarussischen und des russischen Regimes dient. Wenn Minsk noch auf viele Jahre hinaus isoliert bleibt (eine durchaus realistische Perspektive) und immer mehr Menschen aus eigener Erfahrung nicht wissen, was regelmäßige Reisen in die EU oder das Studieren an westlichen Universitäten bedeuten, fällt eine zentrale Triebfeder für die zukünftige Europäisierung von Belarus zunehmend weg.

Viele Belarussen haben sich vom Westen wegorientiert und dem Osten zugewandt.

Bei allem Verständnis für die Sorge über die Sicherheit der östlichen EU- und NATO-Mitglieder ist es wichtig, dass die Politiker dieser Länder sich bewusst sind, wie hoch die langfristigen Kosten sein werden, wenn die belarussische Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang weggeschlossen bleibt, hinter dem die Regime in Minsk und Moskau sie einsperren wollen. Wichtig ist auch, dass die demokratischen Kräfte von Belarus dies ihren westlichen Gesprächspartnern beharrlich immer wieder in Erinnerung rufen. Vor dem Hintergrund, dass die Opposition personell unterbesetzt ist und den belarussischen Problemen im Westen derzeit wenig Aufmerksamkeit zuteilwird, gilt es die Prioritäten neu zu setzen. Statt auf beiden Seiten Zeit und Energie für virtuelle Projekte wie den Aufbau eines Parallelstaates mit eigenen Institutionen, Wahlen und Reisepässen zu verschwenden, sollte man sich auf Fragen konzentrieren, die für das Leben und die Zukunft der belarussischen Bevölkerung real etwas bewirken.

Die zweite Priorität betrifft die Unterstützung von unabhängigen Medien. Ohne alternative Informationen etwa über das reale Leben in der EU ist kaum damit zu rechnen, dass der Drang nach Europa in der Gesellschaft wächst oder zumindest erhalten bleibt. Die aggressive belarussische und russische Propaganda, der die meisten Belarussinnen und Belarussen ausgesetzt sind, redet der Bevölkerung jeden Tag ein, in der EU regierten Dauerkrise, Kriminalität und moralischer Verfall. Solange sie nicht die Möglichkeit haben – wie in der Zeit bis 2020 – in die EU zu reisen, halten allein die unabhängigen Medien bei vielen Belarussen die Erinnerung daran wach, dass man ihnen im Fernsehen eine alternative Wirklichkeit zu verkaufen versucht.

Das Problem mit diesen Empfehlungen ist, dass sie keine schnelle Wirkung entfalten können. Doch die Alternative wäre, weiter träge vor sich hinzudümpeln und tatenlos zuzuschauen, wie ein europäisches Volk im geografischen Zentrum Europas im Hinterhof der Geschichte versackt.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld