Nach monatelangen Verzögerungen haben die beiden Häuser des US-Kongresses endlich die neue Militärhilfe für die Ukraine verabschiedet. Während dies für Kiew einen dringend benötigten Rettungsring und neue moralische Motivation bedeutet, zeigte sich Moskau vorhersehbar unbeeindruckt. Man berief sich implizit auf den angeblichen Vorteil auf dem Schlachtfeld: kein Waffenstillstand, keine Teilnahme an der geplanten Friedenskonferenz in der Schweiz und kein Abrücken von der Zielsetzung, die Ukraine vollständig in die russische Einflusssphäre zurückzuholen.

Was wünschen sich Wladimir Putin und seine Landsleute, die ihn bei den letzten Präsidentschaftswahlen unterstützt haben, langfristig wirklich? Und welche Art von Frieden oder Friedensgesprächen kann mit Russland erreicht werden?

Der Verlauf der russischen Präsidentschaftswahlen im März war das Gegenteil von frei und fair. An der Wiederwahl Putins gab es nie einen Zweifel. In einem autoritären System, das sich immer mehr einer totalitären Diktatur annähert, hat weder die Opposition – wenn es denn eine gibt – eine echte Chance, noch ist den endgültigen Wahlergebnissen zu trauen. Dennoch sollte man sich davor hüten, sie nur als „Farce“ oder „Täuschung“ zu bezeichnen. Putin hat bekommen, was er wollte: Die Botschaft an das interne und externe Publikum, dass die überwältigende Mehrheit der russischen Wählerinnen und Wähler seine Politik unterstützt, insbesondere die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine. Sein Umgang mit dem Terroranschlag nahe Moskau Ende März zeigte denselben Ansatz. Ungeachtet der westlichen Warnungen und der überwältigenden Beweise für die Urheberschaft einer Terrorgruppe des Islamischen Staates nutzte das Regime auch diese Gelegenheit, mit dem Finger auf Kiew zu zeigen.

Es wäre ein Fehler zu glauben, dass Putins Macht ausschließlich auf autoritären Mitteln, medialer Gehirnwäsche, polizeilicher Repression und politischem Mord beruht.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Putin das System der persönlichen Macht systematisch gestärkt, die Kontrolle über die Massenmedien in seinen Händen konzentriert und seine einflussreichsten Konkurrenten ausgeschaltet. Die Lebenserwartung von Verrätern und offenkundigen Gegnern, ob vermeintlich oder tatsächlich, ist sehr kurz geworden. Wenn von der Opposition in Russland die Rede ist, beziehen sich Beobachter in der Regel auf ihre liberalen und demokratischen Teile. Putin sieht sich jedoch mit einer anderen Art von interner Opposition konfrontiert, die seine Außenpolitik nicht aggressiv oder entschlossen genug findet und der Meinung ist, dass Russland zu viel Demokratie und Freiheit für redselige Liberale und versteckte Verräterinnen und Verräter bereithält. Es wäre ein Fehler zu glauben, dass Putins Macht ausschließlich auf autoritären Mitteln, medialer Gehirnwäsche, polizeilicher Repression und politischem Mord beruht. Die wahre Logik des russischen Autoritarismus liegt nicht so sehr in der Repression als vielmehr in der geschickten Aufrechterhaltung eines gewissen gesellschaftlichen Konsenses.

Die russische Gesellschaft will weder eine Rückkehr zu den Schrecken der kommunistischen Revolution von 1917 noch zum Chaos und zu den Reformen der „wilden 1990er“. Darin sind sich sowohl regierungsnahe Geschäftsleute und Beamte, die eine Enteignung fürchten, als auch die Masse der Bevölkerung mit Putin-freundlichen Einstellungen einig. Putin teilt seine besondere Weltanschauung mit der unterstützenden Mehrheit der heutigen russischen Gesellschaft. Insgesamt sind es drei eng miteinander verflochtene Hauptnarrative: Sowjetnostalgie, Revisionismus und antiwestliche Stimmungsmache.

Seit Ende der 1990er Jahre dominiert in der russischen Gesellschaft die Sehnsucht nach den glorreichen Sowjetzeiten und der „großen sowjetischen Zivilisation“. Bei dieser Stimmung geht es nicht um die Sehnsucht nach den sozialen Vorteilen des entwickelten Sozialismus. Begünstigt durch den Öl- und Gas-Boom leben die Russinnen und Russen heute deutlich besser als je zuvor. Die zahlreichen Fernsehserien über die geschönte sowjetische Vergangenheit erinnern sie nicht an Warteschlangen für Wurst oder an leere Regale. Stattdessen wird die UdSSR im russischen Fernsehen vor allem als eine weltweit respektierte und gefürchtete Großmacht dargestellt. Der Rekurs auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ mit dem Sieg über den Faschismus wird nicht nur an jedem 9. Mai betont. Dagegen löst der Verlust des sowjetischen Großmachtstatus – in Putins Worten „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – bei der Pro-Putin-Mehrheit fast körperliches Unbehagen aus.

Selbst nach drei Jahrzehnten ist die russische Gesellschaft nicht bereit, das Selbstbestimmungsrecht anderer und die Souveränitätsansprüche postsowjetischer Staaten zu akzeptieren.

Die imperialistische territoriale Expansion, die seit der vorsowjetischen Zeit tief in der russischen Kultur verwurzelt ist, wird als eindeutiger Wert angesehen, der Verlust von Territorien dagegen als nationale Katastrophe. Selbst nach drei Jahrzehnten ist die russische Gesellschaft nicht bereit, das Selbstbestimmungsrecht anderer und die Souveränitätsansprüche postsowjetischer Staaten zu akzeptieren. Das Konzept der Wiedervereinigung ehemaliger sowjetischer Gebiete unter den Fittichen Russlands stößt auf breite nationale Zustimmung. Zudem bezieht sich dieser Revisionismus nicht nur auf die europäische Ordnung nach 1991, sondern auch auf die Errungenschaften der Entspannungspolitik und auf die nach 1945 geschaffene internationale Ordnung.

Wenn Russland durch Putin und seine Anhänger fordert, dass die NATO die Ukraine nicht aufnehmen und die Grenzen des Bündnisses wieder nach Westen verschieben solle, wie soll man diese Forderung verstehen? Hat Putin wirklich Angst vor einem sofortigen Angriff der NATO? Ist Nähe eine militärische Bedrohung? Warum protestiert Russland dann nicht noch stärker gegen die NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens? Hier liegt die eigentliche Sorge Russlands: Die Mitgliedschaft der Ukraine und der osteuropäischen Länder in der NATO macht es unmöglich, sich diese Länder gewaltsam einzuverleiben und die gewünschte „Einflusssphäre“ wiederaufzubauen.

Lange vor Putin hat Russland seine Identität in Opposition zum Westen aufgebaut.

All dies ist durchdrungen von tief verwurzelten antiwestlichen Motiven in der russischen Kultur, die an die offiziellen Doktrinen der Zarenzeit, die Debatte zwischen Westlern und Slawophilen im 19. Jahrhundert, anknüpfen. Der Satz über den „verfaulten Westen“, der Russland mit seinen giftigen Ausdünstungen infiltriere, wurde erstmals 1841 geäußert und verkörpert ein dauerhaftes Narrativ. Lange vor Putin hat Russland seine Identität in Opposition zum Westen aufgebaut und einen kulturellen und politischen Mythos konstruiert, in dem der Westen fast alle moralischen Übel verkörpert, im krassen Gegensatz zu Russlands dargestellter Spiritualität, Solidarität und Reinheit. Aus dieser Perspektive erhält Putins Krieg eine existenzielle Dimension.

Es wäre eine grobe Vereinfachung zu glauben, dass Putin diese Gefühle zynisch ausnutze, um seine Macht zu festigen. Im Gegenteil, er teilt diese Gefühle aufrichtig. Auf dieser Welle reitend, kombiniert Putin technokratisch effektives Wirtschaftsmanagement, autoritäre Macht und sowjetische Rhetorik.

Man kann nicht behaupten, dass diese Situation für Russland etwas Neues sei. Russische Oppositionskommentatoren vergleichen Putin ganz offen mit einer anderen, ähnlichen historischen Figur – mit Zar Nikolaus I. In der Tat gibt es zu viele Ähnlichkeiten zwischen diesen historisch weit entfernten Episoden: erstickende Verfolgung, Ausnutzung militärischer Siege und ideologische Konfrontation mit Europa. Das autoritäre System von Nikolaus I., das unzerstörbar schien, zerfiel jedoch nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg (1853–1856), in dem die geopolitischen Ambitionen des Zaren mit der geeinten Haltung der europäischen Länder kollidierten.

Die tiefe Verankerung der drei zentralen Narrative in der russischen Außenpolitik legt nahe, dass der Eroberungs- und Abnutzungskrieg weitergehen wird.

Im Angesicht der Niederlage änderte Russland seinen politischen Kurs drastisch, und es folgten für das Land liberale Reformen, die in Tiefe und Umfang beispiellos waren. Die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1904/1905 zwang Nikolaus II. dazu, politische Freiheiten zu gewähren und zu einer parlamentarischen Regierung überzugehen. Der äußerst erfolglose Krieg in Afghanistan in den 1980er Jahren erleichterte Michail Gorbatschows Übergang zu einem neuen politischen Denken, zu Glasnost und Perestroika. Wie es in der russischen Geschichtsschreibung üblich geworden ist, offenbarten diese militärischen Niederlagen die „Fäulnis des Regimes“. Sie weckten auch den Wunsch nach Reformen, sowohl in der Elite als auch in der breiten Masse.

Was heißt das für die aktuelle Situation und für die Perspektiven in der Ukraine? So wichtig die Offenheit für Friedenssignale und Verhandlungsbereitschaft sein mögen, legt die tiefe Verankerung der drei zentralen Narrative in der russischen Außenpolitik nahe, dass der Eroberungs- und Abnutzungskrieg weitergehen wird. Wenn es nicht gelingt, Russland von seinen Macht- und Territorialansprüchen in der Ukraine abzubringen, muss sich Europa auf anhaltenden Druck einstellen, dessen Ziele Putin seit Langem skizziert hat: die Wiederherstellung der Grenzen der UdSSR und des sowjetischen Einflussbereichs auf dem Kontinent.