Bis zum 1. Juli stimmt die russische Bevölkerung über eine der umfassendsten Verfassungsänderungen der letzten 30 Jahre ab. Rechtlich gesehen wäre diese eigentlich schon in Kraft, denn die vorgenommenen Änderungen können von Staatsduma und dem Föderationsrat sowie Zweidrittel der Regionalparlamente auch ohne eine Volksbefragung beschlossen werden. Die Duma stimmte bereits am 11. März nach nur zwei Monaten rekordverdächtig schneller Erarbeitung und Beratung zu, und die 85 regionalen Parlamente bestätigten das Gesetz in den zwei darauffolgenden Tagen. Die so beschlossene neue Verfassung gibt es auch bereits fertig gedruckt in den Buchläden. Dennoch bindet das Gesetz zur Änderung der Verfassung das Inkrafttreten zusätzlich an eine allrussische Abstimmung, bei der es sich damit faktisch um eine Volksbefragung ohne verbindlichen Charakter handelt.
Warum eigentlich dieser Aufwand, wenn Volksvertretungen auf zwei Ebenen bereits dafür gestimmt haben? Es kann dabei kaum um die Meinung des Volkes zum genauen Inhalt der Verfassungsänderung gehen. Dafür war die Beratungszeit zu kurz, der öffentliche Diskurs zu den Punkten kaum tiefgehend genug und die Abstimmung nicht wirklich differenziert genug. Die 206 Änderungen, die alles umfassen von konkreten sozialen Verbesserungen, Machtverschiebungen zwischen den Gewalten bis hin zur Ermöglichung neuer Amtszeiten für den Präsidenten, können nur insgesamt mit ja oder nein bewertet werden. Wenn nicht um eine Bestätigung konkreter inhaltlicher Fragen, worum geht es dann bei dieser Abstimmung?
Trotz aller Machtfülle, die der Präsident hat und den die Verfassungsänderung noch stärkt, trotz eines zentralisierten Machtapparats und trotz des Fehlens ernstzunehmender politischer Gegenkräfte braucht der russische Staat und vor allem der Präsident Legitimation. Den Zerfall der UdSSR und die diversen Farbrevolutionen in Erinnerung, sorgt sich der Kreml um die Gefahr, die von schwindender Zufriedenheit in der Bevölkerung ausgeht. Die Herrschenden brauchen Legitimation, um sich ihrer Macht sicher zu wissen.
In der ersten Phase der Präsidentschaft Putins generierte das damals noch unbekannte neue Staatsoberhaupt schnell diese Legitimation mit der Rückkehr von Stabilität und wirtschaftlichem Aufschwung. Nach zwei Amtszeiten durfte der Präsident nicht noch einmal antreten, und mit der dann folgenden Präsidentschaft Medwedews war die Hoffnung verbunden, dass es nun auch zu einem gesellschaftlichen Aufschwung und mehr politischen Freiheiten kommt. Durch den erneuten Ämtertausch und die Rückkehr Putins in die dritte Amtszeit wurden diese Erwartungen jedoch jäh enttäuscht. Auch die Wirtschaft entwickelte sich nicht mehr wie erhofft, und so begann die erste Talfahrt der Zufriedenheits- und Vertrauenswerte bis zum Jahr 2014.
Den Zerfall der UdSSR und die diversen Farbrevolutionen in Erinnerung, sorgt sich der Kreml um die Gefahr, die von schwindender Zufriedenheit in der Bevölkerung ausgeht.
Die Krim-Annexion und eine massive patriotische Aufheizung der Stimmung in Russland führte wieder zu Umfragehochs. Die Legitimation wurde durch die außenpolitischen Erfolge erreicht, die Russland wieder als eine echte Großmacht zeigten. Die Welle des Patriotismus ebbte allerdings ab, die bestehenden Wirtschaftsprobleme, noch verschärft durch den Konflikt mit der EU und den USA, wurden wieder bedeutsamer für die Menschen. Die Werte begannen zu sinken, die Proteststimmung nahm zu und erreichte einen Höhepunkt nach der unpopulären Rentenreform 2018. Spätestens mit den Protesten in Moskau im Jahr 2019 aufgrund der Nichtregistrierung von Oppositionskandidaten für die Wahl zur Stadtduma wurde deutlich, dass die Unzufriedenheit ein für den Kreml problematisches Maß angenommen hatte. Die Legitimation begann zu erodieren. Regionale und lokale Wahlen wurden zu Protestabstimmungen, bei denen „Einiges Russland“, die Partei der Macht, empfindliche Dämpfer erhielt.
Doch wie kann einer Erosion der Legitimation vorgebeugt werden? Auf wirtschaftliche Erfolge gibt es in der nächsten Zeit kaum Hoffnung. Die Corona-bedingte Wirtschaftskrise in Verbindung mit niedrigen Preisen für Öl und Gas verschärft die bereits bestehenden Probleme. Russland erlebte bereits vor Corona eine lange Phase der Stagnation. Die Folgen spüren die Menschen. Die seit 2000 massiv gesunkene Armut nimmt wieder zu. Die real verfügbaren Einkommen steigen nicht, sondern sanken über fünf Jahre hinweg.
Außenpolitisch zeichnen sich auch keine Ereignisse ab, die sich für eine neuerliche patriotische Welle eignen würden. Erfolge in Syrien taugen kaum für eine solche Begeisterung, da viele Russen nicht verstehen, warum ihr Land im fernen Nahost aktiv ist. Zumal es dort zu einer schnellen Lösung nicht kommen wird und Russland allein den dringend notwendigen Wiederaufbau auch nicht stemmen kann. Andere große Erfolge sind derzeit nicht in Sicht. Viele Konflikte sind in der Ebene der diplomatischen Mühen angekommen, die zwar wichtige aber nur kleine Teilschritte ermöglichen. Endlose Verhandlungsrunden allein – selbst wenn sie erfolgreich sind – lassen keine patriotische Begeisterung aufkommen.
In diese Lücke fällt nun das Verfassungsreferendum, in dessen Zentrum die Änderung gerückt ist, die es dem amtierenden Präsidenten ermöglicht, weiter zu regieren. Die Zustimmung zu dieser Änderung soll signalisieren, dass das Volk hinter seinem Präsidenten steht. Es ist, wohlgemerkt, überhaupt nicht ausgemacht, dass Wladimir Putin auch wirklich 2024 zum fünften Mal antritt. Aber dass ihm diese Möglichkeit mit großer Mehrheit zugestanden wird, soll ihm Legitimation verschaffen.
Wie wichtig dem Staat diese Befragung ist, zeigt der Aufwand, der betrieben wird, um die Menschen an die Urne zu bringen.
Wie wichtig dem Staat diese Befragung ist, zeigt der Aufwand, der betrieben wird, um die Menschen an die Urne zu bringen. Man kann eine ganze Woche lang abstimmen, teilweise auch elektronisch. Die Wahllokale wurden nach draußen verlegt, unter Zelte, auf Parkbänke und Picknicktische, um den Menschen die Sorge vor einer Ansteckung zu nehmen. Die Abstimmung ist an einigen Orten sogar mit Lotterien verbunden. Es wurde massiv geworben und dabei in Reklamespots im Stil von viralen Clips die konservative Seele angesprochen. In einem Clip etwa wurde nahegelegt, dass es ohne die Verfassungsänderung zu einem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare kommt. Ein Thema, dass bisher in Russland nicht zur Debatte stand, außer in Berichten über den politischen Westen.
Durch die Vermengung aller Themen in den Änderungen, von sozialen Fragen wie die festgeschriebene Indexierung von Renten am Existenzminimum, über Werte wie die Festschreibung der Familie als Einheit von Mann und Frau, bis hin zu Wladimir Putins Optionen über die aktuelle Amtszeit hinaus, kann die Abstimmung kein wirklicher Stimmungstest, kein Meinungsbild abgeben. Ob einzelne Teile der Änderungen mehr Zustimmung als Ablehnung erfahren würden, kann man mit dieser Wahl nicht in Erfahrung bringen. So bleibt von der Abstimmung nur der Charakter einer Loyalitätsbekundung zum Staat und vor allem zum Präsidenten.
Umfragen deuten an, dass eine Mehrheit mit vielen Punkten der Verfassungsänderung, vor allem den sozialen Neuerungen einverstanden ist, aber nicht mit der Änderung der Amtszeiten des Präsidenten. Die Menschen hoffen in erster Linie auf eine sozial gerechtere Politik. Was passiert nun, wenn das zu erwartende positive Ergebnis feststeht? Wird die Bestätigung des Präsidenten und seiner bisherigen Politik in den Vordergrund gestellt und damit ein „Weiter so“, oder aber der Wunsch nach einer Änderung der Politik für größere soziale Gerechtigkeit? Von diesen Rückschlüssen aus den Wahlergebnissen wird abhängen, ob die Abstimmung letztlich zur Legitimation oder zu ihrem Gegenteil beitragen wird.