An diesem Sonntag bietet die Opposition in Ungarn alles auf, um die Regierung von Viktor Orbán zu stürzen. Ein Bündnis aus sechs Parteien fordert die regierende Fidesz-Partei heraus. Und dennoch ist zu befürchten, dass Orbán eine weitere Amtsperiode lang Ungarn zu einer Autokratie umbauen können wird.
Der Umbau des politischen Systems begann vor über zehn Jahren. Nachdem das von Orbáns Fidesz-Partei kontrollierte ungarische Parlament 2011 das neue Grundgesetz und die damit verbundenen Übergangsbestimmungen verabschiedet hatte, leitete die Europäische Kommission wegen der kritischsten Punkte – Medien, Justiz, Zentralbank – drei beschleunigte Vertragsverletzungs-verfahren ein und unterstrich damit die Dringlichkeit der Situation. Doch der Europäische Rat, in dem die Europäische Volkspartei den Ton angab, verschloss die Augen vor der Problematik.
Europaabgeordnete wie der Sozialdemokrat Hannes Swoboda und Daniel Cohn-Bendit von den Grünen erkannten schon damals Orbáns autoritäre Stoßrichtung und die große Gefahr eines Abgleitens in die Autokratie. 2013 billigte das Europäische Parlament einen Bericht über den Demokratieabbau in Ungarn. Doch ernsthafte Konsequenzen blieben aus.
2014 kündigte Orbán an, einen illiberalen Staat errichten zu wollen.
Hatte Orbán seine Ziele zunächst noch verschleiert und im Unklaren gelassen, bekannte er 2014 Farbe, als er ankündigte, einen illiberalen Staat errichten zu wollen. Zwar folgte die Kritik aus dem Ausland auf dem Fuße, doch da war Orbán bereits erneut mit einer verfassungsändernden Parlamentsmehrheit wiedergewählt worden. Es folgte eine denkwürdige Episode in den Beziehungen zwischen der EU und Ungarn, als der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Viktor Orbán 2015 vor laufenden Kameras als Diktator ansprach. Praktisch aber geschah nichts. In diesen Jahren der Untätigkeit wiesen alle selbsterklärten Hardliner gerne darauf hin, dass es einer „Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität“ bedürfe, die es ermögliche, im Falle eines schweren Verstoßes gegen europäische Grundwerte die Zahlung von EU-Mitteln auszusetzen.
Im Jahr 2018 analysierte und verurteilte das Europäische Parlament erneut die antidemokratische Entwicklung in Ungarn. In der Folge stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten dafür, gegen Ungarn wegen diverser Verstöße gegen die Grundwerte der EU ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Im Jahr zuvor hatte die EU-Kommission bereits Artikel 7 ausgelöst – allerdings gegen Polen. Sie reagierte damit auf die berüchtigte Justizreform der konservativ-nationalistischen Regierung in Warschau.
Die Anwendung des berühmten Artikel 7, nach dem aufgrund einer Verletzung der Grundwerte der EU die Stimmrechte eines Mitgliedsstaats ausgesetzt werden können, war unter Experten und Entscheidungsträgern jahrelang ausgiebig diskutiert worden. Einige sahen darin eher ein „allerletztes Mittel“ als ein praktikables Instrument. Nachdem sich die rechtsgerichtete polnische Regierung dem autoritärem Club Viktor Orbáns anschloss, war Artikel 7 – der nur über eine einstimmige Entscheidung aller EU-Mitgliedsstaaten in Kraft treten kann – ohnehin keine Option mehr.
Der „Rechtsstaatlichkeits-mechanismus“ dient nicht etwa dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Vielmehr schützt er den EU-Haushalt.
Ein neues Instrument, der sogenannte „Rechtsstaatlichkeits-mechanismus“, sollte aus der Taufe gehoben werden. Doch die Verabschiedung kam vor der Europawahl 2019 nicht zustande. Sie erfolgte erst 2020 nach einer weiteren Verzögerung durch die Covid-19-Pandemie. Die deutsche Ratspräsidentschaft war bestrebt, einen symbolischen Kompromiss auszuhandeln, um zu verhindern, dass die polnische und ungarische Regierung ihr Veto gegen den neu geschaffenen Wiederaufbaufonds Next Generation EU einlegten. Erst durch die Intervention des Europäischen Parlaments wurde die Angelegenheit wieder mit Nachdruck verfolgt.
Der „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ dient indes nicht etwa dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Vielmehr schützt er den EU-Haushalt. Denn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit, die nicht in engem Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des EU-Haushalts stehen, können nicht sanktioniert werden. Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass der Mechanismus die Haushaltsausstattung eines Landes grundsätzlich verändern darf: Zahlungen können daher nur vorübergehend ausgesetzt werden.
Der Mechanismus geht somit nicht spürbar über das hinaus, was gegen Schurkenregierungen in der EU bereits erlaubt ist: die Unterbrechung oder Aussetzung von Überweisungen in Länder, in denen es ernsthafte Anzeichen oder Risiken für Missbrauch gibt. Der Unterschied besteht darin, dass bislang nur die Kommission diese Maßnahmen ergreifen durfte. Mit dem neuen Mechanismus liegt die Entscheidungsbefugnis beim Rat der Europäischen Union. Der Prozess wird somit unweigerlich politisiert und zum Gegenstand von Schachereien.
Am 16. Februar 2022 wies der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Klagen gegen den Rechtsstaatsmechanismus zurück und gab grünes Licht für seine Umsetzung. Damit liegt es nun an der Kommission, im Bedarfsfall die Initiative zu ergreifen. Wer davon ausgeht, dass es sich bei dem Mechanismus lediglich um einen Papiertiger handelt, wird durch das Verhalten von Ursula von der Leyen bestätigt. Die Kommission und ihre Präsidentin haben bislang noch nicht eindeutig erklärt, dass es sich bei Ungarn um einen Fall von Artikel 7 handelt. Und so dürften wir auch weiterhin eine Art inaktive Umsetzung des Mechanismus erleben.
Orbán, dessen Stimme für die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin gebraucht wurde, manövriert von der Leyen konsequent aus.
Zu Junckers Zeiten diente die Schimäre der Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität dazu, die eigene Untätigkeit zu erklären – und zu entschuldigen – und die Ungarn-Frage zu umschiffen. Seit 2019 manövriert Orbán, dessen Stimme für die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin gebraucht wurde, von der Leyen konsequent aus – angefangen mit der Nominierung des ungarischen Kommissionsmitglieds. Nachdem er zunächst den Professor und früheren Justizminister László Trócsányi vorgeschlagen hatte, gelang es ihm, mit dem ehemaligen Botschafter Olivér Várhelyi einen echten Hardliner einzusetzen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden illiberalen Netzwerks auf dem Westbalkan bestand er darauf, dass dem ungarischen Kommisar das Erweiterungsportfolio zugeteilt würde. Nun nutzt Várhelyi dieses Spielfeld, um in Sachen Rechtsstaatlichkeit, die ja zu den EU-Beitrittskriterien zählt, maximale Verwirrung zu stiften.
Auch die spezielle Arbeitsteilung und der Mangel an klaren Zuständigkeiten in Ursula von der Leyens Kommission verhindern ein entschiedeneres Vorgehen. Dem früher für Rechtsstaatlichkeit zuständigen Kommissar Frans Timmermans wurde das Mega-Portfolio Klimawandel zugeteilt. Bei einem Kommissionsmitglied liegt die Justiz, bei einem weitere Werte und Transparenz, bei einem dritten Demokratie und Demographie. Wer letztlich zuständig ist, bleibt unklar, einmal abgesehen von der Gesamtverantwortung Ursula von der Leyens. Als es die Entscheidung des EuGH zu kommentieren galt, meldete sich ein vierter Kommissar zu Wort: der für den EU-Haushalt zuständige Johannes Hahn. Er gab zu verstehen, dass es letztlich nicht um Demokratie, Werte oder Justiz gehe, sondern um Geld.
Zwar fließen wegen des Korruptionsverdachts derzeit keine Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds nach Ungarn. Doch nach wie vor ist die Kommission nicht bereit, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen.
Zwar fließen wegen des Korruptionsverdachts derzeit keine Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds nach Ungarn. Doch nach wie vor ist die Kommission nicht bereit, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. Geholfen hätte, wenn sie im Laufe des vergangenen Jahres zumindest klargestellt hätte, dass Orbán in Ungarn Rechtsstaatlichkeit und Demokratie untergräbt und die verfassungsrechtliche Regelung mit den Normen und Standards der EU nicht vereinbar ist. Dieses Versäumnis könnte es erschweren, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, sobald pro-demokratische Kräfte die Möglichkeit haben, eine Regierung zu bilden.
Westliche Ignoranz, Untätigkeit und der Hang zu Scheinunterstützung haben in den europafreundlichen Kreisen der ungarischen Politik erhebliche Frustration ausgelöst. Schon lange vor der EuGH-Entscheidung hatten die pro-demokratischen Kräfte in Ungarn begriffen, dass sie auf sich allein gestellt waren und vonseiten bestimmter EU-Verantwortlicher keine Konsequenz erwarten konnten. Da Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn oft nicht unmittelbar mit dem EU-Haushalt in Zusammenhang stehen, ist der Mechanismus in den meisten Fällen keine Hilfe. Die demokratische Opposition sieht daher die EU weiterhin auf Orbáns Seite.
Aus ungarischer oder polnischer Sicht fiel es nie einfach, eine Rechtsstaatlichkeits–Konditionalität zu unterstützen, da damit eine Kürzung von EU-Mitteln droht, die Mitgliedsstaaten im Osten dringend benötigen. Außerdem ist diese Bedingung mit einer Doppelmoral behaftet: Sie könnte zwar gegenüber Ländern wirksam werden, die vom Strukturfonds abhängig sind, nicht aber im hypothetischen Fall, dass sich rechtsextreme Kräfte in einem Land durchsetzen, das – wie die Niederlande, Frankreich oder Italien – Nettozahler zum EU-Haushalt ist. Gleichzeitig wurde eine direkte Unterstützung pro-demokratischer Gruppen oder Medienorganisationen von der EU nie ernsthaft in Betracht gezogen.
Westliche Ignoranz, Untätigkeit und der Hang zu Scheinunterstützung haben in den europafreundlichen Kreisen der ungarischen Politik erhebliche Frustration ausgelöst.
Diese massive politische Deformation hat recht ungewöhnliche Bündnisse ins Leben gerufen. 2018 hätte eine geeinte Opposition – damals noch ohne die ehemals rechtsextreme Jobbik-Partei – ausgereicht, um eine verfassungsändernde Mehrheit für Viktor Orbán abzuwenden. 2022 braucht es nun ein breites Bündnis aus sechs politischen Parteien inklusive Jobbik und der Bewegung des konservativen Spitzenkandidaten Péter Márki-Zay, um eine erneute Zweidrittelmehrheit für Orbán zu verhindern und auch nur den Hauch einer Chance auf einen knappen Sieg über die autoritäre rechte Regierung zu haben.
Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus wird sich nicht weiter auf die ungarische Politik auswirken – zumal im Schatten des russischen Krieges gegen die Ukraine. Doch langfristig könnte er auf EU-Ebene durchaus Folgen haben. Es war ein maßgeblicher Fortschritt, als die EU die Achtung ihrer Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowie den Schutz von Minderheiten zu Beitrittskriterien erhob. Und das wird jetzt auch kontinuierlich überwacht. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass der neue Mechanismus auch rasch in die Tat umgesetzt werden kann. Orbán kann sich immer noch den Worten seines Mentors Wladimir Putin anschließen, der am 21. Februar sagte: „Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter.“
Aus dem Englischen von Anne Emmert