Boris Johnson hat überlebt, aber ziemlich knapp.

Die 148 konservativen Parlamentsmitglieder, die dem Premierminister am 6. Juni das Vertrauen verweigerten, repräsentieren 41 Prozent der Partei im Parlament und 58 Prozent der britischen Bevölkerung, wie eine Umfrage von YouGov ergab. Die Tories haben abgestimmt, um sich einen Führungswettstreit zu ersparen – nicht nur, weil es keine klare alternative Parteiführung gibt, sondern auch, weil alle potenziellen Vorsitzenden rivalisierende Fraktionen repräsentieren, die politisch erheblich voneinander abweichen.

An erster Stelle stehen dabei die „harten“ Brexit-Anhänger, die das Nordirlandprotokoll aufkündigen, einen Handelskrieg mit Europa beginnen und die radikale Deregulierung der britischen Wirtschaft vorantreiben wollen. Ihre prominenteste Anführerin ist die ehemalige Verteidigungsministerin Penny Mordaunt.

Dann gibt es die traditionellen Sozialkonservativen, die in der alten „One Nation“-Führungstradition des 19. Jahrhunderts stehen, die durch Premierminister Benjamin Disraeli geprägt wurde. Ihre Sichtweise spiegelt sich im führenden parlamentarischen Hinterbänkler Jesse Norman wider, der Johnson mitteilte, seine Behauptung, ein offizieller Bericht über Gesetzesverstöße im Rahmen wiederholtersoirées in Downing Street No. 10 würde ihn entlasten, sei „grotesk“. Norman kritisierte, die Maßnahmen und Aktionen der Johnson-Regierung ständen im Widerspruch zu „einem anständigen, echten Konservatismus: mit effektiver Teamarbeit, umsichtigen Reformen, einem Sinn für Integrität, Respekt für Rechtsstaatlichkeit sowie einem langfristigen Schwerpunkt auf das öffentliche Wohl“.

Die dritte Fraktion besteht aus den übrig gebliebenen Fürsprecherinnen und Fürsprechern eines „weichen“ Brexits. Eines ihrer prominentesten Mitglieder sprach sich kurz vor der Abstimmung offen für eine Rückkehr zum Gemeinsamen Europäischen Markt aus – was wahrscheinlich einige Rebellen zurück in Johnsons Arme getrieben hat.

Johnson bleibt im Amt, da keine der rivalisierenden Tory-Fraktionen eine Mehrheit hat.

Da keine dieser Gruppen eine Mehrheit hinter sich hat oder eine Art gemeinsame Agenda aufweisen kann, bleibt Johnson nun im Amt. Aber Normans Brief fasst die Vorwürfe gut zusammen: „Der Regierung scheint es an einer Mission zu mangeln. Sie hat eine große Mehrheit, aber keinen langfristigen Plan. Stattdessen treibt sie einfach Wahlkampf, wechselt ihre Themen und fördert hauptsächlich zum eigenen Vorteil eine politische und kulturelle Spaltung – in einer Zeit, in der die Wirtschaft leidet, die Inflation steigt und das Wachstum bestenfalls stockt.“

Am Tag nach der Abstimmung bestätigte die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ihre Prognose, die britische Wirtschaft werde im nächsten Jahr stagnieren.

Dies alles ist Johnsons Problem. Die britische Wirtschaft leidet unter den kumulierten Folgen des Brexits – Handelsunterbrechungen, Mangel an Arbeitskräften und Rohstoffen sowie 9 Prozent Inflation mit steigender Tendenz. 

Anstatt die Probleme zu lösen, die der Brexit lösen sollte, hat er sie noch verschärft.

Zum sichtbaren Symbol dieser Malaise wurden die langen Schlangen von Reisenden an europäischen Flughäfen, die nach Großbritannien zurückkehren wollen. Und das Flughafenchaos im Land selbst, das durch den Mangel an osteuropäischen und anderen migrantischen Arbeitskräften ausgelöst wurde, erzählt eine Geschichte, die niemand in der konservativen Partei hören möchte: Der Brexit ist gescheitert. Anstatt die Probleme zu lösen, die er lösen sollte – schwaches Wachstum, geringe Löhne, niedrige Qualifikationen –, hat er sie noch verschärft oder, was die Qualifikationen betrifft, bestehende strukturelle Schwächen aufgedeckt.

Großbritannien hat die neoliberalste Volkswirtschaft der industrialisierten Welt geschaffen und das Bruttoinlandsprodukt durch zusätzliche Arbeitskräfte erhöht – ähnlich wie es damals die Verwaltung der Sowjetunion getan hat, als sie angewiesen wurde, die Produktion zu steigern. Unter Margaret Thatcher hat das Land in den 1980ern mutwillig seine industrielle Grundlage zerstört, und noch heute ist der Finanzsektor so stark, dass er talentierte Absolventinnen und Absolventen der Informatik, Mathematik und Ingenieurswissenschaften abwerben kann.

Im Transportwesen und bei der Infrastruktur herrscht immer noch erheblicher Modernisierungsbedarf. Und selbst wenn die öffentliche Hand genug investieren würde, gäbe es immer noch zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte, um die Aufgabe zu erledigen – eine Folge von Thatchers Abbau des gesetzlich vorgeschriebenen sektoralen Ausbildungssystems auf der Grundlage sozialer Partnerschaft.

Kurz gesagt, trotz Johnsons Getöse passiert sehr wenig. Seine ersten zweieinhalb Jahre waren durch Versprechen und Parolen geprägt.

Er hat versprochen, die abgehängten ehemaligen Industriestädte in Nordengland „nach oben anzupassen“. Aber was davon zu sehen ist, sind hauptsächlich neue, hohe Wohnblöcke in großen Städten, die zu Spekulationszwecken gebaut wurden. Er hat versprochen, Großbritannien zu einer wissenschaftlichen und technologischen Supermacht zu machen – aber musste im letzten Monat sogar eingreifen, um den Verkauf des letzten britischen Siliziumherstellers für Mikrochips an ein chinesisches Unternehmen zu verhindern. Und obwohl Johnson und seine Ministerinnen immer bereit sind, sich als Retter der Ukraine darzustellen, wurden im Rahmen des Ajax-Programms – eines wichtigen Plans, um die Aufklärungsfähigkeit der Armee an das 21. Jahrhundert anzupassen – innerhalb von zwölf Jahren 5 Milliarden Pfund ausgegeben, ohne dass ein einziges Fahrzeug einsatzfähig wurde, weil technische Defekte zu Gesundheitsproblemen bei den Soldaten geführt haben.

Dem modernen Konservatismus mangelt es an einer politischen Philosophie.

Der Hauptgrund für diese Entwicklung ist, dass es dem modernen Konservatismus an einer politischen Philosophie mangelt. Eigentlich hätten die Konservativen gern einen schlanken Staat sowie langsame, vorsichtige und sinnvolle Veränderungen. Eigentlich würden sie die Fortschritte gern dem Markt und der „organischen Gesellschaft“ überlassen und sich weigern, irgendwelche „utopischen“ Ziele zu verfolgen. In der Praxis aber haben sie alle Krisen und Probleme mit Geld zugeschüttet, um sie zu lösen. So haben sie den Staatshaushalt ausgeblutet und 2 Billionen Dollar Schulden angehäuft.

Im März reagierte Finanzminister Rishi Sunak auf die steigenden Lebenshaltungskosten mit einem Steuergeschenk in Höhe von 10 Milliarden Pfund, und im Mai legte er noch einmal 15 Milliarden nach. Das ist so, als würde man ein kaputtes Auto volltanken, um dadurch den Motor starten zu können. Irgendwann ist der Tank voll, aber während der Motor raucht, bewegt sich der Wagen nicht. Genau an diesem Punkt steht die britische Wirtschaft knapp zwei Jahre nach dem Brexit. 

Unterdessen beginnen die Finanzmärkte, die Misswirtschaft zu quantifizieren: Das Pfund Sterling hat innerhalb der letzten zwölf Monate gegenüber dem US-Dollar 13 Prozent an Wert verloren. Und obwohl alle Zentralbanken gezwungen sind, trotz langsamen Wachstums die Zinsen zu erhöhen, schreibt Kamal Sharma, ein Stratege der Bank of America:

„Die einmalige Herausforderung für die BoE [Bank of England, britische Notenbank] besteht in einer Angebotsdynamik, über deren Grund weiterhin niemand im Land diskutieren will: den Brexit. Dies hat zu einer verwirrenden Kommunikationsdynamik geführt: Steigende Zinsen vor dem Hintergrund einer sich stark verlangsamenden Wirtschaft sind für keine Währung ein gutes Zeichen.“

Großbritannien weigert sich, sich den Problemen zu stellen, die der Brexit für den Handel und die Währung geschaffen hat.

Dass sich Großbritannien weigert, sich den Problemen zu stellen, die der Brexit für den Handel und die Währung geschaffen hat – und dass das Land weiterhin darauf besteht, Probleme kurzfristig durch Haushaltsmittel zu ersticken –, hat Sharma zu der Warnung veranlasst, das Pfund werde zunehmend als Währung mit den „Eigenschaften eines Schwellenlandes“ wahrgenommen.

Angesichts der Pandemie, der Energiekrise und der immer stärkeren Erkenntnis, dass wir vor einem Klimachaos stehen, haben sich die Regierungen in aller Welt neue öffentliche Ziele gesetzt. Und obwohl alle Formen des Konservatismus Mühe hatten, sich anzupassen, hätten die britischen Konservativen die Führung übernehmen können.

Johnson ist von seinem Instinkt her ein großer Staatslenker. Aber er konnte die staatliche Maschinerie und die stockende Marktwirtschaft nicht dazu bringen, Erfolge zu erzielen – zum Teil, weil er genau die Institutionen ablehnt, die dies in den erfolgreichen Volkswirtschaften der Europäischen Union ermöglichen: Institutionen, die für soziale Partnerschaft, regionale und nationale Industrieplanung sowie staatliche Investitionsanreize zuständig sind.

Selbst im Bereich der Elektrofahrzeuge, wo Johnson von „Gigafabriken“ zur Herstellung von Batterien schwadroniert hat, kann Großbritannien mit den 6 Milliarden Euro an Subventionen, die in Kontinentaleuropa zum Anschub des Sektors geplant sind, nicht mithalten.

Ein großer Staatslenker zu sein, ohne zu lenken, ist keine gute Sache.

Ein großer Staatslenker zu sein, ohne zu lenken, ist keine gute Sache. Noch schlimmer ist es, in einem großen kontinentalen Wirtschaftssektor, der auf Lenkung angewiesen ist, derart an der Seitenlinie zu stehen. Und sich dann auch noch ohne jeden sinnvollen Plan von diesem Kontinent abzutrennen, verdreifacht das Problem.

Dieses Problem wird Johnson letztlich das Amt kosten. Die Wähler erkennen immer mehr, dass sich hinter seinem Getöse und seinen Clownereien nur heiße Luft und mangelnde Kompetenz verstecken.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff