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In Polen ist der regierenden PiS-Partei das Kunststück gelungen, sich ohne Not in eine Situation zu bringen, in der keine gute Lösung in Sicht ist. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die weitestgehende Abschaffung des legalen Schwangerschaftsabbruchs durch das Verfassungsgericht am 22. Oktober. Auf Antrag von 119 konservativen Abgeordneten verschiedener Fraktionen des Parlaments (Sejm) schaffte das von PiS-nahen Juristen dominierte Gericht die seit 1993 bestehende Möglichkeit ab, Schwangerschaften nach der Feststellung einer schweren Erkrankung oder Behinderung des Fötus abzubrechen. Auf dieser Diagnose beruhen fast alle legalen Abtreibungen in Polen. Diese Möglichkeit widerspreche dem in der Verfassung formulierten prinzipiellen Schutz des menschlichen Lebens, so das Gericht.

Seit Anfang vergangener Woche kommt es daraufhin zu Massenprotesten im ganzen Land, an denen regelmäßig zehn- bis hunderttausende Protestierende teilnehmen. Viele Beobachter zeigten sich überrascht davon, wie flächendeckend die Proteste sind. Sie finden nicht nur in den Groß- und Universitätsstädten statt, sondern auch in Kleinstädten und Dörfern. Alleine am 30. Oktober sollen 800 000 Menschen auf der Straße gewesen sein, so Schätzungen. Die Proteste erfassen auch jene Gebiete im Süden und Osten, in denen die PiS bei Wahlen regelmäßig haushohe Mehrheiten erzielt.

Die Umfragen sind eindeutig: Nicht nur eine klare Mehrheit der Polinnen und Polen insgesamt lehnt das Urteil des Verfassungsgerichts ab (73 Prozent), sondern auch 67 Prozent der Menschen, die sich selbst als gläubig bezeichnen. 54 Prozent der befragten Gläubigen, so eine Umfrage für die Gazeta Wyborcza,  solidarisiert sich mit den Demonstrierenden. Damit stellt sich eine Mehrheit der aktiven Katholiken gegen die Haltung der Bischofskonferenz, die die Entscheidung des Verfassungsgerichts mit „großer Freude“ entgegennahm. Auch die Wählerinnen und Wähler der PiS sind gespalten: 37 Prozent von ihnen erklären sich mit dem Urteil zufrieden, 36 Prozent sprechen sich dagegen aus.

Für die Regierungspartei stellen die Entwicklungen der letzten Tage ein riesiges Problem dar. Sollte es tatsächlich die Hoffnung des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński gewesen sein, mit dem Urteil von den Problemen der Regierung beim Management der zweiten Welle der Corona-Epidemie abzulenken, so ist dieses Spiel gründlich danebengegangen. Nicht nur die Umfragewerte der PiS rauschen seit dem 22. Oktober in den Keller, sondern auch die Zustimmungswerte für ihre führenden Politiker, einschließlich Präsident Duda und Premier Morawiecki. Besonders hart trifft es aber Kaczyński selbst: Am Wochenende schätzen nur noch 14,3 Prozent der Befragten die Arbeit des PiS-Vorsitzenden und Vize-Premiers als gut ein, 67 Prozent für schlecht. 70 Prozent der Bevölkerung, und immerhin 38 Prozent der PiS-Anhänger wünschen einen Rückzug Kaczyńskis vom Amt des PiS-Vorsitzenden.

Damit stellt sich eine Mehrheit der aktiven Katholiken gegen die Haltung der Bischofskonferenz.

Ursache dieser persönlichen Image-Katastrophe Kaczyńskis ist nicht nur das Urteil selbst, sondern die Art und Weise, wie der 71-Jährige angesichts des Konflikts agierte. In einer Video-Erklärung definierte er die Auseinandersetzung zu einem Kampf um die Identität Polens und die Verteidigung der katholischen Kirche um. Diese gelte es vor den Angriffen der Abtreibungsbefürworter zu schützen. Im Parlament bezeichnete der die Opposition als „Verbrecher“, da sie mit der Unterstützung die Ausbreitung des Corona-Virus und damit den Tod von Menschen befördere. Der Trick mit Patriotismus und Loyalität zur Kirche – der in vergangenen Wahlkämpfen immer wieder gut funktionierte – scheint diesmal aber nicht zu verfangen. Viele Medienkommentare kritisierten Kaczyński für den (erneuten) Versuch, das Land zu spalten und Öl ins Feuer zu gießen, statt nach einer Lösung zu suchen.

Aus dem durch das Verfassungsgerichtsurteil geschaffenen Dilemma gibt es für die Regierenden Polens so gut wie keinen Ausweg. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt das Urteil ab und wünscht die Wiederherstellung des Status quo ante oder eine weitergehende Liberalisierung. Vor allem die polnische Jugend mobilisiert massiv gegen das Urteil. Viele Beobachter vermuten, dass diese Demonstrationen eine ähnliche identitätsstiftende Wirkung entfalten könnten, wie die Solidarność-Bewegung und das Kriegsrecht Anfang der 80er Jahre eine ganze Generation politisch mobilisiert und geprägt hatten.

Die junge Generation wird für die PiS so schnell nicht mehr zu erreichen sein. Zudem dürfte das Urteil noch etwas weiteres bewirkt haben: Während bisher die Reformen im Justizsektor von der Mehrheit der polnischen Wählerinnen und Wähler relativ indifferent betrachtet wurden, wurde nun einer ganzen Generation junger Menschen schlagartig sehr deutlich gemacht, dass die politische Umfärbung der Gerichte des Landes keine abstrakte Sache ist, sondern durchaus massive  Auswirkungen auf das Leben der Bürger haben kann.

 Auf der anderen Seite stehen die katholische Amtskirche und der fundamental katholische Teil der Gesellschaft, die zu keinerlei Konzessionen in der Abtreibungsfrage bereit sind. Sie lehnen jede Form des Schwangerschaftsabbruchs – im II. Vatikanischen Konzil als „verabscheuungswürdiges Verbrechen“  bezeichnet – ab. Ein sogenannter Kompromissvorschlag des Staatspräsidenten Andrzej Duda – der den Abbruch im Falle von tödlicher und unheilbarer Schädigung des Fötus doch ermöglichen soll – wird von beiden Seiten abgelehnt und droht die ohnehin nicht sehr stabile Regierungsfraktion zu spalten.

Der Trick mit Patriotismus und Loyalität zur Kirche – der in vergangenen Wahlkämpfen immer wieder gut funktionierte – scheint diesmal aber nicht zu verfangen.

Der Großteil der Abgeordneten, die den Annullierungs-Antrag beim Verfassungsgericht einbrachten, stammt schließlich aus den Reihen der PiS-Fraktion. Auch die Oppositionsparteien werden, so ihre Erklärung, diese Initiative nicht unterstützen. Im Moment scheint man zu versuchen, auf Zeit zu spielen und das Urteil erst einmal nicht im Gesetzesblatt zu veröffentlichen – in der Hoffnung, doch noch irgendeine Kompromissformel zu finden. Diese wird sich im Zweifelsfall wohl am ehesten auf die Frage der Diagnose Trisomie 21 (Down-Syndrom) konzentrieren. Auf dieser Diagnose beruhen bisher ca. 35 Prozent der jährlich ca. 1000 Abtreibungen in Polen. Bei diesem Thema ist die Möglichkeit der Abtreibungsgegner, für eine Verschärfung der Bedingungen zu werben, wahrscheinlich am größten.

Daher werden sie sich auf diesen Aspekt  – das deuten auch Äußerungen des Premierministers an – konzentrieren. Dennoch wird es auch für die katholische Kirche keinen guten Ausweg aus der Krise geben. Die ohnehin laufende Abwendung der jüngeren Generation von der Kirche wird durch diesen Konflikt nur beschleunigt werden. Vor einigen Wochen hatte Jarosław Kaczyński in einem Interview mit dem konservativen Magazin Sieci noch davor gewarnt, dass Polen den Weg Irlands gehen könnte – ein Land, das sich in einer relativ kurzen Zeit von einer tief katholischen zu einer liberal-säkularen Gesellschaft wandelte. Mit dem grünen Licht für eine fundamentalistisch-katholische Interpretation der Verfassung dürfte Kaczyński diesen Prozess selbst erheblich beschleunigt haben.

Eine kurzfristige Befriedung der Situation ist unter diesen Umständen schwer vorstellbar. Zwar haben die Proteste bisher noch lange nicht die  Dimension und Schärfe etwa der Gelbwesten-Proteste in Frankreich erreicht. Aber die gesellschaftliche Solidarität mit den Demonstrierenden ist offenkundig und geht quer durch die sozialen und kulturellen Milieus.

Für die meisten der jungen Menschen geht es um mehr als um die Frage der Abtreibung mit medizinischer Indikation: Für sie geht es um Selbstbestimmung, Gewissensfreiheit und die Überwindung paternalistischer Kontrolle durch Institutionen, denen diese Generation das Recht dazu nicht mehr einräumen will – egal, ob es sich um Politiker oder Geistliche handelt. Die jungen Polinnen und Polen, so ein Kommentator in der liberalen Gazeta Wyborcza, hätten keine Lust mehr darauf, dass Politiker und Kleriker „in ihre Betten und zwischen ihre Beine schauen“.

Eine Delegitimierung dieser Bewegung wird weder den von der PiS kontrollierten staatlichen Medien noch der Kirche gelingen, sondern sie kann momentan nur durch die Protestbewegung selbst verursacht werden. Bisher konnte sich die PiS eigentlich immer ganz gut darauf verlassen, dass sich ihre Gegner selbst in die Füße schießen. Auch diesmal scheint es nicht ausgeschlossen, dass sich die Protestbewegung selbst am meisten schädigt. Sie müsste Formen des Protests finden, die Rücksicht nehmen auf die aktuelle Angst der Gesellschaft vor einer Explosion der Corona-Zahlen und auf die grundsätzliche Nähe vieler Menschen zum katholischen Glauben.

Die jungen Polinnen und Polen haben keine Lust mehr darauf, dass Politiker und Kleriker „in ihre Betten und zwischen ihre Beine schauen“.

Es geht um die Gestaltung des Abtreibungsrechts, nicht um eine Generalabrechnung mit der PiS. Verschiedene Forderungen etwa der Gruppe „Strajk Kobiet“ (Frauenstreik), die bei der Organisation der Proteste eine koordinierende Rolle spielt, gehen aber eher in diese Richtung, so etwa die Forderung nach einem Rücktritt der Regierung. Immerhin ist es der Protestbewegung gelungen, die anfänglich stark antiklerikalen Töne und Aktionen wie Kirchenbesetzungen und die Unterbrechung von Gottesdiensten zu dämpfen.

Inkonsistent agiert auch die liberale Opposition. Der PO-Vorsitzende Borys Budka sieht das Parlament paradoxerweise nicht in der Verpflichtung, eine gesetzliche Lösung zu finden. Die Parlamentarier hätten nicht das Recht, „über die Köpfe der Frauen“ hinweg Lösungen zu finden, die Regierung solle mit „den Frauen“ reden. Es erscheint fraglich, ob diese von taktischem Populismus geprägte Wahrnehmung der Aufgaben eines Parlaments der Sache der Abtreibungsbefürworter letztlich wirklich hilft. Weit konsequenter ist hier die Fraktion der Linken: „Lewica“ hat angekündigt, eine auf der Fristenlösung basierende Gesetzesinitiative ins Parlament einbringen zu wollen.

Im Moment ist davon auszugehen, dass Polen einem heißen Winter entgegengeht. Wie heiß, wird sich zeigen. Immerhin haben am 1. November 210 pensionierte Generäle und Admiräle verschiedener Waffengattungen sowie der Polizei und anderer „uniformierter Dienste“ einen offenen Brief veröffentlicht, in der sie ihre Befürchtung äußern, dass „eine weitere Eskalation der Aktionen, der Stimmungsmache und ein verantwortungsloses Verhalten der Politiker“ doch noch zu Blutvergießen führen könnten.

Im Moment ist die Stimmung allerdings eine andere. Die Demonstrationen haben vielfach den Charakter von Happenings, das politische Comingout einer Generation, die unter ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen aufgewachsen ist, die denen Westeuropas immer ähnlicher sind. Entsprechend schreiten auch Liberalisierung und Säkularisierung voran: Langsamer, aber grundsätzlich nicht anders als in Westeuropa. Dass dies so ist, ist paradoxerweise auch ein Verdienst der PiS, die das Land unter ökonomischen und sozialen Kriterien in den letzten Jahren sehr erfolgreich regiert hat. Die tektonischen Verschiebungen in der weltanschaulichen und kulturellen Prägung der polnischen Wohlstandsgesellschaft werden sich langfristig nicht stoppen lassen.