Am kommenden Sonntag wählen Polinnen und Polen den neuen Sejm sowie den Senat, die beiden Kammern des polnischen Parlaments. Diese Wahlen bieten die Chance, die seit acht Jahren andauernde Zerstörung der Demokratie durch die nationalistische Regierung in einem der größeren EU-Staaten aufzuhalten. Die Wählerinnen und Wähler entscheiden nicht nur darüber, in welche Richtung sich der polnische Staat entwickelt. Sie werden auch eine Antwort auf die Frage geben, ob – in den dramatischen Zeiten des Krieges in der Ukraine und eines wachsenden Rechtspopulismus in Europa – von Polen ein Zeichen der Hoffnung auf demokratische Erneuerung ausgeht und ob die Idee der europäischen Solidarität stärker ist als Rassismus und Nationalismus.

„Verschlafe nicht, sonst wirst Du überstimmt!“ – die Übernahme des historischen Slogans der Solidarność-Bewegung von 1989 durch die heutige Opposition ist symbolhaft. Die Solidarność-Legende Lech Wałęsa und die meisten seiner Weggefährtinnen und Weggefährten kritisieren seit Jahren die Zerstörung des Rechtsstaats und die antieuropäische Politik der Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Sie sehen die von der Solidarność erkämpfte liberale Demokratie und die Westbindung Polens gefährdet. Auch Aktivistinnen und Aktivisten der Frauenbewegung, Richterinnen und Richter sowie die LGBTQ+-Gemeinschaft nutzten in den vergangenen Jahren Symbole der friedlichen Revolution von 1989, um gegen die autoritäre Politik der PiS zu protestieren.

Seit dem Wahlsieg der PiS und ihres Präsidenten Andrzej Duda im Jahr 2015 findet in Polen eine schleichende Revolution von rechts statt.

Seit dem Wahlsieg der PiS und ihres Präsidenten Andrzej Duda im Jahr 2015 findet in Polen eine schleichende Revolution von rechts statt. Vor acht Jahren versprach die PiS ihren Anhängern eine neue Republik: Die politische Elite sollte ausgetauscht und Medien, Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft nationalisiert werden. Der durch angebliche „faule“ Kompromisse zwischen dem kommunistischen Regime und Solidarność-Führer Wałęsa 1989 am Runden Tisch entstandene postkommunistische Staat sollte durch eine „echte polnische“ Republik ersetzt werden, die gegenüber Ex-Kommunisten kompromisslos ist. Nach dem Vorbild der nationalistischen Revolution von Victor Orbán in Ungarn wurde Polen mit Unterstützung von Präsident Andrzej Duda in eine zweite illiberale Demokratie in Mitteleuropa verwandelt.

Die europäische Öffentlichkeit hat vor allem den Abbau der Unabhängigkeit von Gerichten und Staatsanwälten in Polen registriert. Der Umbau der Justiz blieb aber nicht die einzige gegen die Normen der Demokratie gerichtete Maßnahme. Ein weiterer Schritt war die Schwächung des Parlaments. In einem bislang unbekannten Tempo wurden Gesetze ohne die üblichen Beratungsmechanismen vom Sejm verabschiedet. Die PiS kontrolliert heute nicht nur die Armee, die Polizei, den Grenzschutz und die Sicherheitsdienste, sondern übernahm auch die absolute Kontrolle über alle staatlichen Unternehmen, Medien und Kulturinstitutionen. Zudem kaufte die PiS mit Hilfe des staatlichen Energiekonzerns Orlen regionale Medien. Mit dem Erwerb privater Medien und der Beeinflussung der Redaktionen durch Anzeigenpolitik kontrolliert sie den Informationsfluss und prägt vor allem den öffentlichen Diskurs mit einer von Hass und Feindbildern geprägten Sprache.

Im Mittelpunkt dieser Hasspropaganda steht nicht nur die demokratische Opposition samt ehemaligem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, sondern auch der „dekadente, multikulturelle Westen“ und die Europäische Union, die angeblich von einem neoimperialen Deutschland kontrolliert wird. Die PiS suggeriert, Berlin strebe mit Hilfe der europäischen Integration die Herrschaft über den Kontinent an. Ein neues Deutsches Reich im europäischen Gewand sei im Entstehen, vor dem sich Polen schützen müsse. Das antipolnische Deutschland fördere auch unkontrollierte Migration aus dem Süden, um europäische Nationalstaaten zu schwächen.

Deutschland und Migration, das sind zwei der Obsessionen des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński.

Deutschland und Migration, das sind zwei der Obsessionen des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński. Mit diesen zwei Feindbildern schürt die Partei Angst, um sich selbst als Garant nationaler Sicherheit darzustellen. Gleichzeitig werden mit Steuergeldern rechtsextreme Organisationen unterstützt und gemeinsam mit Orbán wird ein Netzwerk der europäischen Feinde der offenen Gesellschaft aufgebaut. Die PiS kooperiert mit rechten, antieuropäischen Parteien, etwa Vox in Spanien oder dem Rassemblement National in Frankreich; Donald Trump und die britischen EU-Gegner werden bewundert. Das Paradoxe an dieser Politik ist, dass die russlandfeindliche PiS Bündnisse mit Putins rechten Verbündeten schmiedet, etwa mit Marine Le Pens  Rassemblement. Diese nationalistischen Allianzen und der Angriff auf die Demokratie haben Polen in den vergangenen Jahren in die außenpolitische Isolation geführt.

Auf die Erosion der Rechtsstaatlichkeit reagierte die Europäische Union mit der Blockade europäischer Fördergelder für den Wiederaufbau von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Pandemie. In einer für die polnische Demokratie gefährlichen Situation, in der die PiS die Gewaltenteilung aushebeln wollte, um die Kontrolle über den Staat zu übernehmen, konnte vor allem mit Hilfe des EU-Parlaments und der europäischen Gerichte eine wirksame Kontrolle der Exekutive in Polen gesichert werden. Wie Brüssel zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit antrat, beweist, dass die Europäische Union im Kern nicht nur eine Wirtschafts-, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft ist. Dies ist für Europa ein wichtiges Signal, das auch von polnischen Gegnerinnen und Gegnern der PiS begrüßt wird. Bei den Polinnen und Polen gewann die EU so an Ansehen. Der Krieg gegen die Ukraine hat zudem die Bindung der polnischen Gesellschaft an die westliche Gemeinschaft gestärkt, vor allem an die NATO, aber auch an die EU. Für die PiS ist es nun schwerer geworden, europäische Verträge in Frage zu stellen.

Eine Chance für die Partei, sich aus der Isolation zu befreien, eröffnete Wladimir Putins zweiter Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Polens Staat und Gesellschaft zeigten sich kompromisslos gegenüber dem Moskauer Neoimperialismus und solidarisch gegenüber dem ukrainischen Nachbarn. Polen nahm über eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge auf. Vor allem die Hilfe aus der Zivilgesellschaft beeindruckte in ihrer Dimension, die an die Zeiten der großen Solidarność-Bewegung erinnerte. Anderthalb Jahre nach der zweiten Invasion ist die Unterstützung Polens für die Ukraine weiterhin groß, doch es zeigen sich Risse im Bündnis. Die PiS ist nicht fähig, ihre nationalistischen Instinkte gegenüber der Ukraine zu unterdrücken. Polens Regierung blockiert ukrainische Getreideexporte, um sich die Unterstützung der polnischen Bauernschaft zu sichern. Zudem werden polnisch-ukrainische Gegensätze in der Erinnerungskultur wieder aufgewärmt, um rechtsextreme Wähler zu binden.

Am rechten Rand wächst eine starke Konkurrenz zur PiS.

Denn am rechten Rand wächst eine starke Konkurrenz zur PiS: die „Konföderation“ (Konfederacja). Dieses Bündnis mobilisiert vor allem junge männliche Wähler aus der Mittelschicht. Konfederacja ist extrem nationalistisch und gegen die europäische Integration. Sie pflegt einen libertären, sozialstaatsfeindlichen Individualismus und macht Stimmung gegen ukrainische Flüchtlinge. Bei den kommenden Wahlen kann das Bündnis sogar mit zehn Prozent der Stimmen rechnen und eine entscheidende politische Kraft bei der Regierungsbildung werden. Doch so einfach will sich die PiS nicht rechts überholen lassen. Mit ihrer rassistischen Politik versucht sie, die eigenen Anhängerinnen und Anhänger zu mobilisieren. Am Tag der Parlamentswahlen lässt sie ein Pseudo-Referendum abhalten, bei dem sie die Abweisung von Migration und der europäischen Zusammenarbeit in der Verteilung von Flüchtlingen in den Mittelpunkt stellt. Doch reicht das Schüren von Angst vor Migrantinnen und Migranten, um im Sejm wieder stärkste politische Kraft zu werden, selbst in einer möglichen Koalition mit Konfederacja?

Der gesellschaftliche Widerstand gegen die nationalistische Politik ist in den vergangenen Monaten in Polen enorm gewachsen. Die Filmregisseurin Agnieszka Holland hat in weniger als einem Jahr ein filmisches Meisterwerk geschaffen, dass die menschenverachtenden Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze dokumentiert. Hollands Spielfilm Die grüne Grenze ist eine Kritik an der fehlenden Humanität der polnischen und europäischen Politik gegenüber Flüchtenden – in Polen ist es das kulturelle Ereignis des Jahres und ein Kassenerfolg in den Kinos. Die PiS-Propagandamaschine hat mit ihren massiven Angriffen auf Holland zu einer Solidaritätswelle mit der Regisseurin geführt.

Jeden Tag beweisen die von der PiS kontrollierten staatlichen und privaten Medien mit ihrer massiven Desinformation gegen die Opposition nicht nur, wie groß die Angst der Kaczyński-Partei vor dem Regierungsverlust ist, sondern auch wie verzerrt die Wettbewerbsbedingungen für Parteien in Polen sind. Polens Ombudsmann für Bürgerrechte Adam Bodnar charakterisierte in einer Rede im polnischen Sejm 2020 den polnischen Staat unter der PiS-Regierung als „kompetitiven, elektoralen Autoritarismus“. In einem solchen politischen System ist die Opposition stark eingeschränkt. Wahlen können aber auch im kompetitiven, autoritären Staat die Chance bieten, die Legitimation der Regierenden in Frage zu stellen, so wie dies am 4. Juni 1989 der Solidarność-Bewegung gelang.

Das politische Klima in Polen erinnert heute wieder an eine friedliche, demokratische Revolution.

Das politische Klima in Polen erinnert heute wieder an eine friedliche, demokratische Revolution. Am 1. Oktober gelang es Oppositionsführer Donald Tusk, rund eine Million Menschen in Warschau zu versammeln, um gegen die Zerstörung der Demokratie zu demonstrieren. Es war die größte politische Massenveranstaltung in Polen nach 1989. Der Liberale Tusk und auch seine Partner von der Linken haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und verstanden, dass Polen heute nicht nur starke Parteien braucht, sondern politische Bündnisse mit tiefer Verwurzelung in der Zivilgesellschaft. Das war die große Schwäche sowohl der sozialdemokratischen Vorgängerregierungen als auch der liberalen Parteien in Polen.

Seit über einem Jahr reisen Oppositionspolitiker nun durch Polen und stellen sich dem Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Tusks Bürgerkoalition ist gestärkt und es hat gemeinsam mit der Linken und dem demokratisch-konservativen Bündnis von Szymon Hołownia und der Bauernpartei PSL die Chance, eine neue parlamentarische Mehrheit zu bilden. Das Ziel ist es, die liberale Demokratie wiederherzustellen, Polens Ansehen in der EU zurückzugewinnen und auch die Demokratie in Europa zu fördern. Polen könnte zu einem demokratischen Leader in der EU aufsteigen. Könnte – denn die Umfragen sehen ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den nationalistischen Parteien und der proeuropäischen Opposition voraus.

Auch ein Sieg der PiS und eine Regierungsbildung mit der nationalpopulistischen Konfederacja sind in Reichweite. Dann droht Polen dem Weg Victor Orbáns zu folgen und die Konsolidierung des autoritären politischen Systems voranzutreiben. Polen, die Slowakei und Ungarn würden dann einen starken antieuropäischen nationalistischen Block im Herzen Europas bilden. Der Sieg der Solidarność von 1989 und der Erfolg der Demokraten wäre dann zunichtegemacht. Russlands Diktator Putin könnte sich dann über die Schwächung des demokratischen Europas freuen.