Wie jedem guten Geschichtsbuch zu entnehmen ist, endete der italienische Faschismus in den letzten Apriltagen des Jahres 1945. Am 27. April wird der Tross Benito Mussolinis nahe der Ortschaft Dongo von kommunistischen Partisanen aufgehalten, die den Duce samt seiner Geliebten Clara Petacci erschießen, die Leichen nach Mailand überführen und dort kopfüber am Dach einer Tankstelle aufhängen. Nur wenige Tage später kapituliert Verteidigungsminister Rodolfo Graziani mit den ihm verbliebenen Streitkräften und beendet so das kurze Dasein der 1943 als deutscher Marionettenstaat errichteten Republik von Salò, die Pier Paolo Pasolini Jahrzehnte später als zeithistorische Kulisse seiner Adaption der 120 Tage von Sodom dienen sollte. Es folgt eine Zeit der Umbrüche: Abschaffung der Monarchie, Verfassungsreform, europäische Integration.
Doch da Ideologien nie so ganz sterben wollen, kehrt der verfemte Faschismus alsbald als Neofaschismus wieder. Schon hier ist der Unterschied augenfällig, denn die einstige Massenbewegung ist zu einer diffusen Ansammlung von Gruppen und Grüppchen zusammengeschrumpft, die im von der Democrazia Cristiana beherrschten Italien der Nachkriegszeit kein parlamentspolitisches Bein auf den Boden bekommen. Mehr und mehr sind es ohnehin die Kommunisten, die der jungen Republik zu schaffen machen und während der Bleiernen Jahre – in denen sich Rechts- und Linksterror die Klinke in die Hand geben – den ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro ermorden.
Eine wirkliche Entspannung tritt erst mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ein, in dessen Folge sich Italien den ideologischen Normalverhältnissen Westeuropas annähert. Mögen die parteipolitischen Konstellationen auch wackeln (die Democrazia Cristiana löst sich 1994 auf und wird funktional vom Popolo della Libertà des jüngst verstorbenen Silvio Berlusconi ersetzt): Es gibt eine rechte und eine linke Mitte, die um das Amt des Ministerpräsidenten ringen. Und ein paar kleinere Parteien, die dabei wahlweise sekundieren.
Bald schon spricht alle Welt von den sinistren Vergangenheitsbezügen der Römerin.
Ab den Zehnerjahren dreht sich das politische Karussell in Rom indes wieder schneller. Erst das im Zuge der Eurokrise eingesetzte Technokratenkabinett Monti, dann der Aufstieg und Fall der Fünf-Sterne-Bewegung sowie der Lega und 2022 schließlich der Triumph einer Kraft, die sich bis dato im niedrigen einstelligen Prozentbereich bewegt hatte: der Fratelli d’Italia. Keine zehn Jahre ist die Partei damals alt, doch aufgrund ihrer Positionen und einer Geschichte, die über die Alleanza Nazionale und den Movimento Sociale Italiano bis zum Neofaschismus der Nachkriegszeit reicht, bereits mit einem gewissen Ruch behaftet.
Gianfranco Fini, der den Movimento in den Neunzigerjahren erst entideologisierte und dann zur Alleanza umformte, hatte man einst das Label „postfaschistisch“ umgehängt; der Fratelli-Vorsitzenden und designierten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ergeht es nun ähnlich. Bald schon spricht alle Welt von den sinistren Vergangenheitsbezügen der Römerin und ergeht sich in dunklen Ahnungen.
Hinterfragt wird dieses Urteil kaum, obwohl es einige Tücken birgt, die man mit etwas Distanz auch als Defekte bezeichnen könnte. Denn post verweist ja (anders als neo) zunächst nur auf eine Nachgeordnetheit und kann je nach Kontext auch eine Abkehr anzeigen. (Ein Beispiel ist der Begriff „postmodern“, der ja bekanntlich auf die Überwindung der Moderne und ihres Fortschrittsglaubens zielt.) Zu sagen, eine Partei sei postfaschistisch, bedeutet insofern lediglich, dass es irgendwann einmal einen Faschismusbezug gegeben hat, der jetzt aber nicht mehr unbedingt da ist; zumindest nicht in einer Form, die es erlauben würde, ihn weiter als solchen zu benennen. Aus ideengeschichtlicher Perspektive mag das durchaus interessant sein, für politische Realanalysen ist es aber ein reichlich dünnes Brett. Zielführender wäre da schon zu fragen, welche Rolle die besagte Partei im politischen System einnimmt, wer sie wählt und wie es um ihre Koalitions- und Regierungstauglichkeit bestellt ist.
In den USA trägt Donald Trump bereits seit seinen ersten Unflätigkeiten den Faschistenstempel.
Im Falle der Fratelli kommt der unangenehme Verdacht hinzu, dass das Label primär zu Delegitimierungszwecken gebraucht wird und vielerorts als optional zu gelten scheint. „Eine Postfaschistin lullt Europa ein“, warnte etwa Oliver Meiler in einem Süddeutsche-Artikel vor Meloni und setzte raunend hinzu, man solle sich von ihrer vermeintlichen Harmlosigkeit „nicht täuschen lassen, die Flamme des Faschismus lodert noch“. Die Vorsilbe, so der Subtext, kann man sich im Grunde auch sparen. Sie ist bloß eine Maske, hinter der sich bei näherer Betrachtung der ewig gleiche, vergangenheitssehnsüchtige Abgrund auftut.
In der taz ist man weniger subtil und legt sie mit einer dramatischen Beschwörung des italienischen „Girl Boss Fascism“ gleich ganz zu den Akten. Eins, zwei, drei – und schon wird aus dem wolkigen Postfaschismus, den niemand so recht definieren kann, ein stahlharter Gegenwartsfaschismus und aus den Fratelli die jüngste Inkarnation von Mussolinis Partito Nazionale Fascista.
Zugegeben: Überraschend sind diese begrifflichen Winkelzüge kaum, erlebt der Faschismusvorwurf derzeit doch über alle Lager hinweg eine veritable Renaissance. In den USA trägt Donald Trump bereits seit seinen ersten Unflätigkeiten den Faschistenstempel, spielt den Ball aber gerne zurück und lässt sich seinerseits regelmäßig über die ihn attackierenden Faschisten aus. Nicht viel anders ist die Lage auf dem alten Kontinent, wo „faschistisch“ zum Allerweltsmarker geraten ist, zur in Wortform gegossenen reinen Negativität, die den Sud der diversen Populismen, Nationalismen und Autoritarismen abrundet.
Zielführend ist dieser Allzweckgebrauch selten. Vielmehr ist das „allzu leichtfertige Hantieren“ mit dem Term „sowohl kontraproduktiv als auch geschichtsvergessen“, wie es Michael Bröning Anfang des Jahres in einem klugen Kommentar auf den Punkt brachte. Denn „niemand ist Faschist, wenn es alle sind“. Und niemand nimmt einen Vorwurf ernst, der Außenstehenden entweder als Übertreibung oder aber als Hieb unter die meinungskämpferische Gürtellinie erscheinen muss.
Beim Thema Fluchtmigration wird zwar ein restriktiver Kurs verfolgt, aber längst nicht mit dem Eifer der Conte-Zeit.
Zieht man nach einem Jahr postfascism in power Zwischenbilanz, muss man jedenfalls feststellen, dass bisher noch keine grimmigen Fratelli-Schwarzhemden die Straßen Roms entlangdefilieren. Stattdessen tut die Regierung Meloni vor allem das, was man in Abwesenheit einer christdemokratischen Alternative auch von jeder anderen Mitte-rechts-Allianz erwarten könnte: Sich an Strukturreformen abarbeiten, Entlastungen für Kleinunternehmer sowie Sozialhilfekürzungen auf den Weg bringen, industriepolitisches Gegenfeuer auf EU-Ebene ablassen und dem französischen Nachbarn auf die Zehen steigen.
In Sachen Ukrainekonflikt gibt man sich, allen Bedenken über die vermeintliche Russophilie der Regierungschefin zum Trotz, gar vorbildlich solidarisch. Und beim Thema Fluchtmigration wird zwar ein restriktiver Kurs verfolgt, aber längst nicht mit dem Eifer der Conte-Zeit, als der inzwischen auf das Ressort für Infrastruktur und Verkehr zurückgestutzte Matteo Salvini einen schier endlosen Privatkrieg mit diversen Seerettungsorganisationen führte.
Vor diesem Hintergrund wäre statt vom faschistischen Dämon im postfaschistischen Gewand eher von business as usual zu sprechen, betrieben von einer Ministerpräsidentin, die alles andere als die stumpfe Europafeindin ist, als die sie hierzulande oft überzeichnet dargestellt wird. Vielmehr weiß sie ihre Landsleute mit der gleichen Mischung aus Volkstümlichkeit, Wendigkeit, Härte und Instinkt für sich einzunehmen, die schon Berlusconi zum Stehaufmännchen des italienischen Parteienwesens geraten ließ. Das gefällt natürlich nicht allen, schon gar nicht denen, die zur Bestätigung des eigenen Weltbilds lieber tatsächlich eine ungeschlachte Radikale an der Macht gewusst hätten.
Doch woran Europa vor allem anderen gelegen sein muss, ist stabile und konfliktarme Regierungsführung auf der Apenninhalbinsel. Gelingt es Meloni, diese auch künftig zu gewährleisten, dann könnte sie sich am Ende noch als unerwarteter Gewinn herausstellen. Und womöglich für etwas weniger ideologische Schnappatmung sorgen.