Viele Däninnen und Dänen mussten sich in den Arm kneifen, als sie am vergangenen Mittwoch zum ersten Mal den sichtbaren Beweis dafür bekamen, was sich über sechswöchige Regierungsverhandlungen angebahnt hatte: Die Sozialdemokratin Mette Frederiksen in roter Jacke flankiert von den zwei blau gekleideten Herren Jakob Ellemann-Jensen von den bürgerlich-liberalen Venstre und Lars Løkke Rasmussen von den neugegründeten Moderaterne. Vor wenigen Monaten noch politische Erzfeinde – heute fröhliche und stolze Gründer der ersten Großen Mehrheits-Koalition seit 1993 in Dänemark.
Mit einem 60-seitigen, detaillierten Plan, der sowohl „rote“ als auch „blaue“ Markenzeichen beinhaltet, und einer Machtverteilung, durch die Ellemann-Jensen Vize-Staatsminister und Verteidigungsminister sowie Løkke Rasmussen Außenminister werden, scheinen alle drei rundum zufrieden zu sein. So konnte Mette Frederiksen ihre Ambitionen am Leben halten, als eine der „großen“, mehrfachen dänischen Regierungschefs gesehen zu werden, und gleichzeitig das über 100-jährige machtvolle, historische Erbe der dänischen Sozialdemokraten mit in die Zukunft zu retten.
Um dies zu erreichen, musste die 45-Jährige aus der Defensive kommen. Seit dem sogenannten „Nerz-Skandal“, als ihre Regierung zu Pandemiezeiten die ungesetzliche Keulung sämtlicher Zucht-Nerze in Dänemark befohlen hatte, stand sie unter ständigem Beschuss, auch von Unterstützerparteien ihrer damaligen Minderheitsregierung, welche sie im Herbst dazu zwangen, vorgezogene Parlamentswahlen auszuschreiben. Im Wahlkampf erlebten die Dänen eine „neue“ Mette Frederiksen – nicht mehr die ernsthafte und machtvolle Alleinherrscherin, die sie so gut kannten, sondern eine lächelnde, pragmatische und einladende Persönlichkeit, die mit dem Slogan „Zusammen durch schwierige Zeiten“ von vornherein darauf abzielte, eine „breite Regierung über die politische Mitte“ hinweg zu bilden. Dies sei in Kriegs- und Inflationszeiten „der richtige Weg für Dänemark“, so Frederiksen.
Scheinbar ist es also geglückt, die vielen Wünsche der drei unterschiedlichen Parteien miteinander zu fusionieren.
Doch lange sah dieser Plan alles andere als realistisch aus: Die bürgerliche Opposition mit dem Venstre-Vorsitzenden Jakob Ellemann-Jensen an der Spitze stritt vehement ab, jemals mit Frederiksen regieren zu wollen. „Ich habe einfach kein Vertrauen in die Staatsministerin“ und: „Wir finden sie furchtbar“, sagte er unter anderem. Und Lars Løkke Rasmussen – selbst früherer Venstre-Vorsitzender und zweimaliger Regierungschef – plädierte zwar auch für die Auflösung der traditionellen politischen Blöcke, aber fand, dass „die Person Mette Frederiksen“ auch wegen ihrer Rolle im Nerz-Skandal „problematisch“ sei.
Aber dann kam die Wahl am 1. November. Überraschend bekamen die Sozialdemokraten mit 27,6 Prozent das beste Ergebnis in über 20 Jahren, und Mette Frederiksen stand in einer sehr günstigen Position. Jakob Ellemann-Jensen hingegen musste seine Träume aufgeben, neuer Regierungschef einer „blauen“ Koalition rechts von der Mitte zu werden, denn seine eigene Partei Venstre war zwar weiterhin größte bürgerliche Partei, aber hatte mit nur gut 14 Prozent der Stimmen erhebliche Verluste einkassieren müssen. Der Plan der relativ pragmatischen Venstre, mit den Konservativen, den Ultra-Liberalen und drei rechtspopulistischen Parteien eine gemeinsame Front gegen „die Roten“ zu bilden, war gescheitert. Gleichzeitig hatten Lars Løkke Rasmussens Moderaterne über neun Prozent der Stimmen gewonnen und waren die drittstärkste Kraft geworden.
Taktisch klug lud Mette Frederiksen anfangs sämtliche zwölf Parteien des Folketing zu Sondierungen in die offizielle Regierungsresidenz Marienborg, einen historischen Herrensitz nördlich von Kopenhagen. Hier wurde diskutiert, wie die aktuellen Probleme Dänemarks gelöst werden könnten: Inflation, Arbeitskräftemangel, Psychiatrie-Notstand, Energieversorgung, Klima, NATO-Verpflichtungen. Erst allmählich, als Stück für Stück der neuerdings große Kompromisswille von Frederiksen deutlich wurde, mauserten sich aus diesen Vorgesprächen eigentliche Regierungsverhandlungen mit den drei Parteien, die diese Woche die neue dänische Regierung gebildet haben: die „roten“ Sozialdemokraten, die „blauen“ Venstre und die „lila“ Moderaterne.
Und glaubt man dem Grundlagenpapier „Verantwortung für Dänemark“, haben sie sich viel vorgenommen: Steuersenkungen für Geringverdiener und die mittleren Einkommen, aber auch eine (kleine) Erhöhung des Steuersatzes für die Allerreichsten. Weniger Bürokratie und mehr Flexibilität im öffentlichen Sektor, besonders in der Altenpflege und den Grundschulen. Akute Hilfe für die überforderten Krankenhäuser. Zielgerichteter Einsatz für die 45 000 arbeits- und ausbildungslosen jungen Däninnen und Dänen. Kürzungen bei den akademischen Ausbildungen und mehr Ressourcen für die handwerklichen. Schließung der verhassten „Job-Zentren“ für Arbeitslose. Beschleunigung der Klimaambitionen durch unter anderem eine CO2-Steuer auf die Landwirtschaft. Aufrüstung und bis 2030 Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels für Militärausgaben. Zudem ein bisschen mehr Pragmatismus in der Migrationspolitik.
Scheinbar ist es also geglückt, die vielen Wünsche der drei unterschiedlichen Parteien miteinander zu fusionieren. Das Regierungs-Programm stellt alle drei Partner zufrieden, indem in den meisten Politikbereichen „für jeden etwas“ dabei ist. Massive Steuersenkungen sind sicherlich keine klassische sozialdemokratische Politik, aber so, wie sie vorgesehen sind, berücksichtigen sie nicht nur die obere Mittelschicht, sondern so gut wie alle Dänen, die in Arbeit sind. Darüber hinaus haben die „blauen“ Koalitionspartner akzeptiert, dass eine neue Steuer für die allerhöchsten Einkommen über 325 000 Euro jährlich eingeführt wird. In der Klimapolitik hat die traditionsreiche Bauernpartei Venstre eine CO2-Steuer für die Landwirtschaft akzeptiert, aber unter der Bedingung, dass sämtliche Gelder aus dieser Steuer in die Landwirtschaft zurückinvestiert werden.
Nicht überraschend sind lautstarke Proteste von links und rechts zu hören.
Generell meinen viele, dass der Plan etwas „blauer“ ist als „rot“. Aber erstens mussten gute Argumente her, um Jakob Ellemann-Jensen und Venstre zu überzeugen, die Blockpolitik aufzugeben. Und andererseits hatte der Rechtsruck der Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren schon im Voraus ihre Politik an das bürgerliche Lager angenähert. Nicht nur in Migrationsfragen, sondern auch was die sogenannte „wirtschaftliche Vernunft in Krisenzeiten“ angeht. Auch deshalb sind die Wählerinnen und Wähler kaum auf das dämonisierende Feindbild von Mette Frederiksen angesprungen, welches „der blaue Block“ versucht hatte, von ihr zu zeichnen. Das politische Projekt der Mitte ergibt gerade jetzt sehr viel Sinn, weil die großen Parteien im Zentrum der dänischen Politik sich eigentlich ziemlich einig sind. Und da – ungewöhnlich für Dänemark – eine Mehrheitsregierung gebildet werden konnte, hat sie auch die Stärke, ihre Pläne zu realisieren, ohne die Opposition überzeugen zu müssen.
Nicht überraschend sind lautstarke Proteste von links und rechts zu hören: Mai Villadsen, die Vorsitzende von der Enhedslisten (der Linken) meint, dass die allerärmsten Familien finanziell leiden werden (besonders die mit Migrationshintergrund), da ihnen Zuschüsse gestrichen werden sollen. Auch nennt Villadsen die Klimapolitik der neuen Regierung „pechschwarz“ und warnt, dass durch die historischen Verbindungen von Venstre mit der Landwirtschaft zu viel Rücksicht auf dieses umweltschädliche Gewerbe genommen wird.
Im rechten Lager ist die Entrüstung noch größer, denn hier meint man, dass Venstres Kehrtwende ein Verrat an dem Wahlversprechen ist, „niemals“ mit den Sozialdemokraten regieren zu wollen. Der Vorsitzende von Liberal Alliance Alex Vanopslagh nannte es sogar „eklig, seine Prinzipien gegen Ministerposten einzutauschen“.
Besondere Wut bis hinein in die eigenen Reihen von Venstre hat hervorgerufen, dass als „Preis“ für die Regierungsteilnahme die Forderung nach einer rechtlichen Prüfung von Mette Frederiksens persönlicher Rolle im Nerz-Skandal fallen gelassen wurde. Doch Jakob Ellemann-Jensen und Lars Løkke Rasmussen wehren ab: Das sehr gute Wahlergebnis der Sozialdemokraten habe gezeigt, dass die Bevölkerung weiter Vertrauen in Mette Frederiksen habe. Darüber hinaus habe ein Gutachten von drei Jura-Professoren erwiesen, dass man die Regierungschefin nicht wegen „grober Fahrlässigkeit“ vor Gericht stellen könne, so wie das rechte Lager sich das vorgestellt hatte.
Und noch viel wichtiger für die Erfolgschancen der neuen Regierung: Sowohl Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften scheinen der neuen Regierung gegenüber überwiegend positiv zu sein und erhoffen sich von ihrem Reformprogramm eine balancierte und robuste Führung des Landes. Erstmals in zwei Jahrzehnten haben weder die linken noch die rechten Flügel im dänischen Parlament viel zu sagen, und Hoffnung ist aufgekommen, dass dies tatsächlich eine Zeit mit weniger Populismus und Polarisierung einläuten könnte.
Oder wie Lars Løkke Rasmussen schon 2019 in seiner Autobiografie schrieb: Eine Zusammenarbeit über die politische Mitte sei für ihn „Ein Moment der Befreiung“. Nun kommt alles darauf an, ob die früheren Erzfeinde der dänischen Politik tatsächlich zusammenarbeiten können, oder ob die Diskrepanzen der Vergangenheit sie einholen werden.