Es sind gleich mehrere Mammutaufgaben, vor denen die neue britische Premierministerin steht: Der russische Krieg gegen die Ukraine, steigende Energie- und Lebenshaltungskosten, die in diesem Herbst zu sozialen Unruhen führen könnten, dazu sind weiterhin wichtige Fragen des Brexits nicht gelöst und lähmen die Wirtschaft. Nordirland ist der große Brexit-Stolperstein. Zur Erinnerung: Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs und verfügt über die einzige Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Wie diese neue EU-Außengrenze gehandhabt werden soll, ist seit dem Brexit umstritten. Eine Landgrenze zwischen der Republik und Nordirland ist technisch nicht umsetzbar und aufgrund der Geschichte der Insel politisch riskant.
Die Verhandlungen befinden sich aktuell in einer Sackgasse, allerdings weist Truss weder Anstrengungen noch kreative Lösungen vor, um aus dieser wieder herauszukommen. Im Gegenteil, sie orientiert sich schlicht am Kurs ihrer Vorgänger.
Truss weist weder Anstrengungen noch kreative Lösungen vor, um aus der Sackgasse der Nordirland-Verhandlungen herauszukommen.
Theresa May hatte den Backstop ausverhandelt, den Boris Johnson gemeinsam mit den besonders EU-feindlichen Vertretern der rechten Tory-Fraktion European Research Group und den nordirischen Unionisten zu Fall brachte. Dass es Johnson hier mehr um seine eigene Macht als um Nordirland ging, mussten die nordirischen Unionisten rasch bemerken, als Johnson selbst einen Sonderstatus für Nordirland mit Brüssel ausverhandelte: das Nordirland-Protokoll. Im Grunde war es in den zentralen Punkten nichts anderes als Mays Backstop: Nordirland bleibt Teil des europäischen Binnenmarktes und somit müssen aus Großbritannien eingeführte Waren kontrolliert werden.
Die nordirischen Unionisten fühlten sich von den Konservativen verraten. Um in der Wählergunst nicht zu fallen, sprengte die unionistische Partei Democratic Unionist Party (DUP) im Februar 2022 die Regierung in Belfast. Ihr Landwirtschaftsminister wies an, keine Warenkontrollen mehr durchzuführen und die Parteimitglieder verließen die Regierung mit der republikanischen Sinn Féin. Das Kalkül ging nicht auf: Bei den Wahlen im Mai verlor die DUP. Stattdessen wurde Sinn Féin erstmals stimmenstärkste Partei mit den meisten Sitzen im Regionalparlament Stormont.
Seither boykottiert die DUP die Regierungsbildung. Denn das Karfreitagsabkommen von 1998, das den drei Jahrzehnte dauernden Nordirlandkonflikt, dem fast 4 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, beenden sollte, verlangt, dass die stärkste Partei (nun die katholische Sinn Féin) mit der stärksten Partei der zweitstärksten Gruppierung (also die protestantische DUP) eine Regierung bildet. Ähnliche Konkordanzdemokratien bestehen in Bosnien & Herzegowina und dem Libanon – und funktionieren auch dort mehr schlecht als recht.
Die DUP fordert für ihre Rückkehr in die Regierung ein gänzliches Aus des Nordirland-Protokolls. Im Frühsommer ging die Johnson-Regierung einen großen Schritt auf sie zu, eine neue Northern Ireland Protocol Bill wurde von der damaligen Außenministerin Truss ausgearbeitet. Sie soll es ermöglichen, dass Minister zukünftig Teile des Nordirland-Protokolls außer Kraft setzen können. Für Dublin, Brüssel, Washington und die britische Labour Party kommt dieser Schritt einem Bruch des internationalen Rechts durch London gleich.
Truss wird wohl über Nordirland keinen Handelskrieg mit Brüssel wagen.
In den Tagen vor der Bekanntgabe des Truss-Wahlsiegs zur Parteivorsitzenden kursierten Gerüchte, dass sie gar mit Article 16 des Brexit-Vertrags sofort das Nordirland-Protokoll außer Kraft setzen könnte. Dazu wird es laut ihrem Beraterkreis nicht kommen. Truss wird wohl über Nordirland keinen Handelskrieg mit Brüssel wagen – zu groß sind ihre anderen Aufgaben: steigende Energie- und Lebenshaltungskosten.
Im parteiinternen Wettstreit um die Nachfolge von Boris Johnson spielte Nordirland nur eine Nebenrolle. Truss war die bevorzugte Kandidatin der nordirischen Unionisten. Mitte August kam es erstmals in Nordirland zu einer Debatte der Kandidaten um den Tory-Vorsitz. Vor rund 100 Parteimitgliedern legte Truss ihre Positionen dar: Sie werde gegenüber Brüssel und Washington nicht nachgeben, es werde keine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands geben und in Belfast müsse so rasch wie möglich eine neue Regierung gebildet werden.
Nun steht Truss jedoch genau vor dieser schwierigen Aufgabe: Sie will einen Handelskrieg mit Brüssel abwenden und wird daher das Nordirland-Protokoll nicht aufkündigen können. Gleichzeitig fordert sie die Bildung einer Regierung in Belfast, doch genau das verweigert die DUP, solange das Nordirland-Protokoll besteht. Dazu kam am Mittwoch aus Washington unmissverständlich die Warnung an Truss, den Streit über Nordirland nicht eskalieren zu lassen. Das würde sich negativ auf Gespräche um ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und den USA auswirken.
In ihrer ersten Rede als Parteichefin erwähnte Truss Nordirland nicht.
Die Herausforderung steht allerdings in keinem Verhältnis zu der Aufmerksamkeit, die Truss ihr widmet. Truss zeigte in ihren ersten Tagen im Amt, dass sie – wie ihre Vorgänger – wenig Interesse an Nordirland hat: So erwähnte sie in ihrer ersten Rede als Parteichefin Nordirland nicht. In einer Passage pries sie die Errungenschaften ihres Vorgängers und erklärte: „Boris Johnson got Brexit done.“ – „Er hat den Brexit durchgezogen.“ Diese Worte kann nur eine Politikerin sagen, die der Meinung ist, die Zukunft von Nordirland sei nicht von Bedeutung für den Brexit. Zur Erinnerung: Johnson ist ein englischer Nationalist. Der Brexit war ihm wichtiger als die Integrität des Vereinigten Königreichs. Denn ausgerechnet der Brexit löst Fliehkräfte aus, die mit Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands und der irischen Wiedervereinigung zum Zusammenbruch des Vereinigten Königreich führen könnten. Damit muss sich nun aber Truss auseinandersetzen. Welchen Weg sie dabei einschlagen will, lässt ihre Personalpolitik erkennen.
Laut Berichten erhielt Truss von zwei möglichen Kandidaten für den Posten des Nordirland-Staatssekretärs Absagen. Am Dienstag ernannte sie dann ausgerechnet Chris Heaton-Harris zum Vertreter Londons in Nordirland. Dieser war bis 2016 sechs Jahre Vorsitzender der rechtskonservativen, EU-feindlichen rechten Tory-Fraktion European Research Group. Neue, kreative Ansätze zur Lösung des nordirischen Problems sind von ihm nicht zu erwarten. Die nordirischen Unionisten wird es dennoch freuen, einen Vertreter der Gruppe als Gegenüber zu haben.
Trotzdem dürften die ersten Handlungen von Truss auf internationaler Ebene die Unionisten aber mit Sorge in die Zukunft blicken lassen. Beim Telefonat mit dem US-Präsidenten Joe Biden unterstrichen beide, den „Frieden in Nordirland garantieren zu wollen“. Eine Wortwahl, die nicht nach Aufkündigung des Nordirland-Protokolls klingt. Und aus Beraterkreisen ist zu hören, dass Truss plane, bald nach Dublin zu reisen, um mit dem dortigen irischen Regierungschef, Taoiseach Micheál Martin von der konservativen Fianna Fáil, über eine Lösung der Nordirland-Frage zu sprechen. Dass Truss noch vor Belfast nach Dublin reist, deutet auf ihr Interesse hin, eine Verhandlungslösung mit Brüssel zu finden – denn seit Februar gibt es keine direkten Gespräche zwischen London und Brüssel über das Nordirland-Protokoll. Die nordirischen Unionisten freut dies nicht, sie fühlen sich weiter von London isoliert.
Wie wird es nun weitergehen? Bis Ende Oktober muss in Belfast eine Regierung stehen. Gelingt dies nicht, müssen bis Januar Neuwahlen durchgeführt werden. Ein Ausweg hätte das Northern Ireland Protocol Bill bieten können, jenes von Truss ausgearbeitete Gesetz, dass es ermöglichen soll, das Nordirland-Protokoll zu umgehen. Mit ihm in Kraft hätte DUP in eine Regierung eintreten können, ohne abermals ihr Gesicht vor den eigenen Wählern zu verlieren. Aufgrund der parlamentarischen Fristen wird das Gesetz aber erst im Frühjahr 2023 in Kraft treten können – von Brüssel, Dublin und Washington wird es ohnehin abgelehnt.
Truss wird wohl versuchen, wie einst Theresa May, die DUP mit finanziellen Zugeständnissen ins Boot zu bekommen. May hatte damals 1 Milliarde Pfund an Förderungen versprochen – die DUP unterstützte ihre Regierung und wurde dafür von der eigenen Basis in eine Krise gestürzt. Ein ähnliches Szenario droht der DUP, falls Truss sie dazu bringt, vor Ende Oktober ihren Parlamentsboykott aufzugeben. Dann würde die DUP von ihren Wählern beim nächsten Urnengang abgestraft werden.
Diese Krise seit dem Brexit hat in Nordirland zu wachsender Unterstützung für eine Wiedervereinigung geführt.
Schlussendlich kann Truss der DUP und ihren Wählerinnen und Wählern nicht das bieten, was sie verlangen – und so scheinen Neuwahlen im Januar 2023 wahrscheinlich. Den Umfragen nach dürften die Wahlsiegerinnen wieder Sinn Féin und die liberale Alliance Party sein – die DUP wird weiter verlieren. Sinn Féin und Alliance können aber laut Karfreitagsabkommen gemeinsam keine Regierung bilden. So wird die Schwäche der DUP die politische Krise in Nordirland verlängern.
Diese Krise seit dem Brexit hat zu wachsender Unterstützung für eine Wiedervereinigung geführt. Selbst liberale, urbane Unionisten tendieren mittlerweile eher zu einer Wiedervereinigung, die eine Rückkehr in die EU ermöglichen würde, als zu einem Verbleib im Vereinigten Königreich außerhalb der EU. Davon profitiert Sinn Féin, die in Umfragen klar die stärkste Partei ist, sowohl in Dublin als auch in Belfast. Sie will über die Wiedervereinigung in fünf bis zehn Jahren abstimmen lassen.
Doch der Spielball liegt in London: Laut dem Karfreitagsabkommen kann nur der Nordirland-Staatssekretär eine Abstimmung ansetzen. Heaton-Harris wird das nicht tun, und Truss hat versprochen, die Integrität der Union zu verteidigen und keine Abstimmungen in Schottland und Nordirland zuzulassen. Der Vorteil liegt trotzdem bei Sinn Féin, denn ab 2030 wird es in Nordirland in allen Altersgruppen eine katholische Mehrheit gegeben. Je später ein Referendum kommt, desto wahrscheinlicher wird die Unterstützung für die Wiedervereinigung.
Sinn Feín kann also warten, trotzdem könnte sich die Chance für eine Wiedervereinigung schon früher ergeben: Das liegt an der Schwäche von Labour. Selbst unter dem schwächelnden Johnson lag Keir Starmer in Umfragen nie mehr als 4 Prozent über den Wahlergebnissen von Labour unter Jeremy Corbyn. Dies könnte sie nach der nächsten Wahl zwingen, Verbündete für eine Regierungsmehrheit zu suchen – die sie in Schottland und Nordirland finden könnte. Doch die dortige Schottische Nationalpartei (SNP) und Sinn Féin würden wohl im Gegenzug für die Unterstützung einer Labour-Regierung jeweils Unabhängigkeitsreferenden verlangen. Die Schwäche von Labour ist der wahrscheinlichste Weg, langfristig aus der politischen Krise in Nordirland und hin zu einer Wiedervereinigung zu kommen.
Dagegen sind die nordirischen Unionisten ohne eindeutige Unterstützung aus London zunehmend politisch isoliert. Mit diesem Szenario vor Augen werden ihre Standpunkte und ihre Rhetorik radikaler. Der fortwährende politische Stillstand in Nordirland ist nicht die einzige Kontinuität von Johnson zu Truss.