Noch zwei Wochen vor den Europawahlen warnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Dresden eindringlich vor Rechtsextremismus und rief zur Verteidigung der Demokratie auf: „Der Rechtsextremismus ist eine Realität, wir müssen aufwachen“, forderte er. Am Abend der Wahl dann löste er die Nationalversammlung auf, verkündete Parlamentswahlen und öffnete den Rechtsextremisten damit über Nacht die Tore der Macht. Noch einmal 14 Tage später warnt Macron vor der vereinigten Linken seines Landes als Hort der Unmoral und des Antisemitismus. Diese Sprünge sind selbst für einige Mitstreitenden zu viel. Was hat der Präsident nur vor? Warum stürzt er sein Land ohne Not in eine solche Krise?
Um Macron zu verstehen, hilft es, den Macronismus zu verstehen. Wofür steht er? „Seitdem wir uns damit abgemüht haben, den Macronismus zu definieren, wissen wir, dass es nichts ist“, resümiert der einflussreiche Kolumnist Thomas Legran bei Libération. Legran mag recht haben, was die Kohärenz und Konsistenz des Macronismus betrifft. Macron hat keine theoretischen Grundlagen formuliert und seine Bewegung, La République en marche, umbenannt in Renaissance, hat es schnell aufgegeben, die ideologische Funktion einer Partei erfüllen zu wollen. 2017 tauchte sie aus dem Nichts auf und – so sehen es Beobachter – ist schon wieder dabei zu zerfallen.
Macrons waghalsige, ja, irre Manöver lassen sich vielleicht vor dem Hintergrund der Tatsache einordnen, dass der Mann schon einmal innerhalb von nur fünf Jahren das politische System der Nachkriegszeit zerschmettert hat. Zuvor hatten jahrzehntelang abwechselnd zwei Parteien Frankreich regiert und die französische Politik dominiert: die Sozialisten in der linken Mitte und die Republikaner in der rechten Mitte. Beide wurden von Macrons Bewegung in kürzester Zeit ausgesaugt und sind heute nur noch Randerscheinungen. Macrons politischer Kraftakt bestand darin, die linke und die rechte Mitte in einer einzigen Partei zu vereinen, ein bislang einzigartiger Coup in einer westlichen Demokratie.
Bereits vor seiner ersten Wahl 2017 waren in Paris Graffitis wie dieses zu sehen: „Macron 2017 = Le Pen 2022“. Einige Linke hatten damals wohl die böse Vorahnung, dass Macrons Politik die soziale Kluft im Land verschärfen und so dem Rassemblement National den Weg bereiten könnte. Damals galt der Macronismus durchaus als linksliberales Experiment. Ex-Sozialist Macron versprach demokratischere politische Institutionen, lobte die kulturelle und religiöse Vielfalt Frankreichs und sprach viel von der Aufrechterhaltung der französischen kulturellen Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Der Macronismus ist daher in Frankreich längst ein Synonym für Illiberalismus.
Geprägt war seine erste Amtszeit dann von marktwirtschaftlichen Reformen, mit dem Ziel, Frankreich in eine „Start-up-Nation“ zu verwandeln. Bald nannte man ihn den „Präsidenten der Reichen“: Trickle down-Glauben, Steuergutschriften für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, Abschaffung der Solidaritätssteuer auf Vermögen, Einführung der Flat Tax auf Dividenden. In Macrons Hymnen über eine zu entfesselnde „unternehmerische Dynamik“ mischte sich zusehends Verachtung für „Faule“, für Arbeiterinnen und Arbeiter mit Ansprüchen an sichere Arbeitsplätze und auskömmliche Renten.
Während Macron in Deutschland als visionärer Europäer verehrt wurde, unternahm er in diesem Geiste die Anpassung des französischen Sozialmodells an die Globalisierung. Er will den starken Staat, um ihn in den Dienst einer „gesunden Wirtschaft“ zu stellen. Gesetze munitionierte er Stück für Stück mit Bestimmungen des Ausnahmezustands, er erließ zahlreiche Strafrechtsverschärfungen sowie neue Antiterrorismusgesetze, und er ließ seine Polizei mit Schlagstöcken und autoritärem Habitus auf demonstrierende Gelbwesten einprügeln. Indem er mit Dekreten und Verordnungen regierte, das Parlament umging, sich auf private Beratungsfirmen wie McKinsey oder auf einberufene Räte stützte – wie zum Beispiel den Verteidigungsrat –, legte er den Grundstein für ein autoritäres Regime. Macrons Neoliberalismus, kombiniert mit seinem unverhohlenen Autoritarismus, bildete bald ein Ganzes.
Der Macronismus ist daher in Frankreich längst ein Synonym für Illiberalismus. Nachdem Macron die republikanische Regierungslinke und -rechte methodisch zerstört hatte, „spielte er sich als letztes Bollwerk gegen die extreme Rechte auf“, schrieb kürzlich der Anthropologe und Soziologe Jean-François Bayart in Le Monde. Er vergleicht Macron mit dem deutschen Kanzler Brüning, dessen Regierungshandeln in den Jahren 1930 bis 1932 die demokratischen Institutionen aushöhlte und das Zwangsinstrumentarium bereitete, dessen sich der Nationalsozialismus später nur noch bedienen musste. Wie Brüning, so Bayart düster, ebnet eben auch Macrons vorhersehbares politisches Scheitern Marine Le Pen den Weg in den Élysée-Palast.
„Maximierung des Möglichen“, so beschrieben 2019 David Amiel und Ismaël Emelien, zwei enge Berater Macrons, in ihrem Manifest mit dem Titel „Der Fortschritt fällt nicht vom Himmel“ den Macronismus. Immer mit dabei: Eine gute Portion Disruption. Macron, der einen breiten Mittelraum aufbauen und die überholten Grenzen zwischen links und rechts einreißen wollte, hatte immer vor, das „System“ zu erschüttern.
Im Parlament versäumte es Macrons Bewegung, die Brandmauer gegen rechts aufrechtzuerhalten.
Nach Macrons Coup blieben in der französischen politischen Landschaft zunächst drei Blöcke mit ähnlicher Wählerstärke übrig. Ein liberal-konservativer Block mit Macron, ein rechtsextremer Block mit Marine Le Pen und ein linker Block unter Dominanz von Jean-Luc Mélenchon, einem Linkspopulisten. Bereits vor seiner Wiederwahl 2022 hatte Macron sich klar in der rechten Mitte verankert. Seitdem greift er Themen und Politiken der extremen Rechten auf, zuletzt ein neues Immigrationsgesetz, welches er mit den Stimmen des Rassemblement National verabschiedete. Somit gelingt es ihm, zahlreiche Stimmen konservativer Republikaner einzusammeln. Macrons Rechtsdrall hat jedoch die Begleiterscheinung, dass Marine Le Pens Partei von Wählerinnen und Wählern zunehmend als schlicht „normal“ angesehen wird.
Trotz Start-up-Nation engagierte sich Macron schon früh in den „Kulturkriegen“, wohl auch um von seiner Widerstand generierenden Sozialpolitik abzulenken. Mit Kampagnen zur Richtigstellung der Gendertheorie, mit Verboten des Gendersternchens, und mit Spott über den Wokismus legitimierte er „die Hirngespinste der Neuen Rechten“ um Identität und Nation, so Bayart. Natürlich ist Macron nicht die einzige Ursache für den Erfolg des Rechtsextremismus. Aber er sowie seine Ministerinnen und Minister, die Le Pens Diktion übernahmen – die beispielsweise über „Islamo-Linke“ und Sozialhilfeempfänger herzogen oder die die Rassemblement-Führung gar beschuldigten, „zu soft gegenüber dem Islam“ zu sein –, müssen dafür verantwortlich gemacht werden, radikale Narrative übernommen, weiterverbreitet und in den Mainstream getragen zu haben.
Im Parlament versäumte es Macrons Bewegung, die Brandmauer gegen rechts aufrechtzuerhalten. Bei den Kommunalwahlen 2020 unterstützten die Macronisten weitgehend rechtsgerichtete Bürgermeister. Damit gelang es Rassemblement-Vertretern zunehmend und mühelos, Einfluss zu nehmen. Wer es sehen wollte, konnte erkennen, dass Macrons Politik in all den Jahren trotz seiner Rhetorik nie die „Brandmauer gegen Populismus“ war, die viele, vor allem in den europäischen Nachbarländern, dort sahen.
Was vom Macronismus in Erinnerung bleiben wird, ist sicherlich seine Lust an der Zerstörung.
Mit der Ausrufung von Neuwahlen zeigt Macron nun ganz offen, dass er keine Angst mehr hat, den Rassemblement National gewinnen zu lassen. Wie er seit der Auflösung des Parlaments stets erklärt, glaubt er, dass die Wahlen „Klarheit“ bringen werden. Die Kohabitation mit dem Rassemblement National wird ihm nicht schwerfallen. Er und Renaissance haben sich bereits viele Ideen des Rassemblement National zu eigen gemacht, insbesondere in den Bereichen Autorität, Sicherheit, Kampf gegen Einwanderung und Terrorismus.
Macron mag sich vorgestellt haben, dass die Rest-Rechte sich im Angesicht des Chaos, das er nun gesät hat, zerreißen werde. Und dass der Teil der Republikaner, der ein Bündnis mit dem Rassemblement National ablehnt, sich ihm anschließen werde. Ebenfalls rechnete er damit, dass der Teil der Linken, der ein Bündnis mit der umstrittenen La France Insoumise ablehnt, das Gleiche tun würde. Tatsächlich spaltet sich die Rechte, jedoch schließt sich niemand dem irrlichternden Macronismus an. Und die Linke? Sie vereint sich, gemäß ihrer aus der Geschichte geerbten Tradition, und steht angesichts der Bedrohung durch die Rechtsextremen zusammen.
Macrons jetzige Wahlkampagne, bei der er vor allem die Linke angreift, wo es nur geht, scheint unterm Strich zu sagen: lieber den Rassemblement National, als die neue Volksfront der Linken. Eine Stimmung, die an die 1930er Jahre erinnert, als die herrschenden Klassen Frankreichs eher Hitler zuneigten als Leon Blum.
Was vom Macronismus in Erinnerung bleiben wird, ist sicherlich seine Lust an der Zerstörung. In einem unbedachten Moment, einen Tag nach der Europawahl und der Parlamentsauflösung, als Emmanuel Macron bei der Gedenkfeier in Oradour-sur-Glane weilte, dem Dorf in Zentralfrankreich, welches von der SS vernichtet wurde, sagt er über die Auflösung des Parlaments: „Ich habe das seit Wochen vorbereitet und bin ganz happy. Ich habe meine Granaten zwischen ihre Beine geschleudert. Jetzt werden wir sehen, wie sie damit zurechtkommen.“