Mit dem Versprechen, eine zivile Verfassung einzuführen, und Äußerungen über eine mögliche Zukunft der Türkei in der EU haben der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierung in letzter Zeit „pseudo-reformerische“ Signale in die Welt ausgesandt. Gleichzeitig verschärft die Regierung ungeniert die Repression im eigenen Land. Bereits kurz vor dem Ankara-Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel im März 2021, bei dem es zu dem berühmt-berüchtigten „Sofa-Gate“-Vorfall kam, wurde die türkische Politik durch eine Reihe beunruhigender Entwicklungen durcheinandergewirbelt.

Nach der plötzlichen Entlassung des Zentralbankchefs Naci Ağbal stürzte die türkische Lira ab. Die Regierung machte sich an die Zerschlagung der HDP, der wichtigsten pro-kurdischen Oppositionspartei in der Türkei. Dem einflussreichen Parlamentsabgeordneten und Menschenrechtsaktivisten Ömer Faruk Gergerlioğlu wurde das Mandat entzogen; anschließend wurde er wegen eines Tweets verhaftet. Und dann besiegelte Erdoğan bekanntlich per Präsidialerlass auch noch den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. All das geschah allein in den vergangenen zwei Monaten.

Obendrein wirft die Opposition der Regierung vor, sich nach einem Wechselkursverfall an den Devisenreserven der Zentralbank zu vergreifen, um die türkische Lira zu stützen. Für ihre Stützungsverkäufe zugunsten der türkischen Währung verkauften die staatlichen Banken 128 Milliarden US-Dollar auf den Devisenmärkten. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), reagierte mit einer Kampagne: Sie stellte auf riesigen Plakaten die Frage „Wo sind die 128 Milliarden Dollar abgeblieben?“ Die Regierung ließ die Plakate abhängen.

Während sich die Wirtschaftskrise in der Türkei verschärft und die Lebenshaltungskosten infolge der Corona-Maßnahmen dramatisch steigen, erweisen Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sich als unfähig, die Alltagsprobleme der Menschen zu lösen. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts Metropoll gehen 58 Prozent der Wähler davon aus, dass sich die Situation in der Türkei verschlechtern wird. Für 65,9 Prozent der Befragten sind die Wirtschaft und die Arbeitslosigkeit die größten Probleme der Türkei.

Die Gewaltenteilung und die demokratischen Institutionen werden ausgehebelt.

Gestützt auf das 2017 von ihm selbst geschaffene Präsidialsystem regiert Erdoğan wie ein Sultan. Sein Regime basiert auf Klientelpolitik und einem Netzwerk getreuer Gefolgsleute und ist nicht darauf ausgerichtet, konkrete Lösungen für bestehende Probleme zu liefern. Die Gewaltenteilung und die demokratischen Institutionen werden ausgehebelt, und Entscheidungsprozesse und politische Ideen dienen nur dem Machterhalt der AKP und ihres Parteivorsitzenden. Um sich maximale Unterstützung zu sichern, setzt Erdoğan konsequent auf verschärfte Polarisierung, belohnt Loyalität und unterdrückt alle abweichenden Meinungen im Land.

Gleichzeitig gefährdet der Aufwärtstrend der Opposition Erdoğans scheinbare Allmacht und bringt den türkischen Präsidenten zu noch härterer staatlicher Repression. Bei den Kommunalwahlen 2019 ging die Opposition in einigen großen türkischen Metropolen wie Istanbul als Wahlsieger hervor. Dies zeigt, dass Wahlbündnisse zwischen verschiedenen ideologischen Gruppierungen eine erfolgreiche Strategie sind, um die AKP und die mit ihr verbündete Nationalistische Aktionspartei (MHP) zurückzudrängen. Diese Wahlsiege haben die Wählerinnen und Wähler in ihrer Hoffnung auf Veränderung bestärkt und den Oppositionsparteien Auftrieb gegeben.

Die Zukunftspartei (GP) und die Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA), die beide von führenden Ex-AKP-Mitgliedern gegründet wurden (die GP von Ex-Außenminister Ahmet Davutoğlu und die DEVA von Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan), haben sich kürzlich dem Anti-AKP-Block angeschlossen und unterstützen die Hauptforderung der Opposition, die „demokratische Ordnung“ wiederherzustellen. Auch die İYİ-Partei („Gute Partei“) und ihre Vorsitzende Meral Akşener gewinnen an Popularität. Der Einfluss von DEVA, GP und İYİ könnte dazu führen, dass unentschlossene Wählerinnen und Wähler, die bei früheren Wahlen die AKP unterstützt haben, aber politisch mit der CHP über Kreuz liegen, sich jetzt der Opposition anschließen.

Hinzu kommt, dass sich allen restriktiven Maßnahmen der Zentralregierung zum Trotz die Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, mit ihrem guten Krisenmanagement während der Covid-19-Pandemie als potenzielle Präsidentschaftskandidaten profilieren, die Erdoğan Konkurrenz machen könnten.

Die HDP ist allerdings nicht mehr die einzige Zielscheibe der staatlichen Repressionen.

Während die Opposition den Dialog über die Parteigrenzen hinweg sucht und sich für eine Rückkehr zum parlamentarischen System ausspricht, hält Erdoğan an seiner Strategie des „Teile und herrsche“ fest. Die ständigen Terrorismusvorwürfe gegen die HDP und die – vom Verfassungsgericht allerdings abgeschmetterten – Versuche, die Partei zu verbieten, zielen darauf ab, eine gewisse Spaltung innerhalb der Opposition aufrechtzuerhalten, vor allem zwischen der pro-kurdischen HDP und der türkisch-nationalistischen İYİ.

Die HDP ist allerdings nicht mehr die einzige Zielscheibe der staatlichen Repressionen. Was sie aus ihren Angriffen gegen die HDP gelernt hat, wendet die Regierung inzwischen offenbar auch gegen andere politische Gegner an. Derzeit erwägt Erdoğans Regierung, dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu die parlamentarische Immunität zu entziehen – ein Vorgehen, das an das Schicksal des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş erinnert, der seit mehreren Jahren in Haft sitzt.

Es gehört zu Erdoğans Strategie, dass er gezielt diejenigen Anliegen aufgreift, die in weiten Teilen der Gesellschaft auf breite Zustimmung stoßen. Dazu gehört die Überwindung des Widerstands gegen seine Versuche, aus der Istanbul-Konvention auszutreten – einem Übereinkommen des Europaratszur Verhütung geschlechtsspezifischer Gewalt. Erdoğan machte sich die Behauptungen von Islamisten und religiösen Organisationen zu eigen, das Abkommen zerstöre die Familien und fördere die Homosexualität, und vollzog am 21. März 2021 per Präsidialerlass den Austritt.

Laut einer aktuellen Umfrage lehnen jedoch 52 Prozent der Bevölkerung diesen Austritt ab, obwohl die Regierung die Medien wirkungsvoll kontrolliert und eine gewaltige Propagandakampagne gestartet hat, die auf falschen Fakten aufbaut. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention hat eine breite Kontroverse innerhalb der türkischen Gesellschaft und auch zwischen konservativen Frauengruppen und AKP-Mitgliedern ausgelöst. Die Frauenrechtlerinnen, eine der stärksten Oppositionsbewegungen in der Türkei, haben im ganzen Land Proteste organisiert, die von der Polizei niedergeschlagen wurden.

Frauenrechtlerinnen haben im ganzen Land Proteste organisiert, die von der Polizei niedergeschlagen wurden.

Obwohl die geschlechtsspezifische Gewalt massiv zugenommen hat – allein 2020 gab es 382 bestätigte Fälle von Femizid –, hat die AKP offenbar den Forderungen verschiedener religiöser Gruppen nachgegeben und versucht nun, einen neuen Identitätskonflikt vom Zaun zu brechen. In diesem Zusammenhang bekommt der Austritt aus der Istanbul-Konvention eine symbolische Bedeutung, weil er deutlich macht, dass Erdoğan entschlossen ist, eine konservative nationale Identität und eine rechtspopulistische Agenda umzusetzen. Zu dieser Agenda gehört eine konservativere Haltung in Geschlechterfragen, die Befürwortung patriarchalischer Gesellschaftsverhältnisse und das Hochhalten der „Familienwerte“.

Da die Türkei weiterhin die politischen und bürgerlichen Rechte einschränkt und gegen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verstößt, beschränken die Beziehungen zwischen EU und Türkei sich augenscheinlich auf Migrationsfragen, die türkische Politik im östlichen Mittelmeerraum und den Ausbau der Handelsbeziehungen. Vor allem progressive Kreise sehen kritisch, dass die EU sich auf Erdoğans Regime einlässt. Sie fühlen sich von der EU verraten und verkauft, während das Regime sich damit schmückt, dass die EU mit ihm im Gespräch ist. Unterdessen nehmen die Repressionen im Land zu.

In den fortschrittlichen Kreisen der Türkei herrscht die Meinung vor, die EU gebe sich nur wegen des Flüchtlingsabkommens mit Erdoğan ab und gebe damit ihre eigenen Werte auf. Obwohl gute Beziehungen zwischen der EU und der Türkei für alle Seiten enorm wichtig sind, sollte die innenpolitische Demokratisierung der Türkei die Vorbedingung für eine Annäherung sein – und die Beziehungen sollten nicht davon geprägt sein, dass die EU sich den Drohungen eines autokratischen Herrschers fügt.

Aus dem Englischen von Christine Hardung