Eine von rechten Kräften dominierte Europäische Union schien lange Zeit unvorstellbar. Schließlich galt die Rechte vor allem als nationalistisch – und die EU als das genaue Gegenteil. Die Union wurde schließlich auch gegründet, um den Nationalismus und seine fatalen Folgen im Zweiten Weltkrieg hinter sich zu lassen. Rechtsradikale Parteien konnten in der Vergangenheit zwar immer wieder Störaktionen gegen die EU starten, sie aber nicht aktiv und konstruktiv mitgestalten, da die Rechte schlichtweg nicht an die europäische Integration glaubte. Heute zeigt sich jedoch ein etwas anderes Bild.

Es gibt inzwischen eine Reihe rechtsgerichteter Regierungen in EU-Ländern, nicht nur in östlichen Mitgliedstaaten wie Polen, dessen Führung vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine weithin als einflussreicher denn je angesehen wird. Heute finden sich auch rechtsradikale Regierungen in Gründungsstaaten wie Italien, wo Giorgia Meloni im vergangenen Oktober Ministerpräsidentin wurde. In Deutschland hat die AfD die SPD in den Sonntagsfragen je nach Umfrageinstitut ein- oder gar überholt.

Einer der Gründe, warum es für viele Menschen so schwierig war, sich eine stramm rechts geführte EU überhaupt vorzustellen, hat mit der Art und Weise zu tun, wie wir einerseits über die EU selbst und andererseits über das Verhältnis der Rechten zu ihr denken. So wurde die EU lange Zeit als genuin progressives oder kosmopolitisches Projekt angesehen. Ein solches Projekt lasse sich nicht mit rechtsradikalem Gedankengut vereinbaren, hieß es. In meinem demnächst erscheinenden Buch Eurowhiteness argumentiere ich, dass diese „proeuropäische“ Tendenz, die EU als Ausdruck eines Kosmopolitismus zu betrachten, die Entwicklung eines „Ethnoregionalismus“ ausgeblendet hat. Mit Ethnoregionalismus beschreibe ich eine auf ethnisch-kulturellen Aspekten basierende Version einer europäischen Identität, die eng mit der Idee des Weißseins verbunden ist. Kurz zusammengefasst: Eine rechtsradikale EU ist – zumindest theoretisch – möglich und denkbar.

Es gibt inzwischen eine Reihe rechtsgerichteter Regierungen in EU-Ländern, nicht nur in östlichen Mitgliedstaaten wie Polen.

Während einerseits also die EU idealisiert wurde, wurde andererseits die Einstellung der radikalen Rechten zur Union oftmals vereinfacht dargestellt – als sei die Rechte grundsätzlich strikt nationalistisch und deswegen grundsätzlich gegen die Idee eines geeinten Europas. In Wirklichkeit gibt es im rechtsradikalen Denken eine Spannung zwischen Nationalismus und sogenanntem Zivilisationismus. Die Rechte in Europa spricht nicht nur im Namen der Nation gegen Europa, sondern auch im Namen Europas – im Namen „einer Art imaginierter Gemeinschaft, angesiedelt auf einer anderen Ebene des kulturellen und politischen Raums als die Nation“, wie es der Soziologe Rogers Brubaker formuliert hat. Rechte Rhetorik konzentriert sich dabei insbesondere auf die Vorstellung einer von außen bedrohten „europäischen Zivilisation“.

Ein weiterer Grund, warum sich viele eine von Rechtsradikalen dominierte EU nicht vorstellen konnten, war die Annahme, dass rechtsradikale Parteien niemals grenzüberschreitend zusammenarbeiten könnten. Es wurde unterstellt, dass derartige Parteien letztendlich immer gegeneinander kämpfen würden, im Gegensatz zu den „Proeuropäern“ in der politischen Mitte, die sich der Kooperation verschrieben hatten. Eine rechtsgerichtete EU wäre demnach eine Union, die sich zurückentwickelt und in der die Macht an die einzelnen Mitgliedstaaten zurückgegeben wird. Im Gegensatz zu dieser Annahme scheinen die rechtsradikalen Parteien jedoch ziemlich effektiv miteinander zu kooperieren. Einige dürften sogar bereit sein, eine weitere EU-Integration zu akzeptieren, zum Beispiel bei Themen wie der Migrationspolitik – vorausgesetzt, dies geschieht zu ihren Bedingungen.

Was eine von rechts dominierte EU derzeit noch wahrscheinlicher macht – viel mehr noch als die Wahlerfolge rechter Parteien in einzelnen Staaten –, ist die Annäherung zwischen der „proeuropäischen gemäßigten Rechten“ und der europaskeptischen radikalen Rechten. In den vergangenen zehn Jahren und insbesondere seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 sind die Konservativen bei Identitätsfragen, Migrationspolitik und Islam nach rechts gerückt. Gleichzeitig hat ein großer Teil der radikalen Rechten seinen Euroskeptizismus abgeschwächt – oder zumindest die politischen Strategien und die Rhetorik angepasst.

Viele rechtsradikale Parteien wollen die EU nicht mehr verlassen, sondern in ihr arbeiten und sie umgestalten. Um es mit den Worten von Albert Hirschman zu sagen: Die Rechten ziehen es vor, eine Stimme zu haben, statt auszutreten. So hat die italienische Regierungschefin Meloni bisher ein viel harmonischeres Verhältnis zur EU als beispielsweise Ungarns Viktor Orbán. Dies kann zum einen als ein „Post-Brexit-Effekt“ angesehen werden – und wird von einigen als ein Triumph für die EU betrachtet. In vielerlei Hinsicht ist das Mitsprechen und Mitgestalten der Rechten jedoch ein größeres Problem als Drohungen mit einem EU-Austritt.

In der Vergangenheit regierte in der EU de facto eine Große Koalition gegen den Widerstand der euroskeptischen extremen Rechten und der radikalen Linken.

Wie oben beschrieben, haben sich Konservative bei identitär-kulturellen Fragen nach rechts bewegt. Dahinter steht die Theorie, dass es angesichts der Wahlerfolge der radikalen Rechten notwendig sei, Elemente aus deren Programmen zu übernehmen und sie so zu schwächen. Dadurch kommt es aber automatisch zu einer Annäherung, die Kompromisse zwischen der gemäßigten und der radikalen Rechten wahrscheinlicher macht. Die Konservativen könnten in Bezug auf Identität, Einwanderung und Islam noch weiter nach rechts rücken, und die radikale Rechte würde im Gegenzug weniger euroskeptisch werden. (In dieser Hinsicht ist die weiterhin sehr EU-kritisch eingestellte AfD eine Ausnahme.)

Eine solche Entwicklung lässt sich bereits jetzt beobachten: Als Giorgia Meloni im vergangenen Jahr italienische Ministerpräsidentin wurde, schienen die konservativen „Proeuropäer“ sich vor allem darüber Sorgen zu machen, ob Meloni sich „bei wichtigen europäischen Themen wie der Ukraine und der Eurozone verantwortungsvoll verhalten würde“, wie der Historiker Timothy Garton Ash es ausdrückte. Solange die Regierung Meloni nicht versuche, die Position der EU in solchen Fragen zu untergraben, könne die bürgerlich-konservative Rechte mit ihr zusammenarbeiten, um „europäische Lösungen“ für gemeinsame Probleme zu finden. Es gab Berichte, wonach diverse Politiker der Europäischen Volkspartei (EVP) versucht hätten, Meloni „in ein Rechtsbündnis einzubinden, das im Parlament und im Europäischen Rat genug Gewicht hätte, um erheblichen Einfluss auf die Besetzung von EU-Spitzenposten auszuüben“.

In der Vergangenheit regierte in der EU de facto eine Große Koalition gegen den Widerstand der euroskeptischen extremen Rechten und der radikalen Linken. Das ändert sich nun. Bereits 2019 wurde Ursula von der Leyen mithilfe der Stimmen der ungarischen Fidesz zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt. Fidesz war trotz der Radikalisierung hin zu einer stramm rechten Partei bis März 2021 Teil der konservativen EVP. Bei den Wahlen zum EU-Parlament im kommenden Jahr könnte ein Bündnis zwischen der gemäßigten und der radikalen Rechten die bisher am weitesten rechts stehende Europäische Kommission hervorbringen.

Der Kompromiss und die Kooperation zwischen den Konservativen und der radikalen Rechten schafft eine Art „proeuropäische“ Version rechtsradikaler Ideen und Themen, die sich stets um die Vorstellung einer angeblich bedrohten europäischen Zivilisation drehen. Ich würde dies eine „zivilisatorische Wende“ im europäischen Projekt nennen. Wie weit eine rechtsradikale Übernahme der EU gehen wird, hängt davon ab, ob die „Proeuropäer“, die das Konzept einer solchen bedrohten europäischen Zivilisation ablehnen, bereit sind, sich dagegen zu wehren – oder ob sie einfach mit dem Strom schwimmen, um die europäische Einheit zu wahren.

Insbesondere wird viel davon abhängen, wie „proeuropäische“ Mitte-links-Parteien wie die deutsche SPD darauf reagieren. In der Geschichte der europäischen Integration wurde rechte Politik im Namen Europas von ihnen oft akzeptiert. Anders ausgedrückt: Wenn solche Parteien vor die Wahl zwischen linken Prinzipien und EU-Einheit gestellt wurden, haben sie sich für die EU entschieden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Haltung auch angesichts des Aufstiegs der radikalen Rechten in Europa beibehalten wird.

Aus dem Englischen von Tim Steins