Wenn sich Recep Tayyip Erdoğan und Kyriakos Mitsotakis am 20. September am Rande der Generalversammlung in New York treffen, sind die Erwartungen hoch. Es ist bereits das zweite Treffen des türkischen Präsidenten und des griechischen Regierungschefs seit dem NATO-Gipfel in Vilnius im Juli dieses Jahres. Dass es zu diesen hochrangigen Treffen kommt, darf schon als Erfolg gelten. Denn noch im Mai 2022 hatte Erdoğan erklärt, Mitsotakis existiere für ihn nicht, er wolle ihn „nie wieder“ treffen. Geändert hatte sich die Stimmung erstmals im Februar nach dem verheerenden Erdbeben in der Osttürkei. Griechenland hatte schnelle Hilfe geleistet, der damalige griechische Außenminister Nikos Dendias reiste als erster hochrangiger EU-Politiker vor Ort an und erntete viel Sympathie. Seitdem ist einiges passiert, in beiden Ländern gab es im Sommer Wahlen: Die jeweiligen Amtsinhaber siegten, stehen aber großen Herausforderungen gegenüber.
In der Türkei sind noch immer Hunderttausende von den Folgen des verheerenden Erdbebens betroffen, bei dem allein im Süden des Landes über 50 000 Menschen ums Leben kamen. Die meisten Menschen, die damals obdachlos wurden, leben noch immer in Containern, ihre Gesundheit ist durch noch immer nicht geräumten Schutt schwer belastet. Präsident Erdoğan stand wegen der trägen Reaktion auf die Katastrophe ebenso stark in der Kritik wie angesichts der massiven Wirtschaftskrise und der hohen Inflation. Die Opposition witterte die Chance auf einen Machtwechsel, doch aus den Wahlen im Mai ging Erdoğan knapp als Sieger hervor. Auch deshalb, weil er sein Regierungsamt missbrauchte, um für seine Politik zu werben und Kritiker unter Druck zu setzen.
An der Spitze beider Länder stehen frisch gebackene Wahlsieger, die ihre Amtsperioden alles andere als gestärkt beginnen.
Nur eine Woche später fanden auch in Griechenland Wahlen statt, bei der Amtsinhaber Mitsotakis einen großen Vorsprung erzielte. Da dieser für eine Regierungsbildung noch nicht reichte, wurden die Wahlen wiederholt. Im Juni erzielte der Premierminister einen sogar noch größeren Erfolg gegen die schwache Opposition. Und das, obwohl auch Mitsotakis’ Regierung in der Kritik stand: Ende Februar war es zu einem schweren Zugunglück mit 52 Toten gekommen, für viele ein Sinnbild für Griechenlands Reformstau, die verkrustete Verwaltung und für Korruption. Nach der Wahl kam es zu mehreren weiteren Krisen, den verheerenden Bränden im Sommer und der jüngsten Flutkatastrophe in Thessalien. Mitsotakis’ Nea Dimokratia redet jetzt zwar viel über notwendige Reformen und Klimaschutz-Maßnahmen, hat aus Sicht der Kritikerinnen und Kritiker aber nach vier Jahren an der Regierung in dieser Hinsicht nichts vorzuweisen.
So stehen an der Spitze beider Länder frisch gebackene Wahlsieger, die ihre Amtsperioden alles andere als gestärkt beginnen. Derartige innenpolitische Schwäche war in der Vergangenheit oftmals ein Grund, noch lauter und schriller gegen den historischen Erzfeind aufzutreten; doch der Dialog hält an, denn beide Länder verfolgen mit Blick auf die Annäherung eigene Interessen. Erdoğan hat in den vergangenen Jahren konsequent versucht, die Türkei zu einer regionalen Hegemonialmacht auszubauen, während er im Inneren Freiheiten massiv beschnitt. Das hat auch das Verhältnis zu den USA und zur EU schwer belastet. Der türkische Präsident orientierte sich stärker Richtung Russland und verbesserte seine Beziehung mit den Golfstaaten. Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat Erdoğan eine moderate Kehrtwende vollzogen: Sein Versprechen, die Türkei zu einem der „zehn mächtigsten Länder der Welt zu machen“, kann er nicht mit Putins zunehmend isoliertem Russland durchsetzen. Zwar redet er gern über die neue Weltordnung und den Niedergang des Westens. Doch wirtschaftlich und militärisch braucht er die EU, vor allem aber die USA. Nach dem türkischen Kauf von Luftabwehrraketen aus Russland 2017 erließen die USA Sanktionen. Dabei will die Türkei unbedingt amerikanische F-16-Kampfflugzeuge kaufen und ihre in die Jahre gekommene Luftwaffe modernisieren.
Unter Mitsotakis ist das griechisch-amerikanische Verhältnis besonders eng.
Das Verhältnis mit Griechenland ist vor diesem Hintergrund zentral, denn unter Mitsotakis ist das griechisch-amerikanische Verhältnis besonders eng. Die beiden Länder haben ein Verteidigungsabkommen geschlossen und die USA haben ihre Militärpräsenz in Griechenland massiv verstärkt. 2022 wurde Mitsotakis bei einer Rede im US-Kongress gefeiert, in der er gemeinsame Werte und Interessen beschwor. Zwar nannte er die Türkei nicht beim Namen, aber es war klar, wessen „offene Akte der Aggression“ er kritisierte. Damals erklärte ein eingeschnappter Erdoğan, Mitsotakis nie mehr treffen zu wollen. Mittlerweile hat der türkische Staatspräsident seine scharfe Rhetorik heruntergefahren und versucht das Verhältnis zu verbessern. Das gilt in ähnlicher Weise für die türkischen Beziehungen mit Israel. Im Kern geht es dabei um eine Verbesserung der Beziehungen mit den USA und ein Ende der türkischen Isolation im östlichen Mittelmeer.
Neben dieser internationalen Dimension stehen vor allem zwei konkrete bilaterale Konfliktthemen auf der Agenda: Erstens die umstrittenen Hoheitsrechte in der Ägäis und die unterschiedliche seerechtliche Interpretation der „exklusiven Wirtschaftszonen“ – jener Zonen vor der jeweiligen Küste, die unter anderem die Gasförderung erlauben. In den letzten Jahren war es zu teils massiven Spannungen gekommen, sogar militärische Auseinandersetzungen schienen nicht ausgeschlossen. Hier hofft Griechenland auf einen Kompromiss vor dem Internationalen Gerichtshof. Wenn die Konflikte um die Förderung der riesigen Erdgas-Vorkommen im östlichen Mittelmeer enden würden, könnte das massive neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnen. Das wäre auch im Interesse der EU, die noch immer versucht, die Diversifizierung ihrer Energiequellen voranzutreiben. Zweitens geht es um die festgefahrene Zypernfrage, in der die Zeichen zuletzt auf Verhärtung der Fronten standen. Hier besteht die Hoffnung, dass zumindest erstmals wieder Gespräche über vertrauensbildende Maßnahmen und eine Konfliktregelung stattfinden könnten. Die EU hat signalisiert, sich verstärkt engagieren zu wollen.
Erdoğan weiß, dass die NATO und die Europäische Union ihn mindestens so dringend brauchen, wie das umgekehrt der Fall ist.
Zwar hat sich Erdoğans Interessenlage so weit geändert, dass er derzeit auf den Westen zugeht, allerdings weiß er, dass die NATO und die Europäische Union ihn mindestens so dringend brauchen, wie das umgekehrt der Fall ist. Er ist sich seiner Bedeutung als strategischer Partner und Waffenlieferant im Krieg in der Ukraine bewusst. Doch das von ihm eingeforderte Bekenntnis zu einem EU-Beitritt, zuletzt auch an die Frage des NATO-Beitritts Schwedens gekoppelt, ist schlicht unrealistisch: wegen seiner Aushöhlung von Recht und Justiz in der Türkei einerseits, wegen der grundsätzlichen ideologischen Opposition der Konservativen in Europa andererseits. „Die Türkei und die EU können auch getrennte Wege gehen“, polterte der türkische Präsident nach einem kritischen Bericht des EU-Parlaments jüngst. Die Reaktion des türkischen Außenministeriums klang allerdings deutlich konstruktiver: „Aktualisierung der Zollunion und schnelle Visaliberalisierung sind unsere gemeinsamen Prioritäten.“
Angesichts der weiterhin schwierigen EU-Türkei-Beziehungen ist die griechisch-türkische Annäherung eine nicht zu unterschätzende positive Entwicklung. Die USA und insbesondere auch Deutschland haben sich bereits engagiert und sollten noch mehr Gewicht in die Waagschale werfen, um dem griechisch-türkischen Dialog zum Erfolg zu verhelfen. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um ihn nicht nur auf diplomatischer Ebene zu fördern, sondern auch durch einen gesellschaftlichen Austausch zu unterfüttern. Die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei sind vielfältig, es gibt abseits der Politik viel Interesse und auch Sympathie. Ein Austausch auf der Ebene von Zivilgesellschaft, Kunst, Kultur, Tourismus und Wissenschaft könnte ein nachhaltig besseres Verhältnis fördern. Die Alternative wäre eine Rückkehr zur Konfrontation mit fatalen Konsequenzen. Die Türkei würde dann als Partner in der Lösung regionaler Fragen ebenso ausfallen wie als wichtiger Akteur im ukrainischen Kampf gegen die russische Aggression.