Es ist Bewegung gekommen in die Westbalkanpolitik. Das zeigt in den letzten Wochen und Monaten allein schon der dichte Zeittakt von Besuchsreisen und politischen Zusammenkünften in unterschiedlichen Formaten. Der Grund dafür liegt zweifellos in erster Linie in Russlands Krieg gegen die Ukraine sowie dem daraus resultierenden veränderten geopolitischen Blick auf Südosteuropa.

Den Ländern des Westlichen Balkans, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien wurde bereits 2003 in Thessaloniki die klare Perspektive der EU-Mitgliedschaft gegeben. Doch eingelöst wurde das Versprechen bis heute nicht. Der EU-Westbalkan-Gipfel, zu dem die EU-Staats- und Regierungschefs mit ihren Amtskolleginnen und -kollegen fast 20 Jahre nach Thessaloniki am 6. Dezember 2022 zusammengekommen sind, fand nun in Tirana statt und damit erstmals in einer Hauptstadt der Region. Er wird als ein Treffen mit mehr als nur Symbolkraft in Erinnerung bleiben, denn über die übliche Gipfel-Rhetorik hinaus gab es konkrete Beschlüsse: Kooperation im Energiebereich etwa, eine schrittweise Abschaffung der Roaming-Gebühren oder auch Finanzhilfen, mit denen „Asyl- und Aufnahmesysteme“ sowie Grenzschutz gestärkt – mit anderen Worten: irreguläre Migration eigeschränkt – werden soll.

Bemerkenswert ist die gemeinsame Abschlusserklärung aber vor allem wegen der eindeutigen Verurteilung Moskaus: „Russlands eskalierender Aggressionskrieg gegen die Ukraine gefährdet in Europa und global Frieden und Sicherheit und unterstreicht die Bedeutung der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und der Westbalkanregion“, heißt es gleich zu Beginn der Deklaration. Auch Serbien hat dem zugestimmt.

Vom EU-Außenministertreffen und dem Europäischen Rat am 13. und 15. Dezember in Brüssel wird nun allgemein erwartet, dass entsprechend der Empfehlung der EU-Kommission Bosnien und Herzegowina den EU-Kandidatenstatus erhält. Zudem dürfte den Bürgerinnen und Bürgern des Kosovo der Weg frei gemacht werden für die Aufhebung der Visapflicht ab Januar 2024. Dies ist längst überfällig, denn das Land erfüllt die entsprechenden Kriterien bereits seit vier Jahren. Den formalen Antrag auf EU-Mitgliedschaft will die Republik Kosovo noch in diesem Jahr stellen.

Der ungelöste Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien ist zuletzt mehrfach eskaliert.

Die Themen von Tirana standen bereits beim Gipfel des Berliner Prozesses auf der Tagesordnung, zu dem Olaf Scholz am 3. November in die deutsche Hauptstadt eingeladen hatte. Verständigt haben sich die Westbalkanstaaten in Berlin zudem auf die Erleichterung von Reisen innerhalb der Region nur mit Personalausweisen sowie auf Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Studien- und Berufsabschlüssen. Der Berliner Prozess war 2014 von Angela Merkel zur Förderung der regionalen Integration und zur Heranführung der Westbalkanstaaten an die EU ins Leben gerufen worden. Allerdings hatte das Format zwischenzeitlich spürbar an Zugkraft verloren. Merkel setzte bis zuletzt unbeirrt vor allem auf den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić als politischen Partner, ohne dass dieser die in ihn gesetzten Erwartungen auch nur annährend erfüllt hätte. Durch Olaf Scholz, der immer wieder betont, dass die Integration der Westbalkanstaaten zu den wichtigsten Aufgaben der EU gehöre, ist inzwischen nicht nur der Berliner Prozess als Initiative deutscher Westbalkanpolitik unter Beteiligung weiterer EU-Staaten neu belebt worden, sondern auch die Westbalkanpolitik der Europäischen Union.

Trotz aller Fortschritte und offizieller Gipfeleinigkeit zeigen sich jedoch auch nach wie vor die Risse: Der ungelöste Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien, das die Unabhängigkeit seiner ehemaligen Provinz nach wie vor nicht anerkennt, ist zuletzt mehrfach eskaliert. Die kosovarische Präsidentin Vjosa Osmani machte bereits vor dem Tirana-Gipfel deutlich, dass dies nicht die Plattform für Verhandlungen zwischen Belgrad und Prishtina sein werde. Vielleicht auch, weil selbst fünf EU-Staaten das Kosovo noch immer nicht anerkennen. Aleksandar Vučić wiederum brachte im Vorfeld sogar demonstrativ die Möglichkeit seines Fernbleibens ins Spiel. Gekommen ist er dann doch, aber begleitet von aggressiven Tönen, wonach die EU „eine erbärmliche antiserbische Haltung“ habe.

Serbien, das bevölkerungsreichste Land im Westbalkan, hat sich vom Frontrunner unter den Beitrittsaspiranten in ein autoritäres Regime verwandelt, in dem Aleksandar Vučić alles dominiert und kontrolliert. Gleichzeitig wurden Nordmazedonien und Albanien, die ihre Kompromiss- und Reformfähigkeit längst unter Beweis gestellt hatten, durch nationale Egoismen einzelner EU-Mitgliedstaaten ausgebremst. Zuletzt war es Bulgarien, das mit absurden nationalistischen Vorbehalten die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien (und damit auch Albanien) bis zu einem durch Frankreich vermittelten Kompromiss verzögerte. Allen voran war es Nordmazedonien, das trotz des historischen Prespa-Vertrages 2018 mit Griechenland, durch den der Namensstreit beigelegt wurde, schmerzlich feststellen musste, dass der formale Status im Beitrittsverfahren nicht viel bedeutet: Bereits seit 2005 ist das Land Beitrittskandidat, 2009 wurde die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen durch die EU-Kommission empfohlen, eingeleitet wurden sie jedoch erst im Juli 2022.

Trotz aller Fortschritte und offizieller Gipfeleinigkeit zeigen sich jedoch nach wie vor Risse.

Als der Ukraine, Moldau und potentiell auch Georgien in Reaktion auf die russische Aggression im Juni 2022 der Kandidatenstatus gewährt wurde, mussten die Westbalkanstaaten endgültig befürchten, im Beitrittsprozess abgehängt zu werden. Die Beschlüsse und politischen Signale, die seitdem aus Brüssel, aus einigen EU-Mitgliedstaaten und von Gipfeltreffen kommen, sollen dieser Sorge entgegenwirken. Doch ohne neue Ansätze und Instrumente im Beitrittsprozess und ohne EU-interne Reformen – allen voran die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in außenpolitischen Fragen – bleibt das Blockadepotential der Mitgliedstaaten durch die zahlreiche Vetomöglichkeiten vor und während der Beitrittsverhandlungen beträchtlich. Das macht den Fortgang des Beitrittsprozesses für Kandidatenländer selbst dann unberechenbar, wenn sie ihren Teil erfüllen und Reformen umsetzen. Die Folge ist ein andauernder und erheblicher Glaubwürdigkeitsverlust der EU gerade im progressiven, EU-freundlichen Teil der Bevölkerung. Dennoch lag in der Region 2021 gemäß dem Balkan-Barometer die Zustimmungsrate für die Integration in die EU noch bei 62 Prozent.

Insgesamt rund 18 Millionen Menschen leben in den Staaten des Westlichen Balkans. Das sind in etwa so viele wie in Nordrhein-Westfalen und gerade einmal vier Prozent der gegenwärtigen EU-Bevölkerung. Trotz dieser Zahlen wird von Erweiterungsskeptikern gerne das Schreckgespenst bemüht, die EU habe bereits die Grenzen ihrer Integrationskapazität erreicht, was zugleich als Vorwand benutzt wird, um nicht zu tun, was längst überfällig ist: die Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen durch interne Reformen zu verbessern. Dabei gerät selbst nach Beginn des Ukraine-Krieges viel zu häufig aus dem Blick, welche Kosten und Sicherheitsrisiken im Hinblick auf Akteure wie Russland, China und die Türkei ein nicht integrierter Westbalkan mittel- und langfristig für die EU bedeuten würde.

Und dann ist da seit neuestem noch die „Europäische Politische Gemeinschaft“: Im Oktober 2022 in Prag ins Leben gerufen, wirft diese vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron initiierte rein zwischenstaatliche Initiative bislang mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Abgesehen von dem demonstrativen Schulterschluss gegen Russland muss sich noch zeigen, welche Rolle dieses Format neben all den existierenden Strukturen spielen kann. Und es muss sich erweisen, ob das neue Projekt, bestehend aus der Europäischen Union sowie 43 EU- und Nicht-EU-Staaten, als komplementäres Forum eine positive Dynamik in den Prozess der EU-Erweiterung bringt oder nicht.

Aber vor allem darf aus ihr keine Alternative zum Erweiterungsprozess und dem Ziel einer Vollmitgliedschaft aller Westbalkanstaaten werden. Sonst müssten sich die südosteuropäischen EU-Anwärter auf noch längere Zeit im Wartesaal einstellen. Und die EU auf noch mehr berechtigte Enttäuschung in der Bevölkerung der Kandidatenländer. Es ist Bewegung gekommen in die Westbalkanpolitik. Aber die wirklichen Hürden sind noch längst nicht überwunden.