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Die EU und die ungarische Regierung sind in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schon mehrfach aneinandergeraten. Viktor Orbán weiß genau: Seine Spielräume würden sich erheblich verkleinern, wenn die EU die Auszahlung ihrer Mittel von der Befolgung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängig macht. Darum legte Orbán – gemeinsam mit seinen polnischen Verbündeten – ein Veto gegen den EU-Haushalt und den Corona-Aufbaufonds ein, die zusammen ein Volumen von 1,81 Billionen Euro haben, und gefährdet damit den Kampf gegen die Pandemie. Es überrascht nicht, dass die Meinungsverschiedenheiten auf der Videokonferenz des Europäischen Rats am 19. November 2020 nicht beigelegt werden konnten. Die Zeit drängt jedoch, es muss noch vor Jahresende eine Lösung gefunden werden.
In ähnlichen Fällen musste Ungarn in der Vergangenheit – meist nach langem Tauziehen – kleine Korrekturen vornehmen. Die Wirksamkeit solcher Sanktionen war jedoch eher zweifelhaft. So hätte zum Beispiel das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen die sogenannte „Lex CEU“ eigentlich bedeuten sollen, dass Ungarns angesehenste Universität das Recht hat, Studiengänge in dem Land anzubieten. Tatsächlich hatte die Universität sich schon vor einem Jahr fluchtartig aus dem Land zurückgezogen, nachdem die Regierung sie de facto verboten hatte.
Bislang kam Orbán mit seiner Strategie, die Institutionen mutwillig zu zerstören und die Eliten noch reicher zu machen, mehr oder weniger durch. Die EU ist sogar bereit, die Zeche zu bezahlen. Jetzt allerdings bringen Orbáns Machtspielchen womöglich Menschenleben und Existenzen in Gefahr. Mit ihrer Blockade des EU-Haushalts hoffen Orbán und Kaczynski zu erreichen, dass die EU die konditionale Verknüpfung zwischen Mittelauszahlung und Rechtsstaatlichkeit fallenlässt, und nehmen dafür eine Verschärfung der Coronakrise in Kauf.
Orbán hat tatsächlich gute Gründe, beunruhigt zu sein. In meinem neuesten Buch zeige ich auf, dass sein freiheitsfeindliches Regime gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt, um eine perverse Umverteilung zu finanzieren. Die größten Profiteure sind Orbáns Spezis aus dem Freundes- und Familienkreis, die ihren Aufstieg in die ungarische Milliardärsliga den EU-finanzierten Beschaffungsprogrammen verdanken.
Bislang kam Orbán mit seiner Strategie, die Institutionen mutwillig zu zerstören und die Eliten noch reicher zu machen, mehr oder weniger durch.
Laut den Recherchen investigativer Journalisten wurden 94 Prozent der öffentlichen Aufträge, die zwischen 2010 und 2014 an das Unternehmen Elios von Orbáns Schwiegersohn gingen, von der EU finanziert, deren Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF das Unternehmen wegen seiner dubiosen Machenschaften angezählt hat. Noch stärker profitiert Lőrinc Mészáros, Orbáns Freund aus Kindertagen und heute der reichste Mann in Ungarn, vom Geld des europäischen Steuerzahlers: Die Staatsaufträge, für die sein Flaggschiff-Unternehmen den Zuschlag erhielt, wurden zu 99 Prozent aus EU-Mitteln bezahlt. In den ersten vier Monaten des Jahres 2020 erreichte die Korruption den höchsten Stand seit 2005: 41 Prozent aller staatlichen Aufträge wurden ohne Ausschreibung vergeben.
Die öffentliche Auftragsvergabe kommt allerdings nicht nur „politischen Kapitalisten“ zugute. Orbán nutzt sie auch als Instrument, um den Rückgang der Investitionen aus der Privatwirtschaft und aus dem Ausland aufzufangen und auf diese Weise sein Wirtschafts- und Sozialmodell zu festigen. Diese Strategie ist Orbáns polarisierende Antwort auf das bis 2010 praktizierte neoliberale Modell, das mittlerweile ausgedient hat. Sie wird von weiten Teilen der Wirtschaftseliten mitgetragen.
Zugleich wurde das Land wirtschaftlich zunehmend abhängig von EU-Mitteln. In der ersten Hälfte der 2010er-Jahre machten Transferzahlungen der EU rund 50 Prozent der öffentlichen Investitionen aus. Nicht nur Orbáns handverlesene Spezis, sondern alle Unternehmen profitierten vom Wirtschaftswachstum und von der durch die zunehmenden staatlichen Investitionen gestiegenen Nachfrage.
Seit die Regierung die Investitionsvorhaben der öffentlichen Hand aus EU-Mitteln finanzieren kann, stehen ihr die ungarischen Steuergelder für andere Zwecke zur Verfügung. Sie nutzt diese Steuergelder, um die Wirtschaft zu unterstützen. Meine Analyse der direkten Finanzhilfen aus frei verfügbaren Mitteln der ungarischen Regierung ergab, dass sie hauptsächlich an transnationale Konzerne fließen.
Zwischen 2004 und 2010 beliefen sich diese Einzelfallsubventionen insgesamt auf 626 Millionen US-Dollar; im Zeitraum von 2011 bis 2018 verdoppelten die Subventionen sich auf 1,28 Milliarden US-Dollar. Auch das Gesamtvolumen der Subventionen an transnationale Konzerne verdoppelte sich auf 1,3 Milliarden US-Dollar und entsprach damit 76 Prozent des gesamten Subventionsvolumens. Im gleichen Zeitraum wuchs auch der Anteil der Finanzhilfen für einheimische Unternehmen. Von diesem Anstieg profitierten eindeutig nicht Orbáns Kumpane, sondern ein viel breiteres Segment der wirtschaftlichen Elite.
In der ersten Hälfte der 2010er-Jahre machten Transferzahlungen der EU rund 50 Prozent der öffentlichen Investitionen aus.
Mit ausländischen Investoren im Bankwesen, der Medienbranche und der Energiewirtschaft legte Orbán sich überall dort an, wo er Spielräume sah, verstärkt die einheimischen Kapitalbesitzer zum Zug kommen zu lassen. Auf der anderen Seite schloss die Regierung mit technologieintensiven transnationalen Unternehmen im verarbeitenden Sektor „Strategische Partnerschaftsvereinbarungen“, um ihnen ihre Sorgen zu nehmen. Auch Orbáns rigorose Haushaltspolitik, die mit weitreichenden Einschnitten und Sozialabbau einhergeht, kommt bei den Unternehmen gut an.
Zudem hat die Regierung 2016 eine pauschale Körperschaftssteuer eingeführt, die mit neun Prozent die niedrigste in Europa ist und gerade den größten transnationalen Unternehmen erhebliche Vorteile bringt. Steuervergünstigungen sorgen dafür, dass sie noch weniger an den Fiskus zahlen müssen. 2017 betrug der faktische Körperschaftssteuersatz für die 30 größten Unternehmen gerade einmal 3,6 Prozent ihres Gewinns vor Steuern.
Deutsche Autohersteller sind der entscheidende Motor des ungarischen Wirtschaftswachstums und tragen zur Legitimierung der Regierung bei. Zusammen mit ihren ungarischen Zulieferern erwirtschaften sie zehn Prozent des ungarischen Bruttoinlandprodukts. Orbán tut alles, damit sie zufrieden sind und zufrieden bleiben. Betrachtet man die Subventionen im Verhältnis zur Zahl der Arbeitsplätze, stellt man fest, dass im Zeitraum von 2010 bis 2014 zum Beispiel Audi von der ungarischen Regierung viermal so viel Beihilfen erhielt wie vom deutschen Staat.
Neben dem reichen Geldsegen für deutsche Unternehmen investiert Orbáns Regierung außerdem massiv in die Pflege ihrer hervorragenden Beziehungen zu einflussreichen deutschen Wirtschaftskreisen. Der frühere Daimler-Topmanager Klaus Mangold ist ein wichtiger Verbündeter Orbáns. Auch CDU-Mitglied Günther Oettinger spielt eine zentrale Rolle in der deutsch-ungarischen Wirtschaftsdiplomatie. Anfang 2020 nominierte die Regierung ihn für den Co-Vorsitz im neuen ungarischen Rat für Wissenschaftspolitik. In dieser Woche stattete Außenminister Peter Szijjártó deutschen Industriellen eilends einen Beruhigungsbesuch ab. Vor kurzem avancierte Ungarn außerdem zum größten Abnehmer der deutschen Waffenindustrie.
Deutsche Autohersteller sind der entscheidende Motor des ungarischen Wirtschaftswachstums und tragen zur Legitimierung der Regierung bei.
Die guten Geschäftsbeziehungen machen sich auch auf politischer Ebene bemerkbar. Die Europäische Volkspartei (EVP) spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, ernsthafte Sanktionen gegen Orbán zu verhindern, und hält seit zehn Jahren ihre schützende Hand über den ungarischen Premier. Obwohl Ungarn das erste EU-Land ist, das als undemokratisches „hybrides Regime“ eingestuft wird, hat die EVP über die im März 2019 ausgesetzte Mitgliedschaft von Orbáns Fidesz-Partei immer noch nicht endgültig entschieden.
Bei ihrem letzten Ungarnbesuch im August 2019 war Angela Merkel voll des Lobes für Ungarns Umgang mit EU-Mitteln: „Wenn man sich die Wirtschaftswachstumsraten Ungarns anschaut, dann sieht man, dass Ungarn dieses Geld wirklich so einsetzt, dass es auch dem Wohle der Menschen zugutekommt. Deutschland freut sich, hieran mit Arbeitsplätzen beteiligt zu sein.“ Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass nach Meinung des Herausgebers der „Budapester Zeitung“ – einer führenden deutschsprachigen Zeitung in Ungarn – 90 Prozent aller deutschen Unternehmensführer in Ungarn Orbán wählen würden.
In der jetzigen Situation rächt sich der Umgang mit Orbáns illiberaler Politik. Dank der jahrelangen Nachsicht mit seinen Gaunereien konnte Orbán seine Macht festigen. Die Auszahlung von EU-Mitteln an die Bedingung der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen, kann seinem Regime gefährlich werden. Darum nutzt Orbán jetzt seine Macht, um die Europäische Union zu erpressen. Schließlich sind finanziell angeschlagene Mitgliedstaaten wie Italien dringend auf den Aufbaufonds angewiesen, um die Corona-Pandemie bewältigen zu können.
Die meisten europäischen Länder erhöhen ihre Staatsausgaben, um benachteiligte gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen; Orbán hingegen nutzt die Krise, um seine sozialdarwinistische Politik weiterzutreiben, und hält das Haushaltsdefizit so klein wie möglich. Während er die finanzielle Unterstützung durch Europas Steuerzahler gerne annimmt, bleibt Orbán knauserig, wenn es darum geht, die Menschen wirtschaftlich zu entlasten. Durch seine Blockade des EU-Haushalts könnte Orbán auch andere Regierungen in die Situation bringen, dass sie den in prekären Verhältnissen lebenden Bevölkerungsgruppen in ihren Ländern wichtige Unterstützungsleistungen versagen müssen.
Freiheitsfeinde wie Orbán sind, zumal wenn sie sich auch noch von ihren internationalen Helfershelfern ermutigt fühlen, nicht nur eine Gefahr für die Gesundheit der Demokratie, sondern auch für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Es ist gut möglich, dass die europäischen Steuerzahler den Illiberalismus demnächst nicht nur mit ihrem Geld, sondern auch mit ihrer Gesundheit bezahlen. Die EU kann ihr Gesicht in Zukunft nur wahren, indem sie nicht einknickt und sich als entschlossene Beschützerin der Demokratie beweist. Das Europäische Parlament hat sich bereits geweigert, klein beizugeben. Jetzt ist es an den Staats- und Regierungschefs, klare Kante zu zeigen und Ungarn und Polen notfalls damit zu drohen, dass sie den Corona-Aufbaufonds auch ohne sie realisieren.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld