Das Interview führte Claus Leggewie.
Bei den Parlamentswahlen in Ungarn am 3. April hoffen die ungarischen Oppositionskräfte, Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei schlagen zu können. Wenn Sie auf den Wahlausgang wetten würden, worauf würden Sie setzen?
Ich würde mein Geld darauf setzen, dass die Opposition mehr Stimmen bekommt als Orbáns Fidesz-Partei, dass aber die Fidesz ihre parlamentarische Mehrheit behält. Die Aufteilung der ungarischen Wahlbezirke ist derart manipuliert, dass die Opposition, um eine Regierung bilden zu können, mit einem Abstand von 4 bis 5 Prozent gewinnen müsste. Die Ressourcen auf beiden Seiten sind sehr ungleich verteilt. Dazu trägt auch die schamlose Aneignung staatlicher Mittel durch die Fidesz bei. Trotzdem glaube ich, dass das Ergebnis sehr knapp ausfallen wird. Die Opposition hat eine gute Chance, die meisten Stimmen zu bekommen. Aber um die Wahl zu gewinnen, braucht es leider mehr als das.
Im Herbst 2021 lag die Opposition bei den Meinungsumfragen plötzlich vorn – erstmals seit über einem Jahrzehnt. Wie kam das?
Die Vorwahlen der Oppositionsparteien waren ein massiver Erfolg und haben einen erheblichen Teil der Wählerschaft mobilisiert. Vielen Menschen wurde damit klar, dass die Rückkehr eines demokratischen öffentlichen und politischen Lebens möglich ist. Endlich war die kritische Masse aktiver Bürgerinnen und Bürger erkennbar, die nötig ist, um das bestehende Regime effektiv herauszufordern. In manchen Oppositionskreisen nimmt der Pessimismus derzeit zu, ich bin aber überzeugt, dass der Opposition eine noch größere Mobilisierung gelingen wird.
Wie ist es der Opposition gelungen, nach so vielen gescheiterten Versuchen der Zusammenarbeit, dieses Mal vereint anzutreten?
Dass sich die Opposition einigen konnte, war ein wichtiger Erfolg und ein echter Wendepunkt in der ungarischen Politik. Der Sieg der Oppositionsparteien bei den Kommunalwahlen 2019 an wichtigen umstrittenen Orten hat für einen enormen psychologischen Auftrieb gesorgt. Der Hauptgrund für diesen Wandel ist meiner Ansicht nach jedoch in Orbáns irrationaler, autoritärer Politik zu sehen. Erst nachdem sich die Fidesz eindeutig in eine autoritäre Richtung entwickelt hatte, hat die Opposition zusammengefunden. Eigentlich ist die Einheit der Opposition genau das, was Orbán am stärksten hätte vermeiden müssen. Trotzdem hat er mit seiner zunehmenden Radikalisierung erheblich dazu beigetragen.
Bei der Wahl treten nun sechs Parteien – von links bis rechts – in einem Bündnis an: Sie haben sich darauf verständigt, in allen 106 Wahlkreisen jeweils nur einen Kandidaten gegen die Fidesz antreten zu lassen. Denjenigen mit den besten Chancen für ein Direktmandat, egal aus welcher Partei.
Wie beurteilen Sie den Wandel der Jobbik-Partei, die früher rechtsradikal war und inzwischen gemäßigt konservativ ist?
Vor ein paar Jahren noch schienen die Aussichten für eine vereinte Opposition nicht groß. Das lag hauptsächlich an der Jobbik. Mittlerweile sind sich die zentralen Akteure der Opposition allerdings über die wichtigsten Themen ziemlich einig. Außerdem ist das Vertrauen zwischen ihnen immer mehr gewachsen. Man muss auch im Hinterkopf behalten, dass die meisten ungarischen Parteien nicht besonders ideologisch sind und ihre Mitgliederzahlen eher niedrig sind. Trotzdem bleibt die Mitwirkung von Jobbik kontrovers. Allerdings sind weder die Partei noch ihre Stammwählerschaft heute so radikal wie die Fidesz und ihre Hauptunterstützer. Jobbiks anti-autoritärer Widerstand gegen Orbáns Regime ist zwar rechtspopulistisch geprägt, scheint aber echt zu sein. Mit Jobbik zu kooperieren, stellt sich also als das kleinere Übel dar.
Der Hoffnungsträger der Opposition ist Péter Márki-Zay, ein Bürgermeister aus der Provinz.
Er ist ein enttäuschter ehemaliger Fidesz-Unterstützer. Ein marktfreundlicher Konservativer, ein prinzipientreuer Mensch mit klaren Ansichten. Er hat das Potential, den Teil der Wählerschaft zu vertreten, der in den letzten Jahren trotz zunehmender Probleme widerwillig die Fidesz gewählt hat.
Ungarn ist ein Land, in dem Mitte-rechts-Kräfte dominieren könnten, momentan aber kaum durch eine Partei vertreten sind. Ich schätze Márki-Zay als Mitte-Rechts-Politiker. Ob er die Opposition in einen großen gemäßigten Block zusammenführen kann oder ob sie als hauptsächlich linksliberale Kraft neu entstehen wird, wird sich wohl erst in den nächsten Jahren entscheiden.
Welche Macht- und Manipulationsmöglichkeiten hat Orbán, um die Wahl zu seinen Gunsten zu beeinflussen?
Orbán verfügt praktisch über alle entscheidenden Mittel zur Machtausübung und Manipulation. Viel zu viele, um nächste Woche eine freie und faire Wahl zu ermöglichen. Fast zwanzig Jahre lang hat er sein Regime aufgebaut. Ein Regime, das darauf beruht, Institutionen direkt und indirekt zu kontrollieren, den Zugriff auf wichtige Ressourcen zu einem Privileg zu machen und die dominante Partei mit dem ungarischen Staat zu verschmelzen. Die wahlrechtlichen Bestimmungen, die die Fidesz im Alleingang eingeführt hat und die sie eindeutig begünstigen, sind ein wesentlicher Teil dieser Verzerrungen. Und natürlich ist auch die weitreichende Kontrolle über die Medien ein entscheidender Vorteil.
Obwohl die Fidesz auf ihrem Weg zu einer immer autoritäreren und demagogischen Partei von einer reichen Elite unterstützt wurde, verlagert sich ihre Wählerschaft nun stärker auf die ländliche Bevölkerung und ältere, weniger wohlhabende oder schlechter ausgebildete Teile der Gesellschaft. Angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens muss Orbán hier viele Menschen mobilisieren, um wiedergewählt zu werden. Das Kontrollmonopol, das seine Partei an vielen kleinen Orten aufgebaut hat, könnte dabei ein entscheidender Vorteil sein.
Im Fall eines Wahlsiegs der Opposition stehen die größten Herausforderungen noch bevor: Sie müsste eine Regierung mit einer stabilen Mehrheit bilden und die von der Fidesz betriebene strukturelle Deformierung der Demokratie beseitigen. Gibt es Entwicklungen, die bereits irreversibel sind?
Die Fidesz in den letzten Jahren viel getan, um zu gewährleisten, dass ihre Leute ihre Posten auch nach einem Regierungswechsel behalten werden können. Da die Regierung in den letzten Monaten zunehmend damit rechnen musste, die Wahlen zu verlieren, hat sie diese Bemühungen noch verstärkt. Beispielsweise wurden wichtige staatliche Funktionen, darunter auch höhere Bildungseinrichtungen, vor kurzem an private Stiftungen ausgelagert.
Diese erhebliche strukturelle Deformation rückgängig zu machen und in Ungarn wieder eine funktionsfähige liberale Demokratie einzuführen, wird einige Jahre dauern. Nachdem die staatlichen Institutionen mehr als ein Jahrzehnt einer illiberalen Logik gefolgt sind, muss dort der Geist der liberalen Demokratie erst wieder eingeführt werden.
Fraglich ist, was eine neue Regierung mit einfacher Mehrheit überhaupt tun können wird, um die Änderungen rückgängig zu machen, die die Fidesz mit ihrer Zwei-Drittel-Supermehrheit in den letzten Jahren umgesetzt hat. Eine Möglichkeit könnten Volksabstimmungen sein. Die Regierung muss überdies gewährleisten, dass sich ein anti-demokratischer Trend, wie ihn das Land erlebt hat, nicht wiederholen kann, und dass in der ungarischen Gesellschaft ein Konsens entsteht, eine solche Politik klar abzulehnen. Und eine Priorität sollte natürlich sein, die enge Abstimmung und Einigung mit den europäischen Partnern zu suchen.
Der Europäische Gerichtshof hat Polen und Ungarn gerade eindeutig verurteilt. Wie wurde dies von der ungarischen Opposition aufgenommen?
Die ungarische Opposition sowie die Mehrheit der Bevölkerung sind weiterhin sehr europafreundlich eingestellt. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wurde grundsätzlich so interpretiert, dass Orbáns Freunde zukünftig keine europäischen Mittel mehr bekommen können.
Viele empfinden allerdings die europäische Reaktion auf Orbáns Vorgehen seit 2010 als ziemlich enttäuschend. Nach dem Übergangsprozess und den vielfältigen Beitrittskriterien, die Ungarn erfüllen musste, hatte die Opposition darauf gehofft und wohl auch erwartet, dass die EU auf den demokratischen Niedergang des Landes viel robuster reagieren würde. Die Opposition blieb positiv gegenüber Europa und dem Westen eingestellt, während Orbán auf immer dreistere Weise grundlegende Normen verletzte. Indem sie das Orbán-Regime seit Jahren toleriert, riskiert die EU, die demokratischen, pro-europäischen Kräfte des Landes von sich zu entfremden.
Wie eng ist das Bündnis zwischen den beiden „Störenfrieden“ in der EU, Ungarn und Polen? Und wie bewerten Sie den Zusammenhalt mit den beiden anderen Visegrád-Staaten, Tschechien und der Slowakei?
Was die EU-Politik angeht, werden Polen und Ungarn in diesen Tagen häufig in einem Atemzug genannt. Und manchmal werden solche Äußerungen sogar auf die vier Visegrád-Staaten (V4) erweitert. Tatsächlich sind Polen und Ungarn innerhalb der EU ein pragmatisches Bündnis eingegangen und nutzen sich gegenseitig als Schutzschild. Die innenpolitischen Umstände in den beiden Ländern – und ihre außenpolitischen Orientierungen – sind jedoch keineswegs identisch. Und irgendwelche Schlüsse gar auf die V4 auszudehnen, halte ich für zu stark vereinfachend. Ein Narrativ über einen regionalen Block, der vom liberalen Westen abweicht und ihn herausfordert, würde lediglich Kaczyński und Orbán in die Hände spielen.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen der russischen Invasion auf die Wahlen ein? Orbán hat die EU-Linie gegen Putin halbherzig mitgetragen. Schadet es ihm, wenn ihn die Ungarn als Mini-Putin sehen?
Bei früheren Wahlen spielten außenpolitische Fragen kaum eine Rolle. Mit dem Krieg kann sich das nun ändern. Damit ist nämlich eine wichtige außenpolitische Strategie Orbáns zusammengebrochen: innerhalb der EU als engster Verbündeter Putins aufzutreten. Oder gar, wie es manchmal heißt, als sein Trojanisches Pferd. Die Offenlegung des vollständigen politischen und moralischen Scheiterns dieses Ansatzes, sollte der Opposition große Möglichkeiten bieten.
Die Fidesz versucht sich derzeit als „Friedenspartei“ zu inszenieren und die Opposition als militant und kriegstreiberisch darzustellen. Ein Großteil der Fidesz-nahen Medien verbreitet allerdings weiterhin Putins Version der Ereignisse. Orbán ist – als ewiger Opportunist – in diesem Moment der Krise in den Schoß der EU zurückgekehrt. Er hat sogar das in Ungarn verbotene Wort „Flüchtling“ wieder erlaubt, um fliehende ukrainische Bürger willkommen zu heißen.
Mit seiner Putin-freundlichen Propaganda der letzten Jahre hat Orbán seine Unterstützerbasis sicherlich beeinflusst. Falls die die Opposition einen Weg findet, die Folgen des prinzipienlosen und gefährlichen Handelns der Regierung offenzulegen, könnten auch viele von Orbáns Freunden seine eklatanten Widersprüche bemerken.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff