Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.

In wenigen Tagen wird der britische Premierminister Boris Johnson nach dem Ende der Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union einen „dünnen“ Deal in Händen halten oder ganz ohne Deal dastehen. Ich glaube nicht, dass die Frage „Deal oder kein Deal“ ihn besonders beschäftigt. Und ich glaube auch nicht, dass er sich schon für eine der beiden Optionen entschieden hat. Unter dem Strich macht es auch keinen großen Unterschied.

So oder so wird das Vereinigte Königreich Zollschranken zur größten Freihandelszone der Welt errichten und einem geopolitischen Partner zur Unzeit den Rücken kehren, der darauf erpicht ist, auf seine strategische Autonomie hinzuarbeiten. Der Unterschied besteht allein darin, ob das Ganze mit einem Knall oder mit einem Winseln über die Bühne geht.

Das Finanzministerium hat errechnet, dass bei einem Deal, der nur den Warenverkehr regelt, Großbritannien – betrachtet über einen Zeitraum von 15 Jahren – sich auf einen wirtschaftlichen Einbruch in der Größenordnung von 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gefasst machen muss. Kommt es zu keinem Deal, ist für den gleichen Zeitraum mit 7,7 Prozent zu rechnen. Zum Vergleich: Covid-19 hat das BIP in weniger als zwölf Monaten um 9,7 Prozent einbrechen lassen.

Da die Zeit schon so weit fortgeschritten ist, wird es ab 1. Januar selbst mit Deal zu einem Zusammenbruch kommen. Ohne Deal wird dieser Zusammenbruch heftiger ausfallen, doch für Johnson sind Krisen etwas Ergötzliches. Seine erste Amtshandlung als Premierminister bestand darin, dem Parlament nach dem Sommer 2019 eine Zwangspause zu verordnen, bis die Judikative ihm Einhalt gebot. Sein zweiter Streich war die Ankündigung vorzeitiger Neuwahlen im Dezember und der dritte die chaotische Strategie zur Pandemiebekämpfung.

Niemand kann es mit Sicherheit sagen, aber das ganze bisherige Verhalten der Regierung deutet darauf hin, dass sie sich die No-Deal-Option bis zum Schluss offenhalten wird, in der Hoffnung, dass die EU im letzten Moment nachgibt und ihr den Zugang zum Binnenmarkt zu Konditionen anbietet, die Großbritannien einen einseitigen Vorteil bringen.

Ohne Deal wird der Zusammenbruch heftiger ausfallen, doch für Johnson sind Krisen etwas Ergötzliches.

Dass die konservative Regierung und ihre große Wählerbasis so unbekümmert sind, wie diese entscheidende Phase ausgeht, hat in Wahrheit einen anderen Grund: Beide haben kein klares strategisches Ziel mehr vor Augen.

2018 war das Ziel eindeutig. Man wollte die EU verlassen und in einer sich von der Finanzkrise erholenden Weltwirtschaft ein frei schwebendes „globales Großbritannien“ werden. Was in Europa an Möglichkeiten verlorenginge, würde bei Weitem ausgeglichen durch das Chancenpotenzial des Handels mit der Anglosphäre, China und Indien. Die Verluste wären auf jeden Fall gering. Im Juli 2018 holte Johnsons Vorgängerin Theresa May sich die Zustimmung ihres Kabinetts für ihren Plan, als Gegenleistung für faire Wettbewerbsbedingungen einen reibungslosen Warenverkehr auszuhandeln.

Ein Jahr später riss Johnson die Kontrolle über die Partei an sich, entfernte deren liberalkonservative Führungskader und krempelte die strategische Vision von Grund auf um. Als „Britain Trump“ (sic!) sah er sein Land künftig als Teil eines atlantischen Handelsblocks, als Verbündeten und militärischen Außenposten der USA. Eingebettet in eine sich neu herausbildende großmachtpolitische Ordnung stellte er sich vor, dass Großbritannien eine eigenständige, neo-merkantilistische Freibeutermacht bleibt.

Diese Vision legte Johnson im Februar 2020 im Londoner Old Royal Naval College dar, dessen Geschichte ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Dabei erklärte er lässig, von Überreaktionen auf das Coronavirus werde er sich nicht von seinem Kurs abbringen lassen. Covid-19 jedoch stürzte die britische Regierung in schwere Verwirrung. Sie geriet auf allen operativen Ebenen ins Trudeln.

Und dann kam Joe Bidens Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen. Johnsons politische Entourage war mit dem unmittelbaren Umfeld von Donald Trump gut vernetzt. Sie hat wohl ebenso wie Trump geglaubt, dass die Meinungsumfragen falsch lagen und eine Kombination aus Wahlergebnis und Wahlmanipulation dafür sorgen würde, dass Trump im Weißen Haus bleibt. Warum sonst hätten sie sich mit dem neuen Binnenmarktgesetz (Internal Market Bill), das den britischen „Binnenmarkt“ in der Zeit nach dem Brexit regelt und in dem ausdrücklich mit dem Verstoß gegen internationales Recht gedroht wird, die EU und Bidens Team zum Gegner machen sollen?

Mit oder ohne Deal wird das Vereinigte Königreich in einer neuen geopolitischen Realität stranden.

Das Fazit lautet: Mit oder ohne Deal wird das Vereinigte Königreich in einer neuen geopolitischen Realität stranden. Die Welt ist dabei, sich zu entglobalisieren – vielleicht nicht so katastrophal wie in den 1930er-Jahren, aber wer weiß?

Die USA werden als strategische Macht weiter absteigen. China wird aufsteigen und die dominierende Rolle in der neu gegründeten RegionalComprehensive Economic Partnership (RCEP) übernehmen, die einen Handelsblock von 15 Ländern bildet, und die EU wird das Doppelziel der technologischen Souveränität und strategischen Autonomie verfolgen.

Und wo ist Großbritanniens Platz in dieser neu entstehenden Ordnung? Auf lange Sicht ist es sehr wahrscheinlich, dass die USA sich weiter abschotten und einen zweiten Trump hervorbringen werden. Würden die Tories noch, um mit Leo Trotzki zu sprechen, in „Jahrhunderten und Kontinenten denken“, könnten sie vielleicht Bidens Präsidentschaftsjahre aussitzen und nach 2024 versuchen, mit einer Republikaner-Regierung ein strategisches Handelsabkommen auf die Beine zu stellen. Doch im Augenblick ist einfach alles in Bewegung.

Die Tories folgen im Grunde keiner „Grand Strategy“ und brauchten das in der Vergangenheit auch nicht. Sie saßen an der Peripherie der EU und spielten die Rolle des „perfiden Albion“, wenn es um soziale Rechte ging, heimsten aber die finanziellen Vorteile ein – ein bisschen so wie der Croupier im Spielcasino: Die Bank gewinnt immer – und sei es nur ein bisschen.

Auf lange Sicht ist es sehr wahrscheinlich, dass die USA sich weiter abschotten und einen zweiten Trump hervorbringen werden.

Ab jetzt ist der progressive Flügel der britischen Politik in der Pflicht, groß zu denken und sich eine klare Strategie zuzulegen. Die EU wird in der Mitte des 21. Jahrhunderts als souveräne und strategisch autonome Macht dastehen. Entweder man hält sie davon ab oder schließt sich ihr an – und sei es nur als Satellit.

Die Linke – damit meine ich die Wählermehrheit, die sich gegenwärtig dem Liberalismus, der Sozialdemokratie, den Grünen oder einem progressiven Nationalismus zugehörig fühlt – muss sich auf eine EU-orientierte Haltung verständigen. Mit anderen Worten: Sie muss strategisch ein anderes Handelsabkommen oder, wenn kein Deal zustande kommt, eine umfassende Vereinbarung mit der EU nach norwegischem Vorbild anstreben.

Im Augenblick will niemand im linken Spektrum – dessen Zersplitterung Johnson aufgrund des Mehrheitswahlrechts seine satte Mehrheit in Westminster beschert – in diesen Kategorien denken. Die Labour Party hat Angst, dass sie die eingebüßten Wahlkreise der sogenannten „Red Wall“ nie zurückgewinnen wird. Die Scottish National Party freut sich derzeit an der Möglichkeit eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums, seit die Umfragen auf wachsende Zustimmung nördlich der Grenze hindeuten. Sinn Féin will, dass ganz Irland sich für immer aus dem Vereinigten Königreich verabschiedet. Und die Liberaldemokraten orientieren sich zwar gerade wieder nach links, haben aber seit ihrer Bruchlandung im vergangenen Dezember, die ihrer Überheblichkeit geschuldet war, viel Vertrauen verspielt.

Weite Teile der Wirtschaft, der akademischen Welt, der Gebildeten und der Jugend haben immerhin die Notwendigkeit erkannt, sich für die Zukunft in Richtung Europa zu orientieren. Im Augenblick herrscht politischer Stillstand. Niemand denkt derzeit strategisch – und der Abgrund rückt zusehends näher.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.