Es begann mit vielen toten Nerzen. Mindestens 13 Millionen von ihnen wurden mitten in der tiefsten Corona-Zeit im November 2020 gekeult und vergraben. Somit wurde das komplette Zuchtnerz-Gewerbe in Dänemark de facto zwangsaufgelöst. Dies geschah auf Befehl der Pandemie-Task-Force der sozialdemokratischen Regierung, welche nach alarmierenden Risikoeinschätzungen des dänischen Serum-Instituts (SSI) befürchtete, dass die dänische Nerz-Industrie ein „neues Wuhan“ werden könnte, da das Coronavirus begonnen hatte, in den kleinen Raubtieren zu mutieren und wieder auf Menschen zurückzuspringen. Binnen weniger Wochen hatten die Polizei und der Zivildienst Millionen von Tieren getötet und entsorgt. Nur wenige Dänen trauerten dem verpönten Pelz-Gewerbe nach.

Trotzdem ist der sogenannte Nerz-Skandal die direkte Ursache der vorgezogenen Wahlen am 1. November und zugleich der wichtigste Angriffspunkt der bürgerlichen Opposition. Denn kurz nach dem Keulungsbefehl erwies sich, dass die Gesetzesgrundlage dafür nicht in Ordnung gewesen war. Diese wurde zwar im Parlament nachträglich verabschiedet, aber da war der Schaden bereits angerichtet: Eine Untersuchungskommission wurde beauftragt, die Verantwortung für den Gesetzesbruch zu ermitteln. Diese kam im Juni 2022 zu dem Ergebnis, dass die Regierung und ihre Top-Beamten grobe Dienstvergehen begangen hatten, indem sie aufgrund der Eile, die Pandemie zu bremsen, jegliche rechtlichen Bedenken ignoriert hatten.

Obwohl Mette Frederiksen persönlich laut dem Kommissionsbericht „nicht vorsätzlich“ gehandelt hatte, klebt das Prädikat „machtvollkommen“ nun mehr denn je an der 42-Jährigen und ihrer Regierung. Einer der Stützparteien von Frederiksens Minderheitsregierung, Radikale Venstre (progressiv-liberal), wurde es zu viel: Die Vorsitzende Sofie Carsten Nielsen verlangte, dass Mette Frederiksen statt im Frühsommer 2023 schon dieses Jahr Neuwahlen ausschreiben müsse und gab bekannt, dass eine erneute Unterstützung einer sozialdemokratischen Alleinregierung für sie nicht in Frage komme. Diesmal müsse es ein breiteres Koalitions-Projekt werden, um der „Machtvollkommenheit“ von Frederiksen & Co. entgegenzuwirken.

Mit einer Situation, in der ihr das als Ministerpräsidentin zustehende souveräne Recht der Wahlausschreibung förmlich entrissen worden ist, hatte Mette Frederiksen sicherlich nicht gerechnet, als sie vor knapp dreieinhalb Jahren im Juni 2019 ins dänische Staatsministerium einzog. Als langjährige Kronprinzessin von Dänemarks größter Partei sowie frühere Arbeits- und Justizministerin war sie bestens für den Job vorbereitet gewesen. Zudem war sie Teil eines Brain Trusts von führenden jüngeren Sozialdemokraten, welche sich in den Oppositionsjahren nach der verlorenen Wahl 2015 dazu entschlossen hatten, die Partei neu zu erfinden. Sie beschlossen, sich auf die „ursprünglichen Arbeiterwurzeln“ zu besinnen, und sich voll und ganz hinter die Werte und kulturellen Präferenzen dieser Gruppe zu stellen. Dies führte zu einem doppelten ideologischen Ruck der dänischen Sozialdemokraten – in der Ausländer- und Migrationspolitik nach rechts und in der Sozial- und Verteilungspolitik (ein wenig) nach links. Ein Konzept, welches bei den Wahlen 2019 erfolgreich die entscheidenden Stimmen aus der politischen Mitte zurück in den sogenannten „roten Block“ holte.

Die rote Mette Frederiksen war für viele Bürger „Mor Mette“ geworden – die Mutter der Nation.

Mette Frederiksen nahm damals den Staatsministerposten mit viel Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit ein. Es war sehr deutlich, dass die ambitionierte Regierungschefin mit ihrer Ein-Parteien-Regierung dafür sorgen wollte, etwas zu bewegen. Als nach einem guten halben Jahr die Pandemie kam, zeigte Frederiksen mit ihrem schnellen und resoluten Lockdown überzeugende Commander in Chief-Qualitäten. Das mochten die Dänen. Ein Jahr nach ihrem Amtsantritt lagen die Sozialdemokraten in Umfragen bei über 33 Prozent – acht Punkte über ihrem Ergebnis von 2019. Die rote Mette Frederiksen war für viele Bürger Mor Mette geworden – die Mutter der Nation.

Doch mit den langandauernden Pandemie-Restriktionen, dem Nerz-Skandal sowie der auch in Dänemark eskalierenden Inflation und der generellen Unsicherheit gab es eine wachsende Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung. Als die Verkündung von Neuwahlen im Spätsommer unumgänglich wurde, lagen die Sozialdemokraten in den Umfragen deutlich unter dem Wahlergebnis von 2019. Eine kommende Mehrheit des bürgerlichen „blauen Blocks“ und ein Machtwechsel sahen sehr wahrscheinlich aus.

Aber Mette Frederiksen ist eine gute Taktikerin. Sie zog die Entscheidung so lange es ging in die Länge und als sie dann am 5. Oktober endlich vom Rednerpult des Folketing Neuwahlen verkündete, tat sie es mit einem neuen, humorvollen und viel milderen Image – und einer Riesenüberraschung. Plötzlich wollte die sonst so eigensinnige Regierungschefin – die immer gemeint hatte, „sozialdemokratische Politik macht man am besten in einer sozialdemokratischen Regierung“ – eine breite Regierung der politischen Mitte, im Klartext: eine große Koalition. Ihre Begründung dafür ist, dass es in diesen Krisenzeiten in erster Linie um Sicherheit gehe (sowohl militärische als auch finanzielle und soziale) und dass pragmatische Lösungen sowie „eine sichere Hand“ gefordert seien. Dass diese Hand auch in einer Koalition am besten ihr selbst gehören sollte, brauchte sie gar nicht erst formulieren.

Dieser neue Kurs könnte funktionieren. Sehr viele Wählerinnen und Wähler befürworten eine breite politische Zusammenarbeit. Die Zahlen der Sozialdemokraten haben sich im Wahlkampf erheblich verbessert und liegen nun stabil bei 25 bis 27 Prozent. Es zeichnet sich aber eine völlig neue politische Landschaft im 6-Millionen-Einwohner-Land ab. Es treten ganze 14 Parteien an, da sich insbesondere rechts von der Mitte seit der letzten Wahl neue Gruppierungen gebildet haben. Nicht zuletzt reden deshalb Beobachter von einem kommenden „Erdrutsch“, da sehr viele Wählerinnen und Wähler anscheinend vorhaben, eine andere Partei zu wählen als 2019.

Es zeichnet sich aber eine völlig neue politische Landschaft im 6-Millionen-Einwohner-Land ab.

Besonders die Migrations- und Ausländerpolitik, welche in Dänemark jahrzehntelang ein entscheidendes Wahlthema gewesen ist, ist ein Beispiel für die neuen Tendenzen der dänischen Politik. Einerseits geht es für Mette Frederiksen immer noch darum, den harten Kurs in der Asyl- und Integrationspolitik fortzusetzen, damit ihr nicht unterstellt werden kann, „weich“ geworden zu sein. Denn es sind besonders die Arbeiterinnen und Arbeiter außerhalb der großen Städte, die traditionell wegen gerade dieser Frage den Rechtspopulisten ihre Stimmen gegeben haben – und dadurch mehrmals bürgerlichen Regierungen die Macht verschafft haben.

Gleichzeitig haben wir hier so etwas wie einen „Rechtspopulismus 2.0.“, da die erste Generation in Form der Dänischen Volkspartei – vor sieben Jahren noch über 20 Prozent und stärkste bürgerliche Partei – förmlich implodiert ist und möglicherweise unter der Sperrgrenze von nur 2 Prozent landen könnte. Dafür gibt es aber neue und subtilere Nachfolger, unter ihnen die dänische „Trumpine“ Inger Støjberg, frühere bürgerlich-liberale Integrationsministerin, welche letztes Jahr vom Reichsgericht zu 60 Tagen Haft verurteilt wurde, aber jetzt schon mit ihrer neugegründeten Partei Danmarksdemokraterne voraussichtlich 7 bis 8 Prozent der Stimmen bekommen wird.

Auch Pernille Vermund von Nye Borgerlige ist eine erfolgreiche Hardlinerin, die einen totalen Asylstopp fordert. Die beiden klassischen bürgerlichen Parteien, Venstre (bürgerlich-liberal) und die Konservativen, versuchen mit Hilfe dieser Rechtspopulisten und den ultra-liberalen von Liberal Alliance eine Mehrheit rechts von der Mitte zu bilden. Sollte dies gelingen, würde die Migrationspolitik sicherlich noch weiter verschärft werden. Aber eine solche „blaue Koalition“ scheint 2022 kein Erfolgskonzept mehr zu sein. Denn es gibt mittlerweile auch bürgerliche Parlamentarierinnen (und viele Wähler) die begonnen haben, die Härte der dänischen Migrationspolitik in Frage zu stellen, seitdem sich die Beispiele häufen, wie brutal und unlogisch diese häufig im Einzelfall wirkt.

Unter anderem deshalb kann ein verblüffendes „Comeback-Kind“ entscheidend werden: der frühere zweimalige Regierungschef Lars Løkke Rasmussen. Er hat nach einem unschönen Abgang aus Venstre eine neue Partei, Moderaterne, gegründet, die weder rot noch blau sein will, sondern lila. Ein Projekt, welches darauf besteht, „vernünftige“ Lösungen anzubieten, um die „realen“ Probleme Dänemarks zu bewältigen. Rasmussen gibt zu, in seiner früheren Amtszeit mit den eskalierenden Verschärfungen in der Ausländerpolitik Fehler begangen zu haben. Mit seiner Strategie ist es ihm geglückt, in einem Monat von 0 auf 10 Prozent in den Umfragen zu wachsen. Der 56-jährige exzellente Redner und Wahlkampf-Profi wünscht sich, wie auch die Sozialdemokraten, eine „breite, links-rechts überschreitende Koalition“.

Dies ist jedoch nicht unbedingt eine gute Nachricht für Mette Frederiksen. Denn „Løkke“, wie er von fast allen Dänen genannt wird, teilte mit, er habe ein Vertrauensproblem mit ihrer Person und würde nach den Wahlen auf eine neutrale Untersuchung ihrer strafrechtlichen Verantwortung in der Nerz-Affäre bestehen müssen, bevor er sie eventuell erneut zur Regierungschefin machen wolle. Dies wäre jedoch höchstwahrscheinlich ein Dealbreaker für die Sozialdemokraten.

Manche Beobachterinnen und Beobachter erwarten, dass der mit allen Wassern gewaschene Survivor der dänischen Politik, Løkke Rasmussen, noch ganz andere Pläne im Ärmel hat und womöglich im letzten Moment versuchen wird, sogar selbst nach der Macht zu greifen. So könnte die vor Kurzem noch unschlagbar scheinende Sozialdemokratin Frederiksen letzten Endes doch noch über ein kleines Pelztier stolpern, obwohl sie sich gegen ihren eigenen Instinkt zur Großen Koalition bereit erklärt hat.