Das zerstörerische Erdbeben in der Türkei und in Nordsyrien vom 6. Februar mit über 40 000 Toten und unzähligen Verletzten löste international großes Entsetzen und viel Mitgefühl aus. „Hilfsangebote aus hundert Ländern, 7846 Retter aus 77 Ländern vor Ort“, verkündete das türkische Außenministerium nach den Rettungseinsätzen der ersten Woche. Auch wenn jede einzelne Geste von der Türkei dankbar zur Kenntnis genommen wurde, stach ein Land besonders hervor: Zu den ersten Staaten, die Hilfe schickten, gehörte der Nachbar Griechenland. Dabei herrschte zwischen beiden Ländern zuletzt eine so aggressive Rhetorik, dass manche Beobachter sogar eine militärische Konfrontation für möglich hielten. „Wir können ganz plötzlich eines Nachts kommen“, sagte der türkische Präsident Recep Erdoğan mehrfach mit Blick auf die nahe gelegenen griechischen Ägäisinseln. Im Dezember drohte er, die neuen in der Türkei produzierten Tayfun-Raketen könnten Athen treffen, wenn Griechenland sich nicht „ruhig verhalte“. Griechische Politiker schäumten, die Türkei verhalte sich wie Nordkorea und nicht wie ein NATO-Verbündeter. Begleitet wurden die Aussagen von entsprechend schrillen Tönen in den Medien beider Länder.
All das ist nach der Katastrophe im äußersten Südosten der Türkei vorerst vergessen: Griechische Spitzenpolitiker äußerten ihr Mitgefühl. Zum ersten Mal seit Monaten nahm Erdoğan einen Anruf des griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis entgegen – nachdem der türkische Präsident vor Monaten erklärt hatte, nie mehr mit diesem sprechen zu wollen. Eine Woche nach dem Erdbeben besuchte der griechische Außenminister Nikos Dendias das Erdbebengebiet, Seite an Seite mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu. „Die griechischen Bemühungen werden jetzt nicht enden“, sagte er. „Griechenland wird alles tun, um die Türkei zu unterstützen, sei es bilateral oder als Mitglieder der EU.“ Çavuşoğlu dankte für die „übermenschlichen Anstrengungen“ – man habe gesehen, dass nicht nur die Retter, sondern alle Griechen Anteil genommen hätten.
Und das stimmt: In zahlreichen griechischen Städten standen Menschen an Sammelstellen Schlange, um zu spenden. In den sozialen Medien reihten sich unter den Solidaritätsnachrichten auf Twitter türkische und griechische Fähnchen. Die sonst in ihrem Ton nicht gerade gemäßigten griechischen Zeitungen riefen zur Hilfe auf, berichteten über die griechischen Rettungsteams und sinnierten über einen Neuanfang in den angespannten griechisch-türkischen Beziehungen. Die türkische Hürriyet, die sonst ihrerseits wortgewaltig gegen griechische Politiker wettert, schrieb auf ihrer Titelseite in großen Lettern: „Efcharisto poli“ – „Vielen Dank“.
Auch mit einem anderen Nachbarn ereignet sich Historisches: Armenien schickte Hilfe und der Grenzübergang Alican wurde zum ersten Mal seit 35 Jahren geöffnet – damals ausgerechnet für türkische Hilfslieferungen bei einem Erdbeben auf der armenischen Seite. Das bilaterale Verhältnis ist nicht nur wegen des osmanischen Genozids an den Armeniern angespannt, den die Türkei nicht anerkennt, sondern auch wegen der türkischen militärischen Unterstützung für Aserbaidschan im jüngsten Konflikt.
Viele fühlen sich dieser Tage an das Jahr 1999 erinnert.
Viele fühlen sich dieser Tage an das Jahr 1999 erinnert: Die damalige Annäherung nach einem ähnlich schlimmen Beben im Westen der Türkei ging als „Erdbeben-Diplomatie“ in die Geschichte ein. Dieses Ereignis prägte auch die Konfliktforschung, die seitdem fragt, unter welchen Bedingungen positive zwischenstaatliche Entwicklungen aus solchen Naturkatastrophen folgen können. So wurden die Chancen auf einen Dialog zwischen den Vereinigten Staaten und Iran nach dem Erdbeben im Südwesten Irans mit 25 000 Toten im Jahr 2003 oder der Einfluss des Erdbebens in Kashmir mit über 86 000 Toten im Jahre 2005 auf die indisch-pakistanischen Beziehungen untersucht.
Aber in keinem Fall wurde eine solche 180-Grad-Wende dokumentiert, wie nach dem Erdbeben im Nordwesten der Türkei im August 1999, als über 18 000 Menschen ums Leben kamen. Griechenland bot umgehend Hilfe an, griechische Rettungsteams gehörten zu den ersten vor Ort. Die Anteilnahme war enorm. Einen Monat später wankte die Erde in Athen, deutlich schwächer zwar, aber insgesamt 143 Menschen starben – nun standen türkische Helfer bereit. Da beide Länder durch Erdbeben stark gefährdet sind, verfügen sie über entsprechende Spezialkräfte.
Die gegenseitige Hilfe war deshalb so bemerkenswert, weil eine beispiellose Krise vorausgegangen war: Am 15. Februar 1999 hatte ein türkisches Spezialkommando den flüchtigen PKK-Chef Abdullah Öcalan beim Verlassen des Compounds der griechischen Botschaft in der kenianischen Hauptstadt Nairobi in seine Gewalt genommen. Dass Griechenland dem Staatsfeind Nummer 1 offenbar Unterschlupf gewährt hatte, sorgte für grenzenlose Empörung in der Türkei. Die stets zurückgewiesenen Vorwürfe schienen bestätigt, dass Griechenland die PKK bei Angriffen auf den türkischen Staat unterstütze.
Infolgedessen mussten drei griechische Minister zurücktreten. Aber die türkische Wut war so groß, dass ein Krieg nicht ausgeschlossen schien, 25 Jahre nach der bewaffneten Konfrontation in Zypern, die zur Teilung der Insel geführt hatte. Ausgerechnet nach diesem Tiefpunkt folgte die „Erdbeben-Diplomatie“: Es gab nicht nur eine beispiellose Welle bilateraler Besuche und Freundschaftsbekundungen, sondern auch konkrete Entscheidungen: Griechenland gab beispielsweise seinen grundsätzlichen Widerstand gegen den Status der Türkei als EU-Beitrittskandidat auf, so dass der Prozess beginnen konnte.
2015 setzte eine zunehmende Entfremdung ein.
Auch in den ersten Jahren der Erdoğan-Ära hielt das verbesserte Verhältnis an, bis 2015 eine zunehmende Entfremdung einsetzte. Das Thema der Geflüchteten sorgte für Spannungen zwischen der Türkei und der EU. Mit der weltweit höchsten Zahl von knapp vier Millionen Flüchtlingen im Land sind allerdings auch erhebliche Herausforderungen verbunden, was bei den berechtigten Vorwürfen, Erdoğan instrumentalisiere die Flüchtlingsfrage, oft vergessen wurde.
Vor allem haben die Spannungen aber mit geopolitischen Ansprüchen zu tun: Im Rahmen der „Mavi Vatan“-Strategie („Blaues Vaterland“) verfolgt die Türkei ihre eigenen Interessen im östlichen Mittelmeer. Währendessen schmiedete Griechenland 2019 mit dem Eastern Mediterranean Gas Forum ein Bündnis mit Zypern, Ägypten und Israel, das die Ausbeutung und Vermarktung der vorhandenen Gasreserven voranbringen sollte. Die Türkei, welche die maritimen Grenzen mit Griechenland und Zypern nicht anerkennt, blieb außen vor.
2023 wird dem sogenannten „Bevölkerungsaustausch“ gedacht.
Die aktuelle Annäherung bietet die realistische Chance für einen Neubeginn. Auch wenn in beiden Ländern im Frühjahr Wahlen anstehen und beide Regierungschefs ihre Ämter verlieren könnten. In der Türkei wächst die Kritik an Erdoğan, nicht zuletzt wegen seines Krisenmanagements. Mitsotakis steht im Mittelpunkt eines Abhörskandals. Doch Wahlkampf auf dem Rücken des Nachbarn zu betreiben, ist nun plötzlich keine Option mehr. Zumal die türkische und die griechische Bevölkerung mehr als deutlich gemacht haben, dass sie nicht an der Feindschaft interessiert sind.
Die griechisch-türkische Geschichte bietet mindestens so viel Verbindendes wie Trennendes und ist zu großen Teilen eine gemeinsame Geschichte. 2023 wird dem sogenannten „Bevölkerungsaustausch“ gedacht, der im Lausanner Vertrag kodifizierten Vertreibung von 1,2 Millionen Griechen aus der Türkei und von 400 000 Muslimen aus Griechenland vor 100 Jahren. Damit endete weitgehend eine Jahrhunderte alte Koexistenz im Osmanischen Reich. Jahrzehntelang sehnten sich die jeweiligen Vertriebenen nach ihrer alten Heimat. Eine Wertschätzung des gemeinsamen Kulturerbes und der noch vorhandenen Minderheiten in beiden Ländern wären ein guter Ausgangspunkt für eine Verbesserung des Verhältnisses; denn heute sorgt die Re-Islamisierung der byzantinischen Hagia Sophia in Istanbul ebenso für Kritik, wie der Verfall einstiger osmanischer Moscheen in Thessaloniki.
Erfolgsaussichten hat die „Erdbeben-Diplomatie“ nur dann, wenn auch konkrete Schritte folgen.
Aber Erfolgsaussichten hat die „Erdbeben-Diplomatie“ nur dann, wenn auch konkrete Schritte folgen: Diese sollte die internationale Gemeinschaft unterstützten. Gerade Deutschland könnte hier eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn man sich zuletzt auf die Seite des EU-Mitglieds Griechenland stellte, ist Deutschland traditionell auch ein enger Partner der Türkei. Und die Solidarität mit den Opfern, unter denen viele Verwandte deutscher Bürger mit türkischen Wurzeln waren, ist auch in Deutschland groß. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für die Bundesregierung, eine Konfliktregulierung im östlichen Mittelmeer zu unterstützen. Eine Einbeziehung der Türkei in das Eastern Mediterranean Gas Forum könnte dabei ein zentraler Schritt in diese Richtung sein.
Während des Besuchs von Dendias erzählte der türkische Außenminister, dass er im Jahre 1999 als einfacher Bürger einen Leserbrief an das TIME Magazine verfasst habe. Darin habe er sich dafür ausgesprochen, dass Griechenland und die Türkei nicht bis zum nächsten Erdbeben warten sollten, um ihre Beziehungen zu verbessern. Diese Absicht gilt es jetzt zu erneuern. Sie muss genutzt werden, so dass aus dieser furchtbaren Tragödie etwas Positives erwachsen kann.