Finnland und Schweden nehmen Kurs Richtung NATO. Zweifellos eine Bestätigung des Epochenwechsels, der sich gerade vollzieht. Schweden zieht damit einen Schlussstrich unter seine 200 Jahre alte außenpolitische Doktrin. Für Finnland gehen über 80 Jahre Neutralität zu Ende. Die Beitrittsdiskussionen zeigen auch, dass beide Länder künftig einerseits auf eine engere nordische Sicherheitskooperation hoffen und andererseits bei der Gestaltung neuer europäischer Sicherheitsstrategien mitreden möchten. Manche Kommentatoren werten ihr Beitrittsgesuch gar als wegweisend für die künftige Sicherheitspolitik in Europa.

In beiden Ländern kritisieren vor allem Konservative seit Jahren die Neutralität. Sie sei verwässert und greife ohnehin nur im Krieg. Schweden und Finnland – zwei der sechs neutralen Staaten in Europa – hätten sich außerdem mit ihrem EU-Beitritt 1995 politisch und mit der NATO Partnership for Peace 1994 militärisch positioniert. Beide Länder blieben bündnisfrei, aber waren gleichzeitig Teil von NATO-Manövern und investierten in kompatible Waffensysteme.

In beiden Ländern wurde Neutralitätspolitik immer wieder neu interpretiert, vor allem als Reaktion auf die historischen Veränderungen in Europa.

Historisch wurde Finnland durch die Sowjetunion quasi zur Neutralität verpflichtet. Die schwedische Doktrin war dagegen ein wichtiger Teil der nationalen Identität. Der Wohlfahrtsstaat im Herzen des nordischen Models, die innenpolitische Säule der schwedischen Identität, konnte vor allem aufgebaut werden, weil das neutrale Land von den zerstörerischen Folgen des Zweiten Weltkriegs verschont blieb. In beiden Ländern wurde Neutralitätspolitik immer wieder neu interpretiert, vor allem als Reaktion auf die historischen Veränderungen in Europa. Sie musste dabei durchaus Spannungen aushalten, beispielsweise zwischen der stattlichen schwedischen Rüstungsindustrie und dem hohen Engagement für Abrüstung.

Sowohl Schweden als auch Finnland erlangten durch ihre Neutralität ein erhebliches internationales Renommee auf dem Gebiet der Konfliktlösung, der Menschenrechte und der Friedensarbeit. Wenn ein NATO-Eintritt dieses Engagement infrage stellt, entsteht dadurch in der internationalen Ordnung eine gefährliche Leerstelle.

„Die Blockfreiheit hat uns gut gedient“, betonte Magdalena Andersson, die sozialdemokratische Premierministerin Schwedens, als sie die 180-Grad-Wende ihrer Partei verkündete. Und wiederholte damit das Mantra, das Olof Palme, der frühere Premierminister und Internationalist, der Partei seit jeher vorgegeben hatte. „Aber“, erklärte Andersson pragmatisch, „wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sie uns in Zukunft nicht mehr so gut dienen wird“. Zu diesem Ergebnis war die Partei nach heftigen Diskussionen gekommen, die emotional auf allen Ebenen geführt wurden. Im Zentrum der Debatte: die Frage der nuklearen Abschreckung.

Aus Sicht einiger Kritiker trägt der Beitritt zu einem Bündnis, das seine Strategie auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen gründet, nicht zur Sicherheit bei, sondern erzeugt mehr Unsicherheit.

Aus Sicht einiger Kritiker trägt der Beitritt zu einem Bündnis, das seine Strategie auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen gründet, nicht zur Sicherheit bei, sondern erzeugt mehr Unsicherheit. Für sie leistet die Neutralität einen Beitrag zur Deeskalation aktueller und zukünftiger Krisen. Aus ihrer Sicht verhält sich die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur komplementär zur NATO. Die NATO-Außenperspektive betrachten sie als strategischen Vorteil.

Einflussreiche Sozialdemokraten sprachen sich gegen den Beitritt aus. Die Hälfte aller sozialdemokratischen Parlamentarier ebenso wie viele Landesverbände blieben ablehnend. Doch die Kritiker wurden überstimmt. Fünf der acht Parlamentsparteien sprachen sich für den Beitritt aus und polarisierten das Thema. Lediglich Grüne und Linke blieben bei ihrem Widerstand. Hinzu kommt, dass die schwedische Innenpolitik angesichts starker rechtspopulistischer Bewegungen unter Druck steht und im Herbst die nächsten Wahlen sind. Insgesamt also keine leichte Situation für die schwedische Regierung.

Die neue sozialdemokratische Position entschied letztlich die Mehrheit im Parlament. Trotz der demokratischen Debatte bleibt im harmoniebedürftigen Schweden ein Nachgeschmack. Man wendet sich einer neuen Identität zu, die alles andere als klar ist. Und aus schwedischer Sicht vollzieht sich das alles in schwindelerregender Geschwindigkeit.

In Schweden blieben die Hälfte aller sozialdemokratischen Parlamentarier ebenso wie viele Landesverbände ablehnend.

Während Anderssons Rede wurde deutlich, dass ihr besonders die Lage an der finnisch-russischen Grenze Sorgen macht. Die nordischen Länder kooperieren traditionell eng. Ein – wie auch immer gearteter – Angriff auf eines von ihnen hätte Auswirkungen auf den ganzen Norden. Das Vertrauen in die nordische Solidarität hat zuletzt allerdings stark gelitten. Die Pandemie hat, was Zusammenarbeit im Krisenfall betrifft, viele Hoffnungen enttäuscht.

In beiden Ländern hat die Bevölkerung derzeit Angst. Man ist sich einig, dass Russland rote Linien überschritten hat. Finnlands 1 300 Kilometer lange Grenze mit Russland ist schlecht zu sichern und gab schon immer Anlass zur Vorsicht. Die konkreten Befürchtungen rangieren von nicht-militärischen Faktoren wie einem unkontrollierten Migrationsaufkommen, politischer Einmischung in Wahlen, Desinformationskampagnen, Cyberattacken bis hin zu (atomarer) Mobilmachung an der Grenze.

Die nachvollziehbare Sorge Finnlands hat wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine über Nacht zum Meinungswechsel und zu einer überwältigenden Mehrheit für den Beitritt geführt: 76 Prozent der Finninnen und Finnen befürworten diesen. Im Nachbarland Schweden liegt die Zustimmung demgegenüber nur bei 53 Prozent. Finnland ist bis heute vom historisch schwierigen Verhältnis mit Russland geprägt. Die Erinnerung an den Winterkrieg von 1939 bleibt präsent. Russland ist bis heute ein Feindbild. Dass Finnland auf die lauernde Bedrohung vorbereitet ist, zeigt unter anderem die beeindruckende Zahl von Reservisten.

In Finnland führte die nachvollziehbare Sorge wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine über Nacht zum Meinungswechsel und zu einer überwältigenden Mehrheit für den Beitritt.

Die Bedrohungsszenarien sind mit dem Angriff auf die Ukraine realer geworden. Finnland hat Schweden in der Beitrittsdebatte vor sich hergetrieben. Sanna Marin, die sozialdemokratische Premierministerin Finnlands, war – im Gegensatz zu ihrer schwedischen Kollegin Magdalena Andersson – auch schon länger von einem Beitritt überzeugt. Die außenpolitische Richtlinienkompetenz liegt zwar in Finnland bei Sauli Niinistö, dem konservativen Staatspräsidenten, aber die Positionen beider politischer Lager mit Blick auf die nationale Sicherheit ähneln sich. Bereits Anfang des Jahres hatten Marin und Niiniströ betont, dass Finnland sich immer die Option eines NATO-Beitritts offenhalte. Die Entscheidung pro NATO wurde bei nur acht Gegenstimmen in Finnland nahezu konsensual getroffen, was auch die nationale Einigkeit stärkte.

Russland behauptet, es sei aus Angst vor der NATO in die Ukraine eingedrungen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Nebenprodukt der russischen Invasion nun die Norderweiterung der NATO und die Verdopplung ihrer Außengrenze zu Russland ist. Die baltischen Staaten haben eine hohe Erwartungshaltung, was die Sicherung des Ostseeraums angeht. Langfristig wird aber auch die Arktis – bisher von der NATO vernachlässigt – sicherheitspolitisch relevant. Die Auswirkungen des Klimawandels dort bergen nicht nur Gefahren geopolitischer und strategischer Natur, sondern vor allem auch für die menschliche Sicherheit im arktischen Lebensraum und weltweit. Letztere sind nicht militärisch, sondern nur mit umfassenden Sicherheitskonzepten lösbar. Das wirft Fragen mit Blick auf die mittel- bis langfristigen Ziele der NATO auf.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Nebenprodukt der russischen Invasion nun die Norderweiterung der NATO und die Verdopplung ihrer Außengrenze zu Russland ist.

Wer dachte, die Entscheidung beider Länder sei die größte Beitrittshürde, wurde durch den türkischen Präsidenten Erdogan eines Besseren belehrt. Mit seinem Widerstand schaffte er es, den erhofften fast track der NATO zu stoppen. Seine politische Motivation sind nationalistische Sicherheitsinteressen. Die Türkei will durch geschicktes Verhandeln politische Gewinne erzielen – vor allem, dass Schweden den Mitgliedern der kurdischen PKK kein Asyl mehr gewährt. Sie will den NATO-Verbündeten zeigen, dass sie eine Stimme hat, und will ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit Moskau offenhalten.

Die NATO kann sich glücklich schätzen, dass mit der beabsichtigten Norderweiterung nicht nur zwei gut ausgerüstete Streitkräfte in ihre Reihen stoßen, sondern auch zwei friedliebende und dialogorientierte demokratische Vorzeigeländer mit sozialdemokratischen Regierungen, die Erfahrungen und Werte in die aktuellen und zukünftigen Strategiediskussionen des Verteidigungsbündnis einbringen.