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Das Brexit-Referendum war eine binäre Entscheidung. Drinbleiben oder Rausgehen aus der EU waren die beiden Optionen. Die Folgen der ersten Option waren klar: Es bleibt, wie es ist. Die Folgen der zweiten Option schienen je nach Standpunkt rosig oder finster, aber definitiv unklar. Seit diesem Referendum ringt das Land um einen Weg aus diesem Dilemma und die Gräben werden tiefer. Die Brexit-Befürworter sind immer weiter nach rechts abgedriftet und der Austritt ohne Abkommen scheint mitsamt seiner negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft inzwischen eine vollkommen akzeptierte Option zu sein. Die konservativen Tories werden in wenigen Tagen einen neuen Parteichef wählen, die beiden verbliebenen Kandidaten versuchen sich an Härte beim Brexit zu überbieten. Und natürlich ist der No-Deal für beide ein gangbarer Weg.
Labour dagegen hat es geschafft, alle Seiten gleichermaßen zu enttäuschen. Mit einer Wischiwaschi-Haltung aus „Respekt vor dem Referendum“, „Gräben im Land schließen“ oder „Kompromisslösung finden“ haben sie Remainer wie Leaver gleichermaßen verprellt und dafür bei den Europawahlen mit 18 Prozent auch die Quittung bekommen. Bei einer Bevölkerung, in der die Brexit-Loyalität inzwischen die Parteiloyalität bei weitem überlagert, wird der Versuch zu vermitteln nicht belohnt, sondern bestraft.
Darauf hat die Partei jetzt reagiert und ihre Haltung geändert. Nach langen auch in der Öffentlichkeit ausgetragenen Querelen hat sich Corbyn nun entschieden und Labour eindeutiger positioniert. Die Partei tritt für ein zweites Referendum ein. Jeder mögliche Deal soll der Bevölkerung vorgelegt werden und Labour wird für den Verbleib in der EU eintreten.
Man könnte Labour als Partei gegen den Brexit bezeichnen, solange sie noch in der Opposition sind und als Pro-Brexit-Partei, sobald sie die Wahlen gewinnen. Wie sie mit dieser Position die Wähler überzeugen wollen, bleibt ihr Geheimnis.
Jeder Deal? Nein, nur ein Deal, der von einer konservativen Regierung ausgehandelt wird. Denn, so klar die Haltung von Corbyn auf den ersten Blick scheint, so vage wird es auf den zweiten oder dritten. Die Referendum-und-Remain Politik gilt nur für Labour in der Opposition. Sollte Corbyn es vor dem 31. Oktober in die Downing Street No. 10 schaffen, würde Labour natürlich versuchen, selbst einen Brexit-Deal auszuhandeln. Respekt vor dem Referendum, nicht vergessen! Auch dieser Deal würde dann der Bevölkerung vorgelegt werden – Demokratie eben – aber selbstredend würde Corbyn dann nicht gegen seinen eigenen Deal agitieren, sondern Labour fest auf der Seite des Brexits verankern.
Inwiefern dieser Labour-Brexit sich substantiell vom landesweit verhassten Deal von Theresa May unterscheiden würde, bleibt schleierhaft. Klar, oder? Man könnte also Labour als Partei gegen den Brexit bezeichnen, solange sie noch in der Opposition sind und als Pro-Brexit-Partei, sobald sie die Wahlen gewinnen. Wie sie mit dieser Position die Wählerinnen und Wähler überzeugen wollen, bleibt ihr Geheimnis.
Die neue wie die alte Brexit-Politik von Labour versucht krampfhaft, zwei Gräben zu überbrücken. Der eine Graben verläuft zwischen den Wahlkreisen der Partei. Labour repräsentiert einerseits die Wahlkreise mit der höchsten Ablehnung des Brexits und andererseits aber auch Wahlkreise mit sehr hoher Zustimmung zum Brexit. Die unentschiedene, oder positiver formuliert, überbrückende Position soll es ermöglichen, dass keine Wählergruppe verprellt und damit ein Wahlsieg von Labour erschwert wird.
Der zweite Graben verläuft innerhalb der Partei, mitten durch das Schattenkabinett und die Führung von Labour. Hier liefern sich beide Seiten seit Monaten einen heftigen Kampf. Im einen Lager treten Parteigranden wie der stellvertretende Parteivorsitzende Tom Watson dafür ein, dass Labour für Remain eintritt und sich klar gegen den Brexit positioniert. Dagegen verwahren sich Kollegen wie Jon Trickett, einer der wichtigsten Corbyn-Verbündeten im Schattenkabinett. Sie bestehen darauf, dass Labour das Referendum respektiert und deshalb auch einen Brexit liefert.
Die nun drei Jahre währende Taktiererei kratzt am Nimbus des Labour-Vorsitzenden Corbyn.
Der interne Disput bei Labour und die weiterhin eher trübe, als klare Brexit-Position beschleunigen zwei Entwicklungen. Erstens: Das Profil der anderen Parteien wird schärfer und Labour verliert sowohl an die Brexit-Partei von Farage, als auch an die klar für Remain eintretenden Grünen und vor allem die Liberaldemokraten. Inwiefern der wahrscheinliche neue Vorsitzende der Tories Boris Johnson dazu beitragen wird, dass sich verschreckte Remainer dann doch an Labour wenden, ist unklar, gerade weil sie damit rechnen müssten, dass Corbyn dann eben doch den Brexit durchzieht.
Zweitens kratzt die nun drei Jahre währende Taktiererei am Nimbus des Labour-Vorsitzenden. Corbyn profitierte bei seiner Wahl durch die Mitglieder und danach bei den Parlamentswahlen 2017 von der Aura des Außenseiters und Underdogs, der aber klare und offene Worte findet. Damit grenzte er sich positiv von den smarten Strategen von New Labour ab und gab der Partei ein menschliches Antlitz. Sein Taktieren rund um den Brexit hat diese Aura verfliegen lassen. Corbyn hat versucht, den Brexit als Steigbügel zur Macht zu nutzen und sich in dieser Frage damit genauso verhalten wie ein Großteil der Tories. Der Brexit hat mithin auch zur Entzauberung des Phänomens Corbyn beigetragen.
Die neue Haltung von Labour ist nur der bislang letzte Versuch, Klarheit nach außen und Ruhe nach Innen zu erzeugen. Das Ablaufdatum dieser Position dürfte bald erreicht sein. Im September steht der Parteitag an, bei dem es sicherlich wieder heftige Debatten darüber geben wird, wie sich Labour denn nun zum Brexit verhält. Die vielen pro-europäischen Aktivisten werden massiven Druck auf die Parteiführung ausüben. Spätestens wenn Boris Johnson Premierminister wird und seine Konfrontationsstrategie gegen die EU durchzieht, wird Corbyn aufs Neue mit der Frage konfrontiert werden: Nun sag, wie hast Du’s mit dem Brexit? Seine Antwort wird wohl ähnlich blumig und vage ausfallen wie bisher, wenn auch nicht so schön gereimt wie bei Goethes Faust.