Immer donnerstags wird im österreichischen Kanzleramt Politik gemacht. Oder das, was der konservative Parteiführer Sebastian Kurz und seine Prätorianer unter Politik verstehen. Dann trifft sich der engste Kreis der türkis-grünen Koalitionsmannschaft, um die Themen der nächsten Woche zu besprechen. Was ist medial gut verwertbar, was weniger schlagzeilenträchtig? Wo hält die Message-Control, die rigide Steuerung politischer Botschaften, wo braucht es einen extra Spin? Nicht nur in solchen Momenten gleicht der Kanzler mehr dem kurzatmigen Chefredakteur eines Boulevardblattes, der in Kampagnen der nächsten Tage denkt. Und nicht einem Staatsmann mit Perspektiven für die nächste Generation.
Vier Jahre lang kaschierte diese perfekt eingespielte Marketingmaschinerie die völlige Absenz eines politischen, moralischen und ideologischen Kompasses. Neuer Stil, Zeit für Neues! Die Oberfläche glänzte; bis vor kurzem passten auch noch die Umfragen. Erst vor vier Jahren ist Kurz als Antithese zu seiner Partei und dem ausgelaugten, großkoalitionären Parteiensystem angetreten. „Projekt Ballhausplatz“ hieß sein Plan für die Machtübernahme.
Aus der alten, in die Jahre gekommenen christlich-sozialen Volkspartei, Parteifarbe Schwarz, wurde eine auf jugendlich getrimmte rechtspopulistische Bewegung in Türkis. Statt auf die Große Koalition, Rot-Schwarz, setzte Kurz zuerst auf ein Bündnis mit der rechtsextremen FPÖ, Türkis-Blau, dann, nach dem Platzen des Ibiza-Skandals und Neuwahlen, auf eine öko-nationalistische Fortschrittskoalition mit den Grünen, Türkis-Grün. Hauptsache anders, Hauptsache unter Kontrolle, oder, wie es in einer der vielen im Zuge von Korruptionsermittlungen aufgetauchten Chat-Nachrichten aus Kurz' innerstem Machtzirkel so schön heißt, „steuerbar".
Erschreckend ist die antidemokratische, autoritäre Hybris, die sich aus dieser Sitten-Dreistigkeit ableiten lässt.
Selbst Österreichs konservative Kommentatoren finden jetzt die richtigen Worte, um Kurz' Garde als das zu beschreiben, was sie immer schon war: die etwas feschere und professionellere Ausgabe klassischer Parteibonzen. Makellos faltenfrei, aber in der Denke greis wie eh und je. Machtpolitisch geeicht in der brutalsten Karriereschmiede der ÖVP, jener Niederösterreichs. Am Ende aber nichts anderes als das typische Produkt einer Partei, die seit 36 Jahren das Land mitregiert und dabei den absolutistischen „L'état c'est moi“-Anspruch verinnerlicht hat.
Was ist passiert? Nach dem Platzen des Ibiza-Skandals arbeitet ein Untersuchungsausschuss des österreichischen Parlaments das Thema politische Korruption auf. Eigentlich sollte vor allem die FPÖ ins Visier genommen werden. Schnell zeigte sich, dass auch die ÖVP in Freunderlwirtschaft, wie man in Österreich Korruption gerne nennt, verstrickt ist. Konkret fanden sich auf dem Handy des Chefs der Österreichischen Staatsbeteiligungsgesellschaft, Thomas Schmid, hunderte von Nachrichten, die ein grausiges Licht auf die türkisen Praktiken werfen. Mittlerweile laufen gegen den Kanzler, den Finanzminister, den Staatsholding-Chef und den Kabinettschef des Kanzlers Ermittlungen. Kurz wird Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss vorgeworfen.
Um davon abzulenken, wählte Kurz in den letzten Wochen die Strategie Angriff als die beste Verteidigung. Die ermittelnde Korruptionsstaatsanwaltschaft wird als befangen und parteiisch beschimpft. Akten aus dem Finanzministerium wurden in den U-Ausschuss erst dann geliefert, als der Verfassungsgerichtshof den Bundespräsidenten einschaltete – ein in Österreich noch nie dagewesenes Vorgehen. Das folgt dem rechtspopulistischen Muster der Eliten- und Institutionenkritik. Kurz scheint sich keiner Instanz verantwortlich zu fühlen.
Dass diese „türkise Schnöseltruppe“ (O-Ton: Werner Kogler, Chef der Grünen) den Staat führt, als wäre es ihre Partei, und dabei Freunderlwirtschaft praktiziert wie eh und je, ist weniger ernüchternd als die Art und Weise, wie sie es tut. Aus den Kurznachrichten, die im engsten türkisenen Kreis verschickt wurden, spricht blanker Zynismus, gepaart mit Misogynie und einer süßlichen Unterwürfigkeit. Erschreckend ist die antidemokratische, autoritäre Hybris, die sich aus dieser Sitten-Dreistigkeit ableiten lässt. Solche Codes kennt man sonst nur aus Sekten oder der Mafia. Man müsse „Weiber“ für den Aufsichtsrat der Staatsholding finden, heißt es etwa an einer Stelle, für die „Scheißquote“ (gemeint ist die gesetzlich verpflichtende Frauenquote).
Man will sich gar nicht vorstellen, was Kurz und seine Mannen chatteten, als der Kanzler die unabhängige Justiz angriff.
Man will sich gar nicht vorstellen, was Kurz und seine Mannen chatteten, als der Kanzler die unabhängige Justiz angriff, die Kontrollrechte des Parlaments ignorierte oder Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs als „juristische Spitzfindigkeiten“ abtat. Tippte er dann vielleicht auch „Ja super. Bitte Vollgas geben“ ins Handy, jene Worte, mit denen er seinen Vertrauensmann im Finanzministerium, Generalsekretär Thomas Schmid, lobte, nachdem er die österreichische Bischofskonferenz zu erpressen versucht hatte? Kurz missfiel, dass die Kirchen Kritik an seiner harten Flüchtlingspolitik übten, daraufhin drohte Schmid ihnen mit neuen Steuern. „Rot, dann blass, dann zittrig“ sei der Kirchenmann geworden, rapportierte Schmid an Kurz stolz.
„Das Parlament hat bestimmt, das Volk wird entscheiden“, jener maliziöse Slogan, mit dem Kurz in die Nationalratswahlen 2019 ritt, nachdem ihm das Parlament nach Platzen des Ibiza-Skandals das Vertrauen entzog, sagt mehr über ihn und sein Politikverständnis aus, als ihm heute lieb ist.
Populist zu sein ist keine Schande. Das Volk muss seine Führer schon verstehen. Aber Opportunist und Populist gleichzeitig zu sein, einer, der das System ausnützt, das er zu kritisieren vorgibt, geht sich nicht einmal für den „Wunderknaben“ Kurz aus. So landet man nur im Glaubwürdigkeitsfanal, da hilft auch keine noch so ausgeklügelte Message-Control. Schon gar nicht vor der europäischen Öffentlichkeit.
Die Marke Kurz ist ruiniert, in Wien wie in Brüssel. Die Auslandspresse hat ihr Urteil über Kurz und seine Volten rund um den letzten EU-Gipfel zur Verteilung von Impfstoffen gefällt. In Wien posierte der Kanzler als Robin Hood jener Länder, die am innereuropäischen Ampullen-Basar zu kurz gekommen waren. In Brüssel drohte er mit Blockaden, sollte Österreich nicht auch eine Extra-Lieferung bekommen. Dabei gehört die Republik gar nicht zu den Benachteiligten.
Die Marke Kurz ist ruiniert, in Wien wie in Brüssel.
In Österreich liegt Kurz in Umfragen noch vorn, gleichzeitig ist die Meinung aber gespalten, ob er zurücktreten soll, wenn Anklage wegen Falschaussage vor dem Parlament gegen ihn erhoben wird. Das Ausmaß des Frevels muss erst sickern. Kurz hat bereits angekündigt, weiterregieren zu wollen, selbst wenn er verurteilt wird.
In Wien halten Beobachter auch Neuwahlen als Flucht nach vorne für nicht ausgeschlossen. Schon wieder wählen, noch dazu, wenn der Parteichef vor Gericht steht? Offenbar nimmt sich Kurz ein Vorbild an seinem väterlichen Mentor, Israels Premier Benjamin „Bibi“ Netanjahu. Hauptsache, man bleibt an den Schalthebeln. Netanjahu ist seit 2009 Premier und hat sein Amt seitdem in vier (!) vorgezogenen Neuwahlen verteidigt: 2013, 2015, 2019 und 2020. Er stand 2020 wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit vor Gericht, dagegen wirkt die drohende Anzeige wegen Falschaussage im U-Ausschuss gegen Kurz wie ein Lausbubenvergehen.
Marketing statt Politik, Postenschacher statt Reformen, Zynismus statt christliche Soziallehre: Will Kurz nicht als jüngster Altpolitiker in die politische Zeitgeschichte eingehen, müsste er sich spätestens im Wahlkampf für Neuwahlen neu erfinden. Dass er unglaublich wandelbar sein kann, hat er in den letzten vier Jahren bewiesen. Dass er auf Stimmungen zu surfen versteht, auch. Fehlen nur noch Haltung und Substanz.