Als Putin in Minute 18 seiner insgesamt halbstündigen Geschichtslektion zu erklären versuchte, wie sich aus der Herrschaft der Saporoger Kosaken im Jahre 1654 der jetzige Anspruch Russlands auf die Ukraine ableite, musste sogar Tucker Carlson kurz lachen. Zu absurd war die Geschichtsstunde des russischen Präsidenten. Aber das missglückte Interview war mehr als eine vertane PR-Chance, sondern auch ein weiterer Beweis für den Abstieg der Person Putin. Um die Tragweite dieses Auftritts zu verstehen, lohnt es sich, das Interview im Kontext einer Welt zu betrachten, die Putin über Jahrzehnte erbaut hat, in der er sich aber selbst immer weniger zurechtzufinden scheint.
Über Putins Vergangenheit und Leben abseits der Politik ist relativ wenig bekannt, er schirmt sein Privatleben rigoros von der Öffentlichkeit ab, um die Anzahl und Identität seiner Kinder ranken sich zahlreiche Gerüchte. Enthüllungen über Paläste und Reichtümer lassen schon lange an der Inszenierung des bescheidenen Staatsdieners zweifeln. Daran aber, dass Putin über viele Jahre Agent des sowjetischen Geheimdienstes KGB gewesen ist, meldete über die Jahre kaum irgendjemand Zweifel an. Zu sehr passt er in das gemeingeläufige Bild des Geheimagenten: schweigsam, berechnend, kühl. Selbst Putins ungewöhnlicher Gang ist ein Überbleibsel seiner Vergangenheit. Der KGB Walk, bei dem der rechte Arm starr an der Hüfte verweilt, sollte im Ernstfall ein schnelles Ziehen der Waffe ermöglichen.
Was sich also selbst in die Art Putins, sich zu bewegen, eingebrannt hat, wirkt bis weit in die Politik hinein. Stück für Stück hat der russische Präsident seinen Staatsapparat nach dem Vorbild des früheren Geheimdienstes umgebaut, einen Posten nach dem anderen mit ehemaligen Weggefährten besetzt. Obwohl die Auflösung des KGB bereits mehr als 30 Jahre zurückliegt, muss man mit Blick auf die Männer im innersten Regierungszirkel des Kremls feststellen: Der ehemalige Geheimdienst ist kein Staat im Staate mehr, er ist der Staat.
Diese Gruppe der in Russland als Silowiki bezeichneten Politiker mit Putin an ihrer Spitze teilen neben ihrer Macht und ihrem Reichtum vor allem eins: Sie alle wurden in jungen Jahren durch den sowjetischen Geheimdienst sozialisiert. Damit einher geht nicht nur eine bestimmte Sicht auf die Rolle, die Russland in der Welt spielen sollte, sondern auch auf die politischen Mittel, mit denen diese Rolle erreicht werden soll.
Stück für Stück hat der russische Präsident seinen Staatsapparat nach dem Vorbild des früheren Geheimdienstes umgebaut.
Neben den klassischen Vergiftungsfällen, Erschießungen und unerklärlichen Fensterstürzen geht es vor allem um politische Einflussnahme. Zu Ruhm brachte es die Internet Research Agency in Sankt Petersburg, besser bekannt als Trollfabrik, gegründet von Jewgeni Prigoschin, der mittlerweile nach einem gescheiterten Putschversuch selbst in einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Ihren Ruf hat sich die Trollfabrik über die Jahre hart erarbeitet. Auf sie gehen die umfangreichen Desinformations- und Manipulationsprojekte etwa im Vorfeld des Brexit-Referendums sowie der Präsidentschaftswahlen in den USA und Frankreich zurück.
Doch neben der technischen Umsetzung derartiger größer angelegter strategischer Operationen verlieh der Kreml und vor allem Putin dieser Politik auch immer eine ganz persönliche Note. Denn Putin war über Jahrzehnte die seriöse, staatsmännische Verkörperung einer Politik, die sonst eher den Eindruck eines außer Kontrolle geratenen Geheimdienstes machte als die eines normal funktionierenden Staates. Man mag den russischen Präsidenten über die Jahre womöglich als schwer zu durchschauen, vielleicht auch als ein wenig unheimlich wahrgenommen haben, doch die Inszenierung des starken Mannes im Staat, der alles unter Kontrolle und für alles einen sorgfältig durchdachten Plan hat, war über Jahre perfekt. Die Bewunderung, die viele Rechte in den USA wie auch in Deutschland für diesen Mann viele Jahre lang hegten, ist sicherlich kein Zufall.
Und ebenso ist es sicherlich kein Zufall, dass Putin mit einer bestimmten Art von Mensch, genauer gesagt Mann, immer ganz besonders gut zu können schien. Die Liste derer, die in Europa fast ein Jahr nach der Invasion der Ukraine noch Weihnachtsgrüße von Putin erhielten, spricht für sich: Schröder, Orbán, Berlusconi. Man muss sich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, um hinter den Männerfreundschaften, die Putin pflegt, ein gewisses Muster zu erkennen. Doch egal mit wem, Putin schien immer viel daran gelegen zu signalisieren, wer in diesen Beziehungen die Hosen an, wer die Kontrolle hatte.
So auch in dem Interview mit Tucker Carlson, der über Jahre auf dem rechtskonservativen Fernsehsender Fox News vor einem Millionenpublikum gegen Einwanderer, Linke und den Deep State hetzte. Im Vorfeld des Interviews sendete Carlson Grüße aus Moskau und erklärte sich zum Retter des unabhängigen Journalismus. Außer ihm wolle Putin niemand die Chance geben, sich einem westlichen Publikum zu erklären. Lustigerweise widersprach der Kreml umgehend und ließ verlautbaren, man erhalte ständig Interviewanfragen westlicher Medien, man lehne nur eben ab.
Nach Jahrzehnten, umgeben von Ja-Sagern, fällt es ihm offensichtlich immer schwerer, sein eigenes Ego hinter strategisch-politische Überlegungen zurückzustellen.
Der Grund dafür, dass nun ausgerechnet Tucker Carlson eine Audienz bei Putin gewährt wurde, dürfte wohl eher in dessen gezeigter Bereitschaft liegen, Positionen des Kremls zu übernehmen, als in seiner Kompetenz als kritischer Journalist. Putin bekam also das, was man in den USA als Softball-Interview bezeichnet. Carlson kniff zwar über weite Strecken des Interviews kritisch die Augen zusammen, hielt es aber auch dann nicht für nötig nachzuhaken, als Putin in seiner Geschichtsstunde Polen zum Hauptverantwortlichen des Zweiten Weltkriegs erklärte.
Putin hatte zwei volle Stunden zu seiner freien Verfügung, um ungefiltert zur amerikanischen Bevölkerung und vor allem zur ihm ohnehin wohlgesonnenen Trump-Anhängerschaft zu sprechen. Diese aber ist von Fox News schnelle Schnitte, starke Emotionen und leicht zu merkende Slogans gewohnt: Stop the Steal, Build the Wall, Make America Great Again. Und was macht Putin? Hält einen 30-minütigen Sermon über mittelalterliche Völkerwanderungen und neuzeitliche Königreiche, von denen 90 Prozent der Adressaten noch nie etwas gehört haben dürfte. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten zwei Stunden Zeit, um auf einem der Propagandakanäle des Kremls zur russischen Bevölkerung zu sprechen. Würden Sie ihre Einlassungen mit der Eroberung des Langobardenreichs durch Karl den Großen 774 nach Christus beginnen, um die Position des Westens im Ukrainekrieg zu erklären?
Und damit kommen wir auf die kurze, aber vielsagende Reaktion Tucker Carlsons während des Interviews mit Putin zurück, in dem dieser den Impuls, über die absurden Ausführungen Putins zu lachen, nicht unterdrücken konnte. Denn sie zeigt Risse in der jahrzehntelang erfolgreichen Inszenierung Putins, der, auch wenn er sich in seiner Gestik und seinem Ton noch so sehr bemühte, Autorität zu vermitteln, nicht mehr viel mit dem kühlen, aber planvollen Strategen der letzten Jahrzehnte gemein hatte. Statt das Geschenk Carlsons anzunehmen, wurde er Opfer seiner eigenen Eitelkeit und konnte der Versuchung nicht widerstehen, dem „dummen Amerikaner“ eine russische Geschichtslektion zu erteilen. Dass Putin glaubte, seiner Geschichtsinterpretation Nachdruck verleihen zu können, indem er Carlson stolz einen grauen Ordner mit kopierten Dokumenten aus dem 17. Jahrhundert präsentierte, zeigt auch, wie wenig Einfluss Putins Berater offenbar noch auf den russischen Präsidenten haben.
Putin kann auch Opfer seiner Gier werden, das hat er mit der Invasion der Ukraine bewiesen. Sei es nun die Gier nach Ruhm – durch den Krieg in einer Reihe mit den großen Zaren des russischen Kaiserreichs in die Geschichtsbücher einzugehen – oder die Gier danach, Zugriff auf die umfangreichen Ressourcen der Ukraine zu erhalten. Und auch in seiner De-facto-Kriegserklärung an die Ukraine im Februar 2022, als er mit wütendem Blick die militärische Spezialoperation ausrief und sich dabei mit beiden Händen an seinem Schreibtisch festklammern musste, hatte er weder das Bild eines zufriedenen noch das eines emotional stabilen Menschen gezeichnet.
Kurzum: Putin ist mittlerweile selbst zu einem der egogetriebenen Männer geworden, die er so lange nach allen Regeln der Kunst des KGB zu manipulieren wusste. Nach Jahrzehnten, umgeben von Ja-Sagern, fällt es ihm offensichtlich immer schwerer, sein eigenes Ego hinter strategisch-politische Überlegungen zurückzustellen. Dass selbst ein eitler Polit-Clown wie Carlson nach dem Interview auf X mitteilte, er sei von den Erzählungen Putins genervt gewesen, sollte ihm zu denken geben. Für Putin heißt es in Zukunft, sich in Acht zu nehmen. Alle, die er um sich geschart und in ihre heutigen Machtpositionen gehievt hat, haben dieselben Lehrbücher studiert und in denselben Seminaren gesessen. Sie werden Schwäche erkennen, wenn sie welche sehen.