„Alles läuft nach Plan.“

So drückt es der russische Präsident Wladimir Putin aus. Der Krieg in der Ukraine, der jetzt in seinem sechsten Monat ist und dessen Ende nicht absehbar ist, mag zermürbend sein. Aber hochrangige Beamte des Kreml wiederholen immer wieder, Russland gewinne in der Ostukraine die Oberhand und werde all seine Ziele erreichen.

Dies mag schwer zu glauben sein. Immerhin war Russland gezwungen, sich aus Kiew zurückzuziehen. Außerdem musste das Land einige militärische Rückschläge, beispiellose Sanktionen und einen Chor internationaler Verurteilungen über sich ergehen lassen. Eine solche Litanei von Schwierigkeiten und regelrechten Fehlschlägen als Erfolg zu bezeichnen, könnte man Propaganda, Heuchelei oder gar Selbsttäuschung nennen.

Aber das ist es, was der Kreml zu glauben scheint. Seit zwei Jahrzehnten verfolge ich Putins Worte, Taten und Entscheidungen genau, und so habe ich ein umfassendes Bild über seine Absichten gewonnen. Anhand öffentlicher Äußerungen, politischer Maßnahmen und informeller Diskussionen mit Insidern konnte ich – so weit wie überhaupt möglich – die Konturen des aktuellen Denkens im Kreml nachzeichnen. Ganz klar ist, dass dort seit Ende Mai die feste Überzeugung herrscht, diesen Konflikt langfristig zu gewinnen. Und – im Gegensatz zu den ersten chaotischen Monaten – hat Putin jetzt auch einen klaren Plan.

Putins Plan erinnert an eine Art strategische Matroschka-Puppe: Jeder Aspekt passt in einen anderen und geht weit über die Ukraine hinaus.

Dieser Plan, der aus drei Hauptdimensionen besteht, erinnert an eine Art strategische Matroschka-Puppe: Jeder Aspekt passt in einen anderen, was zusammen ein großes Zielsystem ergibt, das zwar die Ukraine im Mittelpunkt hat, aber weit darüber hinaus geht. Vieles davon mag sich ziemlich abstrus anhören, und es verdeutlicht sicherlich, wie weit sich Putin – um es milde auszudrücken – von der Wirklichkeit entfernt hat. Aber für den Westen, dessen Reaktion zwischen Konfrontation und Duldung schwankt und der bei der Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriff seine Rolle immer noch nicht gefunden hat, ist es wichtig, das volle Ausmaß von Putins Hoffnungen zu verstehen.

Das kleinste, pragmatischste und am leichtesten zu erreichende Ziel betrifft Russlands territoriale Ambitionen in der Ukraine. Da die Russen seit den ersten Kriegstagen kaum weiter in ukrainisches Gebiet vordringen konnten, haben sie ihre Ambitionen prompt zurückgefahren und die Idee aufgegeben, Kiew zu besetzen. Das aktuelle, realistischere Ziel scheint darin zu bestehen, die Kontrolle über die Regionen Donezk und Luhansk zu übernehmen, was dem Kreml zufolge nur eine Frage der Zeit ist – scheinbar bestätigt dadurch, dass die Luhansk-Region bereits so gut wie besetzt ist. Außerdem soll der Landkorridor kontrolliert werden, der einen sicheren Zugang zur Krim bietet.

Hinsichtlich dieses Ziels, das für den Kreml minimale geopolitische Bedeutung hat, sieht Putin die Zeit auf seiner Seite. Warum, ist offensichtlich: Die militärische Unterstützung durch den Westen hat sich als begrenzt erwiesen, und Washington hat signalisiert, dass es keine roten Linien überschreiten wird, die Putin wütend machen könnten. Dessen Drohungen, Nuklearwaffen einzusetzen, scheinen gehört worden zu sein: Europa und die USA werden weder direkt intervenieren, noch die Ukraine bis zu einem Punkt unterstützen, der zu einer militärischen Niederlage Russlands führen könnte. Trotz aller gegenteiliger Behauptungen herrscht im Westen die Ansicht vor, die Ukraine könne die von den russischen Truppen besetzten Gebiete sowieso nicht zurückgewinnen. Und der Kreml scheint zu glauben, dass seine Gegner diese Idee früher oder später völlig aufgeben werden. Dann wäre der Osten der Ukraine effektiv unter russischer Kontrolle.

Putin sieht die Zeit auf seiner Seite.

Beim nächsten Ziel scheint es darum zu gehen, Kiew zur Kapitulation zu zwingen. Dabei geht es nicht um die besetzten Gebiete, sondern um die Zukunft der restlichen Ukraine – was geopolitisch weitaus wichtiger ist. Rein praktisch würde eine Kapitulation bedeuten, dass die Ukraine Russlands Forderungen akzeptiert – die als „De-Ukrainisierung“ oder „Russifizierung“ des Landes zusammengefasst werden können. Dies würde bedeuten, die Unterstützung nationaler Helden zu kriminalisieren, Straßen umzubenennen, Geschichtsbücher umzuschreiben und der russischsprachigen Bevölkerung eine dominante Stellung in Ausbildung und Kultur zu garantieren. Kurz gesagt, der Ukraine würde dann das Recht entzogen, ihren eigenen Staat zu führen. Die Regierung würde ersetzt, die Eliten „gesäubert“ und die Zusammenarbeit mit dem Westen aufgekündigt.

Dieses zweite Ziel klingt natürlich utopisch. Aber für Putin scheint es unvermeidlich zu sein, auch wenn er länger brauchen könnte, um es zu erreichen. Der Kreml erwartet, dass die Ukraine in ein oder zwei Jahren vom Krieg erschöpft ist, nicht mehr normal funktioniert und massiv demoralisiert ist. Dann wären die Voraussetzungen für eine Kapitulation erfüllt. Russland scheint damit zu rechnen, dass die ukrainische Elite bis dahin gespalten ist und sich eine friedensbereite Opposition bildet, die die Selenskyj-Regierung stürzt und den Krieg beenden will. Dann wäre es nicht mehr nötig, Kiew militärisch zu erobern: Die Hauptstadt würde von selbst fallen. Und Putin scheint nichts zu sehen, was dem im Weg stehen könnte.

Viel wurde darüber diskutiert, was Putin mit seinem Krieg wirklich erreichen will: Will er die NATO davon abhalten, sich bis vor Russlands Türschwelle auszubreiten, oder geht es ihm um seine imperialen Ambitionen, das russische Staatsgebiet auszudehnen und zumindest einen Teil der Ukraine zu besetzen? Tatsächlich sind diese beiden Themen miteinander verknüpft. Im Zuge dessen, dass sich die Ukraine auf die NATO zubewegte  und der Konflikt im Donbass immer mehr auf ein Patt hinauslief, wurde Putin zunehmend vom Ukraine-Thema besessen: Er sah, dass das Land, von dem er glaubt, es gehöre historisch zu Russland, von seinem schlimmsten Feind vereinnahmt wurde. Als Reaktion darauf wurde das ukrainische Territorium neben der Konfrontation mit der NATO zur Zielscheibe – aber nicht, wie viele denken, an deren Stelle.

Putins wichtigstes strategisches Kriegsziel ist der Aufbau einer neuen Weltordnung.

Dies bringt uns zu Putins drittem strategischen Kriegsziel, und dem geopolitisch wichtigsten von allen: dem Aufbau einer neuen Weltordnung.

Wir glauben normalerweise, dass Putin den Westen als feindliche Macht sieht, die versucht, Russland zu zerstören. Aber meiner Meinung nach gibt es für ihn zwei Arten von „Westen“: eine schlechte und eine gute. Der „schlechte Westen“ wird von den traditionellen politischen Eliten verkörpert, die momentan die dortigen Länder regieren. Diese scheint Putin für engstirnige Sklaven ihrer Wählerinnen und Wähler zu halten, die berechtigte nationale Interessen ignorieren und nicht strategisch denken können. Der „gute Westen“ hingegen besteht für ihn aus den europäischen und amerikanischen Normalbürgern, die, wie er glaubt, normale Beziehungen zu Russland haben wollen – und aus Unternehmen, die gern von einer engen Zusammenarbeit mit ihren russischen Kollegen profitieren wollen.

In Putins Denken scheint der schlechte Westen auf dem absteigenden Ast und zum Scheitern verurteilt zu sein, während der gute Westen durch eine Gruppe nationalistischer Staatschefs wie Viktor Orbán in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreich oder gar Donald Trump in den Vereinigten Staaten vertreten wird, die den Status quo hinterfragen – also bereit sind, mit der alten Ordnung abzurechnen und eine neue aufzubauen. Er glaubt, der Krieg gegen die Ukraine und all seine Folgen – wie hohe Inflation und steigende Energiepreise – seien ein Nährboden für den guten Westen und werde den Menschen dort helfen, sich gegen die traditionelle politische Elite aufzulehnen.

Putin scheint darauf zu spekulieren, dass grundlegende politische Veränderungen in den westlichen Ländern einen veränderten, Russland-freundlichen Westen hervorbringen werden. Dann könnte Russland alle Sicherheitsforderungen, die er bei seinem Ultimatum an die Vereinigten Staaten und die NATO im Dezember gestellt hat, noch einmal wiederholen. Dies mag als fast unmögliches Wunschdenken erscheinen. Aber das heißt nicht, dass Putin nicht so denkt.

Es gibt auch eine gute Nachricht: Genau die Tatsache, dass Putin von seinem eigenen Plan überzeugt zu sein scheint, dürfte kurzfristig jede Art nuklearer Eskalation verhindern. Aber die schlechte Nachricht ist, dass Putin früher oder später der Wirklichkeit ins Auge sehen muss. In diesem Moment, wenn seine Pläne gescheitert sind und die Enttäuschung am größten ist, wird er wahrscheinlich am gefährlichsten sein. Will der Westen eine katastrophale Auseinandersetzung verhindern, muss er also genau verstehen, wie Putin tickt.

© The New York Times 2022

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff