Die deutsche Berichterstattung über das Geschehen in Russland war bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine sehr „Putin-zentrisch“. Auch nach dem Überfall steht immer noch fast ausschließlich Wladimir Putin im öffentlichen Fokus. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Europa wird mit seinem Machtverlust verbunden. Dabei wird häufig ausgeblendet, dass die russische Führungsriege nicht nur mit Druck und Repressalien ihre Macht sichert. Im größten Land der Erde hat sich inzwischen ein neues gesellschaftspolitisches Modell mit vielen Profiteuren etabliert, das ohne seinen Schöpfer funktions- und überlebensfähig ist.
Viele westliche Expertinnen und Experten betrachten das System Putin in erster Linie als Mittel zur Festigung seiner Herrschaft und weisen auf den Personenkult sowie eine permanent gesendete Kreml-Botschaft hin: Das heutige Staatsoberhaupt ist alternativlos. Der russische Spitzenpolitiker Wjatscheslaw Wolodin formulierte noch 2014 das Leitbild seines Staates aus Sicht der regierenden Eliten: „Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Kein Putin, kein Russland.“ Ebenso recht haben Beobachterinnen, die Putin als Schlichter und Konfliktvermittler in der russischen Machtetage betrachten, dessen letztes Wort eine Stabilität des Staatsapparates garantiert. Die Rolle Putins im autoritären Russland ist zweifelsohne nicht zu bagatellisieren. Zugleich bedeutet der Putinismus inzwischen weit mehr als nur eine Kette von Unterstützungsmaßnahmen für eine einzige Person.
Der russische Journalist Andrej Kolesnikow spricht in seiner jüngsten Veröffentlichung für das in Russland verbotene Carnegie Moscow Center vom „wissenschaftlichen Putinismus“, analog zum „wissenschaftlichen Kommunismus“, dessen Grundsätze jeder Sowjetstudent auswendig lernen musste. Auch wenn sich der „wissenschaftliche Putinismus“ als weniger dialektisch und als ideologisch extrem flexibel erweist, ist diese Parallele durchaus berechtigt. Genau wie die Grundkonzeption der Sowjetzeit gilt der Putinismus als Fundament für den gesamten gegenwärtigen russischen Staat, nicht nur für einen Mann oder sein engstes Umfeld. Das System Putin wirkt als Schutzmechanismus für die Rettung der „guten alten Zeiten“. Er steht für das Comeback des Traditionalismus sowie die Verhältnisse aus dem letzten Jahrhundert, ob in der Außenpolitik oder im Inland, ohne Scheu vor Gewalt und vor der Verletzung aller Verhaltensregeln. Der Putinismus schafft rechtsfreie Räume und spielt mit den Ängsten der Menschen, sei es die „Versklavung Russlands durch die NATO“, die Verschlechterung des Lebensstandards oder der Verlust von Privilegien. Diese Konservierung der jetzigen Situation, mit einigen unbedeutenden kosmetischen Reparaturen, wirkt für viele Russinnen und Russen bewusst oder unbewusst verlockend. Der Putinismus ist funktional und das macht ihn stark.
Der Putinismus ist funktional und das macht ihn stark.
Die russische Führung war nie homogen. Der Krieg erfordert jedoch eine gewisse Disziplin und macht das Ringen um Einfluss und Ressourcen etwas weniger sichtbar. Trotzdem marschieren die Mächtigen im Kreml sowie in der Provinz bei weitem nicht in Reih und Glied, sondern bekriegen sich gegenseitig: Geheimdienstler gegen Militärs, Oligarchen gegen Oligarchen, Gouverneure gegen die örtlichen FSB-Chefs. Ungeachtet unterschiedlicher Interessen zeigen sie jedoch erstaunlich große Einigkeit bei ihrem Streben nach Erhalt des Putinismus, der heiligen Kuh der Elite. In einer liberalen Demokratie hätten heutige Politiker, Top-Manager von Staatskonzernen, Bürokraten auf allen Ebenen und kremlnahe Wirtschaftsexperten nichts zu melden. Die meisten von ihnen können weder Wahlen fair gewinnen noch ohne Korruption ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen. Selbst die älteren aus diesen Cliquen haben es in der Realität der zentralistischen „Machtvertikale“ verlernt. Jüngere haben sich hingegen von Kindesbeinen an daran gewöhnt, dass die persönlichen Aufstiegsmöglichkeiten vorwiegend mit guten Netzwerken und der Zugehörigkeit zu einer einflussreichen Gruppe verbunden sind. Der Wille des Volkes sowie die Kontrolle durch die Zivilgesellschaft sind hier nur Fremdwörter.
Keine gravierende Änderung des Systems ist ohne Mitwirken der russischen Tschinowniki (Angehörige des Beamtenwesens) und der Polizei möglich. 2020 gab es in der Russischen Föderation einen Beamten pro 60 Einwohner, weltweit Platz drei nach Belarus und Kasachstan. Das ist deutlich mehr als im Zarenreich oder der Sowjetunion. Zum Vergleich: Das Verhältnis in Deutschland betrug vor zwei Jahren 1:165, in den USA 1:157. In der Weltliste der Polizisten pro 100 000 Einwohner nahm Russland 2018 Platz 25 ein – unmittelbar nach den kleinen Inselstaaten dieser Welt. Insgesamt wurde die Anzahl der Beamten auf 2,4 Millionen und die der Polizisten auf knapp 800 000 beziffert. Diese beiden Gruppen, da finanziell gut abgesichert, werden jede Revolution verhindern, weil sie dafür einen hohen Preis zahlen müssten: die Reduzierung ihrer Gesamtzahl sowie die mit dem Job einhergehenden Vergünstigungen. Politik und staatsnahe Wirtschaft, Beamtentum und kremltreue Wissenschaft sowie Kultur und Medienlandschaft verfolgen das Ziel, den Putinismus zu erhalten. Das ist ihr Ticket für eine sichere Zukunft, die allerdings der Vergangenheit sehr ähnelt.
Das Öffentliche bleibt für die Russen irrelevant und wird an die Machthabenden delegiert.
Hohe Umfragewerte für Putin bedeuten in Russland nicht nur Unterstützung für ihn selbst, sondern auch für sein System. Sinkender Beistand für Putin persönlich heißt jedoch nicht zwingend die rote Karte für den Putinismus. Diese Einverständniserklärung für das System Putin ist aber kein Zeichen des Vertrauens, eher ein Symbol des Misstrauens und der Verzweiflung. Die russische Gesellschaft hält nicht zusammen. Die aus Russland vertriebene oppositionelle Nowaja gaseta betitelte ein Interview mit dem Soziologen Grigorij Judin wie folgt: „Die Zerrissenheit der russischen Gesellschaft ist schrecklicher als der Atomkrieg“. Judin trifft ein vernichtendes Urteil: Die meisten Menschen in seinem Heimatland denken ausschließlich mit den Kategorien des Privaten. Sie verteidigen aggressiv ihre eigene kleine Welt, verweigern jede Einmischung in die Politik und wollen keine Verantwortung für die Politik übernehmen. Das Öffentliche bleibt für die Russen irrelevant und wird an die Machthabenden delegiert. Die Atomisierung der Gesellschaft kommt den Herrschenden zugute. Kollektives Handeln wird abgelehnt und für unnötig erachtet.
Zahlreiche Menschen in Russland sind durch die jüngste Geschichte des Landes immer noch traumatisiert. Der Zusammenbruch der UdSSR, die darauf folgenden schmerzhaften Reformen auf dem Weg zur Marktwirtschaft und die Massenverarmung der Neunzigerjahre prägen das öffentliche Bewusstsein, schlagen Wurzeln im kollektiven Gedächtnis und werden als negatives Beispiel, inzwischen mit vielen Mythen begleitet, an die nächste Generation weitergetragen. Die Jelzin-Ära (1991 bis 1999) ist für die russische Bevölkerung die einzige Erfahrung mit der (unvollständigen) Demokratie. „Demokratie auf Russisch“ wird in den Augen von Millionen „kleiner Leute“ mit hoher Kriminalität, Ordnungslosigkeit, sozialem Abstieg sowie dem Krieg in Tschetschenien als Vorstufe eines möglichen Zerfalls Russlands gleichgestellt. Durch die Propaganda hochgepuscht, brachte der Kreml das Feindbild der „Neunziger“ als Totschlagargument gegen jeden Andersdenkenden ins Spiel, als „Beweis“ der Alternativlosigkeit seines Modells, und nutzte diese Kränkung skrupellos aus. Wenige Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten hat Putin eine nie schriftlich fixierte Abmachung im Namen des Staates mit seinem Volk getroffen: Das Volk verzichtet freiwillig auf seine Freiheiten und gibt den Regierenden grünes Licht für ihren autoritären Regierungsstil. Im Gegenzug bekommt es relativen Wohlstand. Für die breiten Schichten in Russland behält dieser mit dem Staat abgeschlossene Pakt weiterhin seine Gültigkeit, ob mit Putin oder ohne.
Weder die Mächtigen noch die „normalen Leute“ sind gegenwärtig in Russland daran interessiert, den Putinismus vollständig abzubauen und grundlegende politische Reformen voranzutreiben. So gut wie niemand fordert das lautstark. Nur wenige sind bereit, das Risiko einer sicherlich sehr schwierigen Wende einzugehen. Zweifelsohne ist Putin eine der bedeutendsten Säulen seines Systems. Andererseits ist der Putinismus inzwischen zum Selbstläufer geworden und mit dem russischen Staat so eng verschmolzen, dass er auch ohne Putin gute Überlebenschancen hat.
Mangels einer zündenden ideologischen Alternatividee, die von der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Russland mitgetragen wird, bleibt das System Putin daher langlebig. Die russische Opposition, ohnehin klein, zerspalten und ausgeschaltet, dürfte dem künftigen autoritären Nachfolger Putins kaum Paroli bieten können. Wenn Putin seinen Sessel im Kreml geräumt haben wird, werden bestimmte Korrekturen in Innen- und Außenpolitik sicherlich unabdingbar sein. Die Hoffnung auf eine totale Demontage des Putinismus ist jedoch verschwindend gering.
Lesen Sie in dieser Debatte auch die Beiträge von Roland Bathon und Ruslan Suleymanov, die im IPG-Journal erschienen sind.