Russland hat am Wochenende wieder gewählt. Beziehungsweise den sogenannten „Einheitlichen Wahltag“ abgehalten, der einmal im Jahr diverse Abstimmungen auf kommunalen, städtischen sowie regionalen Ebenen bündelt und damit im komplexen, formell-föderalen Gebilde der Russischen Föderation ein wichtiges innenpolitisches Ereignis darstellt. So waren die Wählerinnen und Wähler unter anderem aufgerufen, 21 Regionalchefs, 16 Regional- und 12 Stadtparlamente zu wählen sowie auch eine Reihe von kommunalen Gremien. Insgesamt handelte es sich um 4 000 einzelne Wahlkampagnen.
Im dritten Putin’schen Jahrzehnt und mit einer selbst für die letzten Jahre präzedenzlos hochgefahrenen Repressionsmaschinerie fragt man sich bisweilen, warum die Machthaber der Russischen Föderation überhaupt noch „wählen“ lassen. Die Kandidaten wie auch Wählerinnen und Wahlbeobachter müssen sich an immer neuen Verboten und Vorschriften entlanghangeln. Trotzdem gehören Wahlen zur unverzichtbaren plebiszitären Ausstattung des Systems. Insbesondere lokale Wahlen eröffnen Räume für Unzufriedenheit und die Artikulation sozialer Probleme, die von Regierenden aufgenommen werden können, ohne die eigentliche Machtfrage zur Disposition zu stellen.
Wahlen dienen ferner dazu, dem Staatsapparat die ungebrochene Popularität Putins und seiner Elite zu demonstrieren – und dürfen daher auch nicht zu hundert Prozent manipuliert werden. Schlussendlich gehören sie genauso wie Verfassungsgerichtsbarkeit und Föderalismus zum institutionellen Selbstverständnis der von oben geführten russischen „Demokratie“: autoritär strukturiert, aber nicht despotisch, harsch gegen Regimegegner, aber nicht illegitim. Der Spagat zwischen der Zementierung des Machtmonopols und einer regelmäßigen Legitimitätsakquise wird allerdings immer schwieriger.
Die ersten Hochrechnungen zeigen: So weit verlief alles nach Plan. Alle bisherigen Amtsinhaber auf der Gouverneursebene bleiben weiter an der Macht, „Einiges Russland“ als Kremlpartei führt deutlich, und dies auch in den okkupierten Regionen der Ukraine trotz nur partieller Gebietskontrolle und chaotischer Zustände im Meldewesen. In den annektierten Territorien gilt der Wahltag als „erfolgreich durchgeführt“. Trotzdem lohnt sich ein längerer Blick auf die Besonderheiten dieser Wahlen, denn unter der Oberfläche der Routine verbergen sich Weichenstellungen für die Präsidialwahl im März 2024.
In den annektierten Territorien gilt der Wahltag als „erfolgreich durchgeführt“.
Die Lage in Russland ist nicht gerade ideal für so eine pseudodemokratische Performance. Die Nervosität der russischen Bevölkerung steigt (solche emotionalen Gesellschaftszustände kann man im Gegensatz zu politischen Einstellungen recht gut soziologisch erforschen). Es gibt keine oder nur schlechte Nachrichten von der Front, Gerüchte über eine kommende zweite Mobilisierungswelle greifen um sich, der Rubel fällt und die Sorge vor einem neuen Inflationsschock wird manifester. Die sich häufenden Drohnenattacken sowie das gewaltsame Ende von Jewgenij Prigoschin und seiner Meuterei schüren Zukunftsängste.
Die russische Regierung hat trotz alledem große Anstrengungen unternommen, um auf die Durchführung der Wahl nicht zu verzichten. Dies ist Teil der immer noch andauernden „Normalisierungsstrategie“ des Kremls, man will den Eindruck stärken, sich einen langen Krieg und parallel eine geregelte, planmäßige Alltäglichkeit im Politischen leisten zu können und damit den Eindruck einer Überanstrengung entkräften. Mit der erfolgreichen Durchführung des „Einheitlichen Wahltags“ steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Präsidialwahl im kommenden Jahr abgehalten wird. Bisher galt es als denkbar, dass der Kreml mit Verweis auf den Krieg die Wiederwahl Putins für eine weitere, sechsjährige Amtszeit auf einen günstigeren Zeitpunkt verschieben könnte. Doch das würde bedeuten, dass man den Ausnahmecharakter der jetzigen Situation offiziell als real akzeptiert und amtlich bestätigt – und das ist weiterhin nicht gewünscht, durchaus auch aus Sorge vor Kaskadeneffekten der Verunsicherung in der eingelullten, stabilitätszentrierten Bevölkerung.
Und so sind diese Wahlen so etwas wie der große Testballon für 2024. Zwei wichtige Instrumente aus der Zeit der Pandemie, die ihrerzeit als Bevölkerungsschutzmaßnahmen eingeführt wurden, kamen diesmal verstärkt als Manipulationsinstrumente zum Einsatz: zum einen die „Elektronische Fernabstimmung“ , eine Art Internet-Wahl, zum anderen die Ausdehnung der Zeit für die Stimmabgabe auf ganze drei Tage. Was ursprünglich tatsächlich dazu führte, dass weniger Menschen sich in den Wahllokalen begegneten, ist nun ein bequemes Fälschungswerkzeug geworden, denn die elektronische Stimmabgabe entzieht sich jeglicher Überprüfung durch Dritte, während die ausgedehnte Wahlzeit es erlaubt, vor allem nachts ungestört physische Manipulationen an Stimmzetteln und Wahlurnen vorzunehmen.
Vor allem bei der „Elektronischen Fernabstimmung“ kann man davon ausgehen, dass diese immer weitere Bevölkerungsteile einschließen wird und zur Präsidialwahl 2024 bis zur Hälfte der Wahlberechtigten sich nur noch zur digitalen Stimmabgabe werden registrieren können. Analoges Wählen ist für das Regime zu unbequem geworden.
Apathie und Fatalismus sind Verbündete des Kremls.
Auch in den besetzten beziehungsweise illegal annektierten Gebieten der Ukraine wurden Wahlen abgehalten und dadurch ein weiterer Schritt zur Einreihung der neuen „Gliedstaaten“ in das russische Staatswesen vollzogen. „Einiges Russland“ triumphierte auch hier flächendeckend. Bemerkenswert ist dabei der Grad der Missachtung der geltenden Rechtslage: Einige Wahllokale wurden nach „Erreichen der notwendigen Wahlbeteiligung“ kurzerhand schon mittags geschlossen, als Identitätsnachweise wurden ukrainische Reisepässe und Führerscheine akzeptiert. Garniert wurde das Ganze mit der Propaganda über die „heldenhaften Wählerinnen und Wähler“, die trotz Beschuss und Bombardement ihrer Bürgerpflicht nachkämen.
Ähnlich bemerkenswert ist im Kontrast dazu die frappierende Unpopularität von Kriegsthemen in den Wahlkämpfen innerhalb der anerkannten Grenzen Russlands. Während „Einiges Russland“ zu Beginn der Agitationskampagnen noch Veteranen nominierte und Solidarisierungsaktionen mit den kämpfenden Truppen ausrichtete, so zeigten die verhaltenen Reaktionen des Wahlvolks im Verlauf der letzten Wochen, dass die meisten Wählerinnen und Wähler mit Ablehnung auf eine derartig direkte Konfrontation mit dem Krieg in ihrem Alltag reagieren. So konnte man gegen Ende des Wahlkampfs beobachten, wie „Einiges Russland“-Kandidaten ihre Fronterfahrungen immer mehr kaschierten und aus den Lebensläufen löschten, während der Fokus der öffentlichen Veranstaltungen sich immer weiter auf „weiche“ Themen wie Spendenaktionen für Soldatenfamilien sowie auf konkrete lokale Fragestellungen verschob.
Das ist der Preis, den der Kreml für seine „Normalisierungsstrategie“ zahlen muss. Eine über Jahrzehnte praktizierte Demobilisierung der eigenen Bevölkerung hinterlässt Spuren, sie richtet sich nicht nur ausschließlich gegen den potenziellen Dissens, sondern sie zersetzt genauso auch die eigene Unterstützerbasis. Apathie und Fatalismus sind Verbündete des Kremls, wenn er Russinnen und Russen von etwas abhalten will, zum Beispiel von Antikriegsprotesten. Gleichwohl werden sie zu großen Hindernissen, wenn das System plötzlich aktive Gefolgschaft einfordern möchte. Der Krieg bleibt ein Elitenprojekt, schwer vermittelbar an Menschen, die sich am lokalen Arbeitsmarkt und der örtlichen Infrastruktur abmühen.
Im Westen wird des Öfteren argumentiert, dass, solange die Unterstützung der russischen Bevölkerung für den Krieg nicht nachlässt, der Kreml auch keinen Grund hat, damit aufzuhören. Das ist eine merkwürdig realitätsferne Vorstellung von Willensbildung in nicht-demokratischen Systemen. Die kausale Wirkung in einer postmodernen Autokratie wie dem heutigen Russland ist eine exakt umgekehrte – nicht der Wunsch der Bevölkerung verändert Politik, sondern der Kurswechsel an der Spitze verändert die Mehrheitsmeinung. Und bis zu diesem Wechsel wird „Einiges Russland“ unerschütterlich auf Platz 1 landen. Das sollte uns nicht überraschen.