Die neue EU-Kommission steht und soll sich bald dem Votum des Europäischen Parlaments stellen. Ihre Zusammenstellung zeugt vom Wandel des politischen Feldes auf kontinentaler Ebene. Diesmal war es besonders schwierig, ein Gleichgewicht der europäischen Mächte herzustellen, denn unterschiedliche und widersprüchliche Anforderungen an die neue EU-Kommission wollten erfüllt werden. Deutschlands und Frankreichs Regierungen stecken in einer tiefen Krise, stellen dafür umso mehr klare Anforderungen. Spanien hat an Gewicht gewonnen und möchte mehr Einfluss ausüben. Nach dem Ende der rechtskonservativen PiS-Regierung ist Polen unter der Führung des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk wieder zu beachten. Die geopolitischen Spannungen in Osteuropa verlangen ihren Zoll. Italien als drittstärkste Volkswirtschaft der EU verlangt jedoch auch seinen Anteil am europäischen Machtkuchen. Die Frage war also: Wie will von der Leyen die verschiedenen Ansprüche unter einen Hut bringen?

2019 war Ursula von der Leyen leise, sich fast schon entschuldigend angetreten – sie war für den Posten nicht vorgesehen gewesen und musste zuerst nach einer geeigneten Mehrheit im Parlament suchen. Sie wollte allen gefallen, die Grünen mit ins Boot holen und damit auch den Green Deal schmieden. Nun hat von der Leyen beschlossen, ihren Stil zu ändern, um aus dem Kommissionsdilemma herauszukommen. Statt sich in Diplomatie zu üben, wird jetzt gezielt getreten – vor allem in Richtung der Linken. Das ist das Zeichen des neuen Selbstbewusstseins der Europäischen Volkspartei (EVP). Mit von der Leyen als Kandidatin für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin hat sie bei der Europawahl hinzugewonnen und stellt die stärkste Fraktion im EU-Parlament. Die konservative Fraktion malt sich zudem aus, dass die CDU in einem knappen Jahr Deutschland regieren wird, das europäische Schwergewicht. Von der Leyen und die EVP hoffen, dass die Konservativen in Europa wieder dominant werden.

Für Weber war der Rechtsruck bei der Europawahl im Juni 2024 somit eine Chance, neue Optionen auszutesten.

Auf dieses Hegemonieprojekt hat vor allem Manfred Weber, der Fraktionsvorsitzende der EVP im EU-Parlament, in den letzten Jahren intensiv hingearbeitet. Musste die EVP bislang bedeutende Kompromisse eingehen, um mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren, wäre „mit der Unterstützung“ der europäischen Rechten eine ganz andere Politik möglich. Für Weber war der Rechtsruck bei der Europawahl im Juni 2024 somit eine Chance, neue Optionen auszutesten. Eine Kooperation mit der Alternative für Deutschland (AfD) ist bislang tabu. Einerseits, da Webers Partei CSU historisch keine Konkurrenz rechts von sich duldet. Andererseits, weil die AfD in absehbarer Zeit bundesweit als gesichert rechtsextremistisch eingestuft werden und in ein Verbotsverfahren geraten könnte. Also: Finger weg.

Die Zersplitterung des rechten Spektrums im EU-Parlament bietet allerdings andere Machtoptionen. So haben sich Marine Le Pen und die spanische Vox-Partei nicht nur von der AfD als „zu rechtsextremistisch“ distanziert und sie aus ihrer Fraktion Patrioten für Europa rausgehalten. Sie haben sich auch gegen Melonis „reformistischen Kurs“ ausgesprochen und mit ihr gebrochen. Mit den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) bleibt somit Meloni in der Mitte der Furt stehen. Die ist mit immerhin 78 Europaabgeordneten aus 18 Ländern die viertgrößte Fraktion im EU-Parlament. Werden die Bauchschmerzen der Mitte-links-Alliierten bei bestimmten Gesetzentwürfen zukünftig allzu stark, könnte bei Gelegenheit die EKR als Kompensation zum Einsatz kommen.

Von der Leyen hat sich entschieden, dieses Blatt zu spielen. Die Bedingung dafür war allerdings, dass Italiens Regierung nicht nur einen Posten in der Kommission bekommt, der dem demografischen und ökonomischen Gewicht des Landes Respekt zollt, sondern auch den prestigeträchtigen Posten eines Vizepräsidenten. Gesagt, getan. Die Mitglieder der Von-der-Leyen-Mehrheit im EU-Parlament müssen nun die Kröte schlucken. Die Testphase der Kooperation mit Meloni soll als Blaupause für den zukünftigen Aufbau einer Mitte-rechts-Koalition auf europäischer Ebene dienen. 

Meloni brauchte dringend ein Erfolgserlebnis.

Die Bedeutung des Projekts einer europäischen Mitte-rechts-Koalition haben die Kandidatinnen und Kandidaten von Melonis Partei Fratelli d’Italia lautstark während der gesamten EU-Wahlkampagne propagiert. Nun wird der Plan wenigstens zum Teil umgesetzt. Das ist Balsam auf den Wunden der gegenwärtigen Regierungschefin in Rom. Denn Meloni brauchte dringend ein Erfolgserlebnis. In den letzten Monaten war der Konflikt zwischen den drei regierenden Parteien – Melonis Fratelli d’Italia, Matteo Salvinis Lega und den Erben Berlusconis von der Forza Italia – eskaliert. Ihr ungeschriebener Koalitionsvertrag bestand darin, dass jede Partei ihr Prestigeprojekt durchsetzt: die Fratelli d’Italia den Umbau Italiens zu einem präsidentiellen Regierungssystem; die Lega das sogenannte Autonomie-Gesetz, einen substantiellen Abbau des italienischen Länderfinanzausgleichs, damit die Steuergelder aus den industriestarken Regionen Norditaliens nicht auf das gesamte Land umverteilt werden; und Forza Italia eine Justizreform, die die demokratische Gewaltenteilung beendet und die judikative der exekutiven Gewalt unterordnet.

Da die Lega in Umfragen immer schlechter abschnitt, war Salvini vorgeprescht und hat durchgesetzt, dass zuerst sein Autonomie-Projekt durch das Parlament gebracht werden soll. Dieses Vorhaben hat nicht nur die Opposition wiederbelebt, die eine sehr erfolgreiche Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen das Gesetz gestartet hat. Eine Verfassungsklage der Regionen, die einen Nachteil von der neuen Regelung erwarten, sorgt zudem für Verzögerung und Streit zwischen den rechten Partnern. Nicht zuletzt sorgt auch ein Machtkampf zwischen Meloni und dem Medienimperium von Berlusconis Erben für andauernden Ärger. Die Fernsehkanäle der Familie haben zahlreiche Mitarbeiter aufgenommen, die nach der Wahl Melonis und den von ihr angestoßenen Säuberungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender hinausgedrängt wurden und die nun zahlreiche persönliche Skandale aus dem engsten Umfeld der Premierministerin ausschlachten.

Inmitten dieser Trümmerlandschaft, in der sich Opposition und Gewerkschaften angesichts der Engpässe des kommenden Haushaltsgesetzes für die Herbstschlacht rüsten, ist von der Leyens Wahl von Raffaele Fitto zum Kommissar für Regionalförderung und Reformen sowie zum Vizepräsidenten der Kommission ein Lichtblick für Meloni. Er steht sinnbildlich für die zukünftigen Mehrheiten auf EU-Ebene, die sich Meloni und von der Leyen wünschen. Wie sein Vater vor ihm war Fitto Abgeordneter der Democrazia Cristiana, der italienischen Christdemokraten. Danach war er lange Zeit Mitglied und Abgeordneter von Berlusconis Partei. Als der seine Partei ab 2014 für eine Mitte-links-Regierung mit dem Partito Democratico öffnete, trat Fitto aus ihr aus und gesellte sich mit seiner Gruppierung zur neugegründeten Rechtsaußen-Partei von Giorgia Meloni. Fitto verkörpert den Rechtsruck, der Europa unter von der Leyen und Meloni bevorsteht.