Seit drei Monaten ist Frankreich in Aufruhr: Massen demonstrieren, Eisenbahnbeschäftigte blockieren Gleise, Barrikaden und Gebäude stehen in Flammen, Demonstrierende liefern sich Straßenkämpfe mit der Polizei. Die jüngste Protestform kommt dagegen etwas zahmer daher: Bei jedem Auftritt des Präsidenten schlagen die Leute auf Töpfe ein. Der Grund? Präsident Emmanuel Macrons Entscheidung, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben.
Auf den ersten Blick sieht das alles aus wie das Werk eines dynamischen linken Flügels, der sich gegen die wirtschaftsfreundliche und beschäftigtenfeindliche Politik einer technokratischen Mitte-rechts-Regierung auflehnt. In Frankreich repräsentieren die Gewerkschaften zwar einen kleineren Anteil der Erwerbsbevölkerung als anderswo in Westeuropa, doch sind sie in ihrer Opposition geeint, was sie zu einer gefürchteten Kraft macht. Jean-Luc Mélenchon, Chef des Linksbündnisses NUPES, spielt eine zentrale Rolle im parlamentarischen Kampf gegen Macron und hätte im März die Regierung mit einem Misstrauensvotum fast zu Fall gebracht.
Trotzdem profitiert nicht Frankreichs Linke von dem Volksaufstand, sondern die extreme Rechte. Wenn die Präsidentschaftswahlen des letzten Jahres jetzt stattfänden, würde nach jüngsten Umfragen Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National, Macron deutlich mit 55 zu 45 Prozent schlagen. Nach anderen Umfragen, die sämtliche mögliche Kandidaten berücksichtigen, hat Mélenchon, der mit seiner Fraktion die Anti-Macron-Bewegung unterstützt, seit den Wahlen im letzten Jahr lediglich einen Prozentpunkt gewonnen und liegt bei etwa einem Viertel der Stimmen, einigen Szenarien zufolge sogar nur bei 20 Prozent.
Wie kommt es, dass in einer Situation, die für das Wiedererstarken der Linken wie geschaffen scheint, zumindest vorerst die Rechte und sogar die extreme Rechte profitiert? Wie die jüngste Geschichte Frankreichs belegt, ist die Ablehnung der etablierten Ordnung nicht mehr der Linken vorbehalten. Die letzte Massenprotestbewegung, die der Gelbwesten, die sich 2018 gegen eine umweltbedingte Erhöhung der Benzinsteuern auflehnte, war ein merkwürdiges Sammelsurium von Positionen und Haltungen, in dem die politischen Neigungen von Stadt zu Stadt und sogar von Verkehrskreisel zu Verkehrskreisel variierten.
Wie die jüngste Geschichte Frankreichs belegt, ist die Ablehnung der etablierten Ordnung nicht mehr der Linken vorbehalten.
Die Bewegung stemmte sich gegen sämtliche Versuche von Politikerinnen und Politikern, sich ihnen anzuschließen, und entwickelte schon früh ein strammes ultrarechtes Verschwörungselement. Jacline Mouraud, deren Video vom Oktober 2018 die Bewegung mit auf den Weg brachte, unterstützte später den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour, einen überzeugten Rassisten. Der Gelbwestenbewegung verdankten auch der Covid-Verschwörungsfilm Hold-Up aus dem Jahr 2020 und die lautstarke Anti-Masken-Bewegung ihre phänomenale Popularität.
Die wenige Jahre alte rechtspopulistische Strömung der Gelbwesten ist nicht verschwunden und macht sich auch in den neuen Umfragen bemerkbar. Seit seinen Anfängen gibt der Rassemblement National dem Rechtspopulismus ein Gesicht. Im Lauf seiner Geschichte ist er immer weiter gewachsen, und jüngste Umfragen zeigen, dass sich diese Entwicklung zugunsten von Marine Le Pen fortsetzt.
Unterstützt wird Le Pens Aufstieg durch Fehltritte ihrer Gegner. Die Art und Weise, wie Macron die Anhebung des Rentenalters unter Umgehung einer Abstimmung in der Nationalversammlung gesetzlich verankert hat, gilt als Bestätigung seiner undemokratischen und sogar autoritären Neigungen. Die Mitte- und Mitte-rechts-Parteien haben sich durch ihre Unterstützung der unpopulären Maßnahme diskreditiert und stehen deshalb ebenfalls unter Beschuss. Sie behaupten, die wahre Bedrohung für die Demokratie gehe von ihren politischen Gegnern aus: der Linken, weil sie die gewalttätigen Proteste unterstütze, und der extremen Rechten, weil sie per se gefährlich sei. Diese Sichtweise wird von Macrons Ministern in den Medien gebetsmühlenartig wiederholt.
Die Linke behindert sich unterdessen durch ihre Unzulänglichkeiten selbst. Mélenchon und sein Bündnis, die darauf setzen, dass ihnen die Anti-Macron-Stimmung zugutekommen werde, haben keine kohärente Strategie entwickelt, sondern lediglich Druck aufgebaut, indem sie sich für die Massenproteste ausgesprochen und gleichzeitig in der Nationalversammlung Störmanöver veranstaltet haben. Im vergangenen Oktober, also lange vor der aktuellen Krise, hielten Umfragen zufolge viele Menschen die Linke wegen des pöbelhaften Auftretens ihrer Abgeordneten für nicht regierungsfähig. Genutzt hat dieses politische Chaos bisher nur dem Rassemblement National (RN), der nicht mehr grundsätzlich als politischer Paria gilt.
Die Linke behindert sich unterdessen durch ihre Unzulänglichkeiten selbst.
Im Gegenteil, Marine Le Pen und ihre Partei sprechen in den Augen vieler für la France profonde und sind die Stimme der Vernunft. Le Pen verurteilt die Gewalt auf den Straßen (wenn auch nie die Gewalt der Polizei) und wirft Macron vor, jeglichen „Sinn für die Demokratie einzubüßen“: „Wenn der Staatschef etwas will und das Volk nicht, sollte er es nicht umsetzen.“ Sie hat versprochen, die Änderung des Renteneintrittsalters rückgängig zu machen, sofern sie gewählt werden sollte.
Den 88 RN-Abgeordneten, die in der Nationalversammlung die drittgrößte Fraktion stellen, ist es gelungen, die extreme Rechte weiter zu normalisieren, indem sie die Rolle der besonnenen Erwachsenen übernehmen. Der extremen Rechten gelingt es, sich als Verteidiger der durch Macrons Diktate gefährdeten Demokratie und als Wahrerin der vom linken Chaos bedrohten Stabilität zu präsentieren. Ist diese Position von Dauer? Die Gelbwestenbewegung konnte 2022 Macrons Niederlage nicht herbeiführen. Aber Marine Le Pen erhielt bei den Präsidentschaftswahlen mehr Stimmen, als ihre Partei je auf sich vereinigt hatte.
Der Pfusch mit der Rentenreform – der damit begann, dass die Regierung die Französinnen und Franzosen nicht von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugen konnte, und damit endete, dass sie das Parlament umging, als sie keine Mehrheit zusammenbekam – hat in der Bevölkerung die Verdrossenheit gegenüber Politik und Politikern verstärkt. In den letzten vier Jahrzehnten wurden alle politischen Gruppierungen bis auf die extreme Rechte getestet und für mangelhaft befunden: die Sozialisten unter François Mitterrand und François Hollande, die Konservativen unter Nicolas Sarkozy sowie die Mitte unter Macron.
Viele der beschriebenen Tendenzen waren in Frankreich schon vor einem Jahr zu beobachten, doch die Änderung des Renteneintrittsalters berührt die Menschen in ihrem Innersten und zementiert die Scheidung zwischen Volk und Politik. Marine Le Pen war nie an der Macht und hat ihre Wählerschaft nie im Stich gelassen. Sie verspricht einen Neuanfang und kündigt an, anders als die bisherigen Regierungen die Interessen des Volkes zu verteidigen. In den Köpfen vieler ist dieses Argument zumindest für den Moment womöglich das entscheidende.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in derNew York Times.
Aus dem Englischen von Anne Emmert