Anfang Januar war die französische Linke plötzlich geeint. „Erst wow, dann: Heiße Luft“, kommentierte Olivier Faure, der Vorsitzende der französischen Sozialisten, Präsident Macrons neue Regierungsmannschaft, die Mitte Januar vorgestellt wurde. „Das ist einfach nur ‚Sarkozy IV‘ und eine „Koalition der Rechten“, twitterte verärgert Boris Vallaud, Fraktionschef der Sozialisten im Parlament. „Wir sind, ohne Frauen in wichtigen Ministerämtern, so gut wie raus“, tobte die Grünen-Abgeordnete Sandrine Rousseau. Auch Francois Ruffin, Abgeordneter der französischen Linkspartei La France insoumise, ätzte, dass Macrons neue Riege einfach nur die Wiederbelebung der Republikaner um den Ex-Präsidenten Sarkozy bedeute. Und weiter: „Die Allianz der Rechten ist besiegelt! Dem gegenüber brauchen wir jetzt eine Union der Linken, schnell!“, forderte Ruffin per Kurznachrichtendienst X.
Doch Einigkeit ist nichts, was man guten Gewissens mit der französischen Linken assoziieren kann. Ganz zu schweigen von einer Koalition. Die gemeinsame Plattform „Neue Ökologische und Soziale Volksunion“ (NUPES) war erst Ende Oktober letzten Jahres krachend gescheitert. Der Tropfen, der schließlich das gemeinsame Fass zum Bersten brachte, war das Zerwürfnis um die Haltung französischer Linker zum Krieg in Gaza. Fragen nach dem Status der NUPES, so sehen es zumindest die Sozialisten, seien in einer Art „Moratorium“ zwischengelagert. Doch ernstlich glaubt wohl niemand an ein Revival. Egal wie notwendig und sinnvoll es wäre.
Dabei hatte im Mai 2022 alles recht vielversprechend angefangen. Als interfraktionelle Gruppe konnte die vereinigte Linke im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen knapp 23 Prozent der Sitze erobern und nominal zur zweiten Kraft im Land aufsteigen. Doch scheiterte ihr Initiator Jean-Luc Mélenchon mit dem Versuch, aus allen am Bündnis beteiligten Parteien und Grüppchen eine gemeinsame Fraktion im Parlament zu bilden. NUPES, die politisch mit Radikalismus und Obstruktion agierte, wurde anfänglich als der Beginn einer neuen Kultur der Zusammenarbeit und Einheit der Linken bejubelt. 17 Monate später ist sie eine Fußnote der Fünften Republik.
Bereits vor dem Bruch infolge des Gaza-Krieges kriselte es. Die vier konstituierenden Parteien La France insoumise, Parti socialiste, die grüne Partei EELV sowie die kommunistische PCF hatten schon im Spätsommer letzten Jahres durchblicken lassen, jeweils eigene Listen sowie Kandidatinnen und Kandidaten für die bevorstehenden Europawahlen aufstellen zu wollen.
Bereits vor dem Bruch in Folge des Gaza-Krieges kriselte es.
Seitdem ist links der Mitte alles wieder beim Alten: „Zerbröselung“ nennen es Demoskopen. Dabei würde Schätzungen zufolge die ehemalige NUPES-Riege rein rechnerisch in etwa eine ebenso große Unterstützung wie Marine Le Pens Rassemblement National erhalten. Doch die schwelende Rivalität zu Mélenchon wirkt im linken Lager zersetzend. Mehrere Mitte-links-Parteien lehnen seinen egomanen Führungsanspruch kategorisch ab und wollen aktiv verhindern, dass sich seine Linkspartei auf die europäische und kommunale Ebene ausdehnt.
Französische Wählerinnen und Wähler haben unterdessen andere Sorgen. Angesichts der Ankündigung, dass der in Frankreich traditionell niedrige Strompreis Anfang Februar erneut steigen wird, fürchten Frankreichs Bürgerinnen und Bürger zunehmend die Schwächung ihrer Kaufkraft sowie steigende Preise. Im Ranking dahinter folgen Sorgen um die innere Sicherheit. Hier heizte der Rassemblement National dem Mainstream im Dezember kräftig mit der Debatte um ein verschärftes Migrationsgesetz ein. Auch die Morde an Jugendlichen in der französischen Provinz Ende letzten Jahres durch Teenager mit Migrationshintergrund schürten erneut Hass auf Migrantinnen und Migranten. Kein Wunder also, dass Migration zu den Top-4-Themen im französischen Europa-Wahlkampf zählt.
Traditionelle Themen der Linken wie zunehmende Armut, der Arbeitsmarkt und schwindende soziale Gerechtigkeit rangieren dagegen weit abgeschlagen auf der Skala der politischen Prioritäten. Dabei hatte NUPES hier durchaus mit sozialpolitischen Initiativen rund um Mindestlohn, Preisstabilität für Lebensmittel etc. punkten können.
Doch es gilt, was in Frankreich schon länger gilt: Egal was passiert, es profitiert die extreme Rechte, allen voran der Rassemblement National. Sein Vorsitzender und Spitzenkandidat Jordan Bardella macht für alle Probleme Frankreichs reflexhaft die EU oder Massenmigration verantwortlich und mobilisiert geschickt gegen die Regierung. Wählerinnen und Wähler belohnen ihn mit Blick auf die Europa-Wahlen mit stabilen 30 Prozent und dem ersten Platz im Parteienspektrum.
Die schwelende Rivalität zu Mélenchon wirkt im linken Lager zersetzend.
Mit der zu Jahresbeginn gut terminierten Entlassung der zunehmend unbeliebten Premierministerin Elisabeth Borne ging unterdessen auch Macrons Kalkül einer Neupositionierung auf. In Umfragen konnte er leicht aufholen. Seine Partei La Renaissance liegt nun bei 20 Prozent.
Mit Borne – ehemals bei der Parti socialiste und Macronistin der frühen Stunde sowie seit 2020 Mitglied in der mit der Macron-Partei verbündeten sozialdemokratischen Partei Territoires de Progrès – schied nun das letzte vermeintlich „linke“ Mitglied im präsidialen Kabinett aus. Macrons Neuaufstellung gilt sechs Monate vor der Europa-Wahl unmissverständlich als Rechtsschwung. Verkörpert vom nur 34-jährigen Gabriel Attal als neuem Premier und insgesamt acht neuen Ministerinnen und Ministern, die ihre politischen Karrieren im Umfeld der Republikaner um Ex-Präsident Nicolas Sarkozy machten, ist Macrons Strategie klar erkennbar: die Rechtsextremen mit konservativen und rechten Positionen zu schwächen.
Wo stehen dabei Frankreichs Linke? Vor einem freien Spielfeld links der Mitte? Oder vor der sauerstoffarmen Todeszone der französischen Republik? Antworten müssen dort gesucht werden, wo neues Wählerpotenzial zu finden ist. Zumindest die Parti socialiste hat für sich entschieden, dieses weiter links zu suchen. Auf diesen Kurs war die 2017 dramatisch abgestürzte Partei schon mit ihrem Beitritt zur NUPES geschwenkt. Mit dem gemeinsamen Wahlprogramm verabschiedeten sich die Sozialisten vom zentristischen Kurs, den François Hollande in seiner Zeit als französischer Präsident zwischen 2012 und 2017 verfolgt hatte. Nicht wenige sahen im Zentrismus den Sargnagel der Parti socialiste schlechthin.
Von Macrons Demontage des französischen Sozialstaats enttäuschte Ex-Sozialisten, die 2017 in Scharen zum jungen Shooting-Star übergelaufen sind, zurückholen? Das kommt für die PS nicht in Frage. Sie wagt sich, obgleich Macron das Mitte-links-Feld geräumt hat, nicht wieder dorthin. Stattdessen sucht man im Mélenchon-Lager nach enttäuschten neuen Wählerinnen und Wählern.
Nicht wenige sahen im Zentrismus den Sargnagel der Parti socialiste schlechthin.
Tatsächlich stehen die Sozialisten mit einem 80-seitigen, überraschungsfreien Europa-Programm und einem schillernden Spitzenkandidaten momentan ganz gut da. aus. Der noch nicht offiziell nominierte, politisch schwer zu verortende Europa-Kandidat ist Raphael Glucksmann, Europaparlamentarier, Sohn des Philosophen André Glucksmann und Ex-Berater des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili. Die Parti socialiste liegt in Umfragen stabil bei zehn Prozent – das bei weitem beste Ergebnis für die Sozialisten seit langem.
Ihnen folgt – als europaskeptische Partei bei EU-Wahlen traditionell schwach vertreten – mit acht Prozent Zustimmung die Linkspartei. Die Grünen erlangen mit Spitzenkandidatin Marie Toussaint und ihrem – um urbane Themen wie Ausstieg aus der Nuklearindustrie, Nein zur Gentechnik und offene Gesellschaft kreisenden – Programm traditionell nur wenig Zuspruch. Sie liegen bei mageren sechs Prozent. Frankreichs Kommunisten sind gespalten und leiden unter der deutlichen Abkehr der traditionellen Wählerschaft im Arbeitermilieu hin zum Rassemblement National. Sie kommen stabil auf fünf Prozent.
Ganz entscheidend wird sein, da sind sich Analysten einig, wem es am ehesten gelingt, den „vierten Pol“ zu aktivieren: Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Sie drohen laut Umfragen zu Frankreichs größter Wählergruppe zu werden. Viele Französinnen und Franzosen geben an, es satt zu haben, Parteien – allen voran Macrons La Renaissance – wählen zu müssen, nur um die extreme Rechte zu verhindern. Eine Drohkulisse, die sie schon seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2002 kennen. Damals erhielt überraschend der Kandidat der rechtsextremen Partei Front National, Jean-MarieLe Pen, mehr Stimmen als der sozialistische Bewerber, der amtierende Premierminister Lionel Jospin. Es kam zu einer zweiten Runde Le Pen gegen Jacques Chirac aus dem bürgerlich-rechten gaullistischen Lager. Chirac gewann schließlich haushoch, auch dank einer mobilisierten Wählerschaft.
Bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2027 bleiben den progressiven Parteien Frankreichs knapp drei Jahre Zeit, um ihre internen Zwistigkeiten zugunsten überzeugender Angebote beizulegen. Der schon seit zwei Jahrzehnten währende Kampf gegen die extreme Rechte wirkt insgesamt zermürbend auf die Linke, aber ebenso auf die verunsicherte Gesellschaft. Und er findet längst auf einem deutlich rechteren und national-identitäreren Terrain statt als noch bei Macrons erster Wahl 2017. Ohne gute Ideen und eine massenhafte Rückkehr zur Wahlurne wird es für die Fünfte Republik und Frankreichs Demokratie schwer werden, sich gegen die enormen Mobilisierungskräfte der radikalen Rechten zu behaupten.