Es geht ein Witz um in Frankreich: Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspräsident, habe die Sportstars bei den Olympischen Spielen in Paris deshalb so lange umarmt, um nicht wieder regieren zu müssen. Die freudvoll-elegante Olympia-Choreografie und die Hochleistungen der französischen Athletinnen und Athleten kontrastieren aufs Merkwürdigste mit einer politischen Führung, die sich halsstarrig und reflexhaft immer tiefer in den eigenen Widersprüchen verstrickt. Verwirrender kann das Bild, das Frankreich gegenwärtig von sich darbietet, kaum mehr werden. Rund zwei Wochen nach dem von Macron angeordneten „Olympia-Frieden“ und knapp zwei Monate nach den vorgezogenen Neuwahlen zum Parlament sind die Schicksalsfragen des Landes ungeklärt. Der Präsident hat weder Eile, einen Premierminister zu ernennen, noch ist er bereit, die von der linken Opposition vorgeschlagene Kandidatin Luci Castets zur Regierungschefin zu ernennen. Was soll das alles?

Pariser Feuilletonisten, selten um intellektuelle Sinnstiftung verlegen, verlieren die Orientierung. Ist das Land nun in einer Krise der Politik oder in einer Krise der Institutionen? Antworten suchen manche in den literarischen Neuerscheinungen des Herbstes, in denen Romanciers wie Aurélien Bellanger nicht zum ersten Mal versuchen, den Mann an der Staatsspitze wenigstens literarisch – oder banaler: psychologisch – festzunageln. In Les Derniers jours du Parti socialiste („Die letzten Tage der Sozialistischen Partei“, September 2024) nennt Bellanger den kaum fiktionalisierten Präsidenten den „Prinzen der Unentschiedenheit“ und einen „Taschenspieler seiner selbst“. 

Doch zunächst zurück zu den Fakten: Macron selbst hatte, ohne je eine plausible Erklärung dafür zu liefern, die Europawahl zu einer Art Referendum über seine Regierung umgedeutet. Noch vor der Bekanntgabe des Endergebnisses ordnete er Neuwahlen zum französischen Parlament an – mit der kürzesten von der Verfassung erlaubten Frist. Bekanntlich ging das für Macron desaströs aus. Die Nation hielt wochenlang den Atem an, als es so aussah, als könnten die Rechtsextremen um Marine Le Pen erstmals die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erlangen. Nur Frankreichs Mehrheitswahlsystem und der disziplinierte und unermüdliche Wahlkampf des Ad-hoc-Linkenbündnisses Nouveau Front Populaire bewirkten Le Pens knappes Scheitern. Die Wählerinnen und Wähler belohnten den Heroismus der linken Front und machten das Bündnis – bestehend aus Sozialisten, La France insoumise (den „Unbeugsamen“), Grünen und Kommunisten – zur stärksten Fraktion, gefolgt von Macrons Ensemble-Bündnis und schließlich als drittem Lager von dem der Rechtsextremisten.

Macron hatte schon im Wahlkampf massiv versucht, das Linksbündnis zu spalten.

Seitdem: Rien ne va plus – Nichts geht mehr in der französischen Politik. Das dramatisch geschrumpfte Macron-Lager bemüht sich um Schönfärberei. „Niemand hat die Wahl gewonnen“, wiederholen sie ein ums andere Mal und schriller noch, dass die größte Gefahr für Frankreichs Politik seitens der linkspopulistischen La France insoumise drohe, der „Unbeugsamen“ um Jean-Luc Mélenchon. Und hier beginnen die Dinge einfach verrückt zu werden. Vielen ist Mélenchons egozentrischer Politikstil ein Graus. Doch seine Partei, die sich für faire Demokratie und Rechtsstaat einsetzt, als größere Gefahr als den rechtsextremen, faschistoiden, rassistischen und antisemitischen Rassemblement darzustellen, ist kaum nachvollziehbar. Macron hatte schon im Wahlkampf massiv versucht, das Linksbündnis zu spalten, und drohend um die Mitarbeit der Parti Socialiste geworben. Er lehne jeglichen Dialog mit La France insoumise ab, ebenso jegliche Regierung, an der die „Unbeugsamen“ beteiligt sind. Diese Woche dann folgte seine Weigerung, Lucy Castets, die Kandidatin des noch immer vereinten Linksbündnisses, zur Premierministerin zu ernennen.

Darf er das? Es scheint, als könnten nur noch Verfassungsrechtler Ordnung in das selbstgezimmerte Chaos bringen. Nein und ja, lautet deren Antwort. Laut Verfassung gibt es keine Frist, innerhalb derer der französische Präsident eine neue Regierung ernennen muss. Gegenwärtig regiert die abgewählte Vorgängerregierung unter Gabriel Attal als geschäftsführende Regierung. Ein Umstand, der in wenigen Wochen in eine Verfassungskrise führen könnte – oder auch nicht. Macron redet seit einer Woche hinter verschlossenen Türen mit Parteichefs und Fraktionsvorsitzenden. Seine Zukunft sieht er offenkundig nur in einem Bündnis von rechten Republikanern bis hin zur Parti Socialiste. Eine Formation, die gerade eben über die notwendige Zahl an Abgeordneten verfügen würde, um die absolute Mehrheit im Parlament zu erlangen – unter seiner politischen Führung natürlich. Doch die Sozialisten haben dies bislang stets abgelehnt und bleiben dem Linksbündnis treu. Das Resultat ist eine schier unauflösliche Pattsituation.

Die Linke wirft Macron wütend Demokratieverweigerung vor.

Hier liegt der Anteil an der Krise, der politisch zu deuten ist: ein Präsident und seine Fraktion, die nicht akzeptieren, dass sie von den Wählerinnen und Wählern in zwei Wahlen und drei Wahlgängen abgewählt wurden. Die Linke wirft Macron wütend Demokratieverweigerung vor. Sie kann aber ihrerseits nicht überzeugend erklären, warum sie weiterhin strikt darauf besteht, als regierende Fraktion mit Castets an der Spitze – allerdings und nur mit einer relativen Mehrheit im Parlament – ausschließlich ihr Programm umsetzen zu wollen. Dort beginnt die Krise der Institutionen, in der sich Frankreichs Fünfte Republik befindet. Einige Verfassungsrechtler bezweifeln, dass der Präsident (in seiner Rolle als Garant der institutionellen Stabilität) sich anmaßen sollte, sich zum Richter über die Zukunftschancen einer künftigen Regierung zu machen. Macrons Begründung, Castets nicht zu ernennen, fußt darauf, dass diese Regierung keine solide Mehrheit hat und quasi gleich mit Misstrauensanträgen gestürzt werden könnte. Doch damit verweigert er dem Parlamentarismus auch die Chance, sich selbst zu beweisen. Es wirkt, als sehe er sich zeitgleich als Richter und auch als Partei.

Nathalie Tehio, die Vorsitzende der französischen Liga für Menschenrechte, hält daher mit Kritik nicht zurück. „Macron führt sich auf, als hätte es keine Wahlen und keinen klaren Wählerwillen gegeben.“ Er sollte sich tatsächlich staatsmännisch verhalten und die Kandidatin der Mehrheitsfraktion ernennen – alles andere sei dann Sache des „parlamentarischen Spiels“. Ihrer Meinung nach möchte Macron jedoch weiterhin alle Macht in Händen halten und scheue dabei nicht davor zurück, die Verfassung von 1958 zunehmend autoritär zu lesen. „Es ist schlicht nicht mehr legitim, so zu tun, als sei nichts passiert“, wettert Tehio. Demokratie, das ist Gewaltenteilung und Rechtsstaat. „Heute sind wir in einem System angekommen, welches nicht mehr konform ist mit der Idee, die wir uns von Demokratie gemacht haben. Der Gesellschaftsvertrag ist gebrochen.“

Auswege aus Frankreichs Krise werden verzweifelt gesucht. Kein Wunder, dass der Druck auf die Sozialisten im Parlament und innerhalb der Partei täglich steigt. Sollten sie nicht besser nachgeben und das Linksbündnis verlassen, um das unwürdige Patt zu beenden und gemeinsam mit dem Macron-Lager zu regieren? Einige nicht einflusslose Stimmen in der Partei fordern vom Parteivorsitzenden Olivier Faure den Austritt aus der Nouveau Front Populaire. Der bekannte sich jüngst noch einmal solidarisch zum Linksbündnis. Den Sozialisten stehen heikle Tage bevor. Egal wie man sich am Ende positioniert, es wird folgenschwere Konsequenzen haben für die Linke und für Frankreich.