Manche Kriege in der Geschichte lassen die Forschung bis heute nicht los. Zwei Fragen treiben dabei die Wissenschaft um: Was waren die Ursachen? Und: Hätte der Krieg sich verhindern lassen? Es ist sehr gut möglich, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine den klassischen Beispielen wie dem Peloponnesischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg – zumindest im europäischen Kontext – ein weiteres Exempel hinzufügt.

Wie zahlreiche Kriege der Vergangenheit resultierte dieser Krieg daraus, dass auf unterschiedlichen Ebenen bestimmte Umstände und Ursachen zusammentrafen – angefangen von strukturellen Krisen der internationalen Ordnung bis hin zur Weltsicht der russischen Staatsführung. Einzelne Umstände hätten auch anders sein können, doch die Gesamtentwicklung war schon bald unumkehrbar. Zufälle, Gesetzmäßigkeiten, strategische Fallen und selbsterfüllende Prophezeiungen verbanden sich zu einem explosiven Gemisch und kamen zur Detonation. Für die Welt bedeutete dies eine Krise der internationalen Sicherheit und für die Ukraine den Kampf ums Überleben.

Hugo Grotius, einer der Begründer des modernen Völkerrechts, hielt Kriege für unsinnig. Für ihn waren Kriege die Folge inkompatibler staatlicher Interessen und somit ein natürliches Phänomen. In den meisten Fällen waren Kriege in Grotius‘ Augen ein verfehltes und ineffektives Instrument der Staatspolitik. Er hielt es grundsätzlich für besser, Widersprüche und Konflikte auf nicht-kriegerischem Weg zu lösen: durch ein Schiedsgericht, durch Vermittlung oder gar durch das Los oder ein symbolisches Duell. Unter dem Strich komme in etwa dasselbe Ergebnis dabei heraus – allerdings zu einem ungleich niedrigeren Preis.

Viele Menschen, die nicht so berühmt wurden wie Hugo Grotius, dachten ähnlich wie er. Fast vor jedem großen Krieg meldeten sich Denker zu Wort und legten überzeugend dessen Sinnlosigkeit dar. Historisch betrachtet steigt der Preis, der für einen Krieg zu zahlen ist, immer weiter und ist durch die Erfindung der Atomwaffen noch einmal sprunghaft in die Höhe geschnellt. Die Welt wächst zusammen und ist immer stärker miteinander verflochten – wozu gibt es dann Krieg in dieser Welt?

Obwohl sie irrational sind und ihre Sinnlosigkeit mitunter eklatant zutage tritt, brechen immer wieder Kriege aus.

Obwohl sie irrational sind und ihre Sinnlosigkeit mitunter eklatant zutage tritt, brechen immer wieder Kriege aus. Deshalb gibt es auch andere Meinungen als die von Grotius. Die Theorie des Realismus etwa empfiehlt, dass Staaten sich an den Kräfteverhältnissen und einer realistischen Bewertung der internationalen Sicherheitslage orientieren sollten, statt sich nur von den eigenen Wünschen und idealistischen Vorstellungen leiten zu lassen. Staaten können nur das tun, was das vorhandene Gleichgewicht der Kräfte ihnen ermöglicht, und Fehleinschätzungen können einen Staat, der den Grundsatz von der Gleichheit der Staaten zu wichtig nimmt, überaus teuer zu stehen kommen. Nicht zufällig legen die Verfechter dieser realistischen Sicht der Dinge so großes Gewicht auf den Umstand, dass der Westen mit dem, was anfänglich „Ukraine-Krise“ hieß, falsch umgegangen sei. Sie meinen, der Westen habe durch die Versprechungen, die Tür zur NATO stehe offen, der Ukraine zu viele falsche Hoffnungen gemacht und damit bewirkt, dass die ukrainische Außenpolitik sich von der trostloseren Realität abgekoppelt habe. Dadurch habe der Westen zum einen zu viele Risiken für Kiew geschaffen. Zum anderen habe der Westen durch die Missachtung der russischen Interessen das Kräftegleichgewicht zerstört und die Ukraine alleingelassen mit einer Situation, in der ihre Existenz unmittelbar infrage gestellt wurde.

Für Realisten besteht das oberste Ziel eines Staates darin, für die eigene Sicherheit zu sorgen. Unter anderem sollte er außerdem Kriege vermeiden – zumal dann, wenn die Siegchancen gering sind – und dafür durchaus auch Zugeständnisse in Kauf nehmen. Nach dieser Logik ist die Frage, ob man den Krieg als Instrument zum Einsatz bringt, eine Frage des Risiko-Chancen-Verhältnisses. Wenn mit diesen Risiken richtig umgegangen wird, ist dies eine gute Basis für die internationale Sicherheit und kann die Zahl der Kriege verringern, weil diese die Staaten – vor allem großen, besonders angriffslustigen Staaten – zu teuer zu stehen kommen.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin schien der Preis für seine Invasion der Ukraine vermutlich nicht zu hoch – und das ist die erste Lektion aus den beiden vergangenen Jahren. Moskau hatte aus dem Sommer 2014 gelernt, als es unter dem Druck der Sanktionsdrohungen das Risiko minimieren und sich zurückziehen musste – im Februar 2015 folgte dann das Minsker Abkommen. Acht Jahre lang arbeitete Russland daran, seine Widerstandsfähigkeit gegen westliche Wirtschaftssanktionen zu stärken. Durch den Erfolg dieser Bemühungen stieg die Risikobereitschaft des Kremls erheblich.

Der Westen war offenbar nicht bereit, sich die Sicherheit der Ukraine allzu viel kosten zu lassen.

Die zweite Erkenntnis, die die Russen gewinnen konnten, war diese: Der Westen war offenbar nicht bereit, sich die Sicherheit der Ukraine allzu viel kosten zu lassen. In den acht Jahren zwischen 2014 und 2022 ging die Annäherung der Ukraine an den Westen nie auch nur ansatzweise so weit, dass von einem bündnisartigen Verhältnis die Rede sein konnte. Die NATO-Mitgliedschaft war ein Thema für Wahlkampfslogans und diplomatische Rhetorik, aber keine reale Perspektive.

Die von US-Präsident Donald Trump initiierten Waffenlieferungen waren eher ein symbolischer Akt und als Ersatz für reale Sicherheitsgarantien gedacht. Für das „patron’s dilemma“ – die „Zwickmühle des Schutzherren“ – wählten die USA die einfachere Lösung: Statt die Option von Sicherheitsgarantien ernsthaft in Betracht zu ziehen, unterstützten sie die Ukraine mit Geld. Die Ukraine blieb sicherheitspolitisch in einer Grauzone stecken und wurde für Russland zu einem ziemlich schwachen und bequemen Gegner.

Die dritte Lehre für die Russen war, dass ihre groß angelegte Strategie zur Schwächung der Ukraine im Großen und Ganzen aufzugehen schien. Als die Realisten im Kreml erkannt hatten, dass es eine Rückkehr zu einer russlandfreundlichen Ukraine auf absehbare Zeit nicht geben würde, wurde diese Strategie sogleich ausbuchstabiert. Das hieß: Russland stufte die Ukraine als Bedrohung ein und versuchte, ihr Verteidigungs-, Wirtschafts- und Sozialpotenzial maximal zu ruinieren. Der Kulminationspunkt dieses Versuchs war schließlich die Invasion.

An dieser Stelle lassen sich viele historische Parallelen ziehen, von der Konfrontation zwischen Sparta und Athen bis zum Krieg zwischen dem deutschen Kaiserreich und Frankreich. Doch sobald das Verhältnis zwischen Staaten eine solche Entwicklung nimmt, steigt durch die Logik des Sicherheitsdilemmas die Kriegswahrscheinlichkeit. Dass erstens die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sich in der beschriebenen Weise entwickelten, dass zweitens Kiew ohne Verbündete dastand und drittens der Westen nicht in der Lage war, den von Russland zu zahlenden Preis für den Krieg in die Höhe zu treiben, gab die Rahmenbedingungen vor, unter denen der Kreml sich zur Invasion entschloss.

Die Anhänger von Hans Grotius‘ Ansichten hätten vermutlich geltend gemacht, dass man selbst unter solchen Rahmenbedingungen einen Krieg noch hätte verhindern können, indem man das Gespräch sucht. Die Grundlage dafür hätte natürlich das Minsker Abkommen in der einen oder anderen Interpretation sein müssen. Die für die Ukraine beste Interpretation dieses Abkommens hätte bedeutet, dass Kiew formell die Kontrolle über die besetzten Gebiete im Osten wiedererlangt hätte unter der Bedingung, dass de facto Russland die Kontrolle behalten hätte und weiterhin in der Lage gewesen wäre, sich in die politischen Prozesse in der Ukraine einzumischen. In diesem Szenario wäre die „Krim-Frage“ ausgeklammert worden – mit allen Vorteilen, die sich daraus für Russland ergeben hätten. Theoretisch hätten Verhandlungen eine Alternative zum Krieg sein können, doch in der Praxis standen gravierende Hindernisse im Weg. In fast acht Jahren des Verhandelns konnten die beiden Parteien noch nicht einmal so viel Vertrauen zueinander fassen, dass sie sich auf einen Waffenstillstand hätten einigen können. Aus strategischen Gründen konnte keine der beiden Seiten sich mit dem Minsker Kompromiss als abschließender Lösung abfinden. Die Annexion der Krim durch Russland hatte langfristige destruktive Folgen nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern auch für deren Sicherheit und das politische Umfeld. Seit 2014 gab es keine Plattform und keinen Pfad mehr, auf denen die beiden Staaten zu einer Vereinbarung hätten kommen können.

Die EU die Bewährungsprobe des Russland-Ukraine-Konflikts nicht bestanden.

Da konnten auch die internationalen Partner keine effektive Rolle mehr spielen. Die Vermittlungsbemühungen Deutschlands und Frankreichs im Normandie-Format halfen aus verschiedenen Gründen nicht weiter. Das Vertrauen in diese Bemühungen war nicht groß genug; und die Vermittlungsbemühungen krankten daran, dass sie nicht mit entsprechenden Machtressourcen und Einflussmöglichkeiten unterfüttert waren. Insgesamt hat die EU die Bewährungsprobe des Russland-Ukraine-Konflikts nicht bestanden und steht deshalb heute vor weitaus gravierenderen Sicherheitsproblemen. Für gehaltvolle Verhandlungen, die in dieser Situation eine Alternative zum Krieg hätten sein können, hätten viele Faktoren zusammenkommen müssen, von denen jeder einzelne für sich schon ziemlich unwahrscheinlich war.

Krieg ist für alle Beteiligten ein riskantes Lotteriespiel. Putin ging ins Risiko, indem er den Einsatz erhöhte und erst recht indem er beschloss, in die Ukraine einzumarschieren. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ging ins Risiko, indem er sich dem Druck, den Drohungen und Forderungen des Kremls widersetzte – sei es, weil er Russlands Kriegsbereitschaft unterschätzt oder weil er die Bereitschaft seiner Partner, die Ukraine zeitlich unbegrenzt zu unterstützen, überschätzt hat. Oder weil er überzeugt war, dass Zugeständnisse das Rezept für die Niederlage seien, und sich relativ gute Erfolgschancen ausrechnete, falls es zum Krieg kommt. Wer in dieser Lotterie wie viel verliert, wird die Zeit zeigen.

Letztendlich kam dieser Krieg durch das Zusammentreffen dreier Schlüsselfaktoren zustande: Durch die Annexion der Krim im Jahr 2014 war Russland strategisch in eine Sackgasse geraten; Putin war sich nicht sicher, für wen die Zeit arbeitet; und die Ukraine strandete in einer „Grauzone“ ohne Verbündete und ohne Sicherheitsgarantien. Es hätte zwei Möglichkeiten gegeben, den Krieg zu verhindern: Entweder hätte es schnelle und verlässliche, echte Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben müssen, die nur die USA hätten bieten können. Oder die Ukraine hätte so weitreichende Zugeständnisse an Russland machen müssen, dass sie ihre eigene Staatlichkeit gefährdet hätte. Dieser Preis war für Kiew unendlich viel zu hoch – und zudem wäre Moskau vermutlich nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bereit gewesen, diese Zugeständnisse überhaupt anzunehmen. Ab Mitte 2021 war es bereits zu spät.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld