„Wir müssen aufhören, Mädchen in Richtung höherer Bildung zu lenken.“ Diese Aussage stammt nicht, wie vielleicht zu vermuten wäre, von einem religiösen Fundamentalisten, sondern von einer russischen Senatorin. Junge Frauen sollten laut Margarita Pawlowa, die selbst Akademikerin ist und drei Kinder hat, keine Karriere machen, sondern stattdessen lieber Kinder bekommen. Dies würde zur Lösung des demografischen Problems in Russland beitragen. Die Staatsduma erwog daher, angeblich auf Bitte des russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill, Abtreibungen in russischen Privatkliniken zu verbieten.

Obwohl das Gesetz schlussendlich nicht verabschiedet wurde, haben Privatkliniken in einigen Regionen Russlands in der Folge angekündigt, solche medizinischen Leistungen künftig nicht mehr anzubieten. Im Gesundheitsausschuss der Duma entbrannten zudem Diskussionen über die Schädlichkeit von Kondomen. Mädchen unter 18 Jahren sollten, so eine Teilnehmerin des Ausschusses, eine Schwangerschaft unter allen Umständen aufrechterhalten, da es großartig sei, jung Eltern zu werden. Doch das war bei weitem nicht alles: Seit neuestem steht im russischen Parlament ein Gesetzesentwurf zur Debatte, der „Propaganda“ verbieten soll, die angeblich Jugendliche dazu verleiten soll, kinderlos zu bleiben.

All diese erschreckend rückständigen Initiativen kommen nicht von ungefähr. In Russland läuft eine gezielte Kampagne für die „traditionellen Werte“. Eine Auflistung solcher kann in einem im November 2022 von Putin unterzeichneten Erlass nachgelesen werden: „Leben, Würde, Rechte und Freiheiten des Menschen, Patriotismus, Dienst dem Vaterland, hohe moralische Ideale, starke Familie, kreative Arbeit, Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen“. Gemäß dem Dokument übernimmt der Staat die Pflicht, „traditionelle russische geistig-moralische Werte“ zu stärken und gegen „destruktive Ideologien“ vorzugehen, welche „Egoismus, Zügellosigkeit, Unmoral“ sowie „nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ propagieren. Übel wie diese kämen dabei hauptsächlich aus den USA und anderen „unfreundlichen Ländern“.

Die hierbei hochgehaltene moralische Überlegenheit Russlands gegenüber dem dekadenten Westen hat sich seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine vom bloßen Lippenbekenntnis hin zu konkreten Maßnahmen auf der Ebene der russischen Gesetzgebung gewandelt. Alles, was auch nur geringfügig von der „Parteilinie“ abweicht, wird verboten, vernichtet oder bestraft. Unliebsame Schriftsteller, die sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen haben, werden zu sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt, einige von ihnen sogar als Terroristen gelistet. Bibliotheken entfernen ihre Bücher, sogar aus den Katalogen. Die internationale „LGBT-Bewegung“, welche es als Organisation ironischerweise gar nicht gibt, wurde wegen „Extremismus“ verboten. Museen sind hingegen verpflichtet, obligatorische Ausstellungen zum Ukraine-Krieg zu organisieren, und Schulen sollen Patriotismus-Stunden einführen.

Offensichtliche Widersprüche scheinen die Kreml-Ideologen nicht zu stören.

Dennoch ergibt sich in diesem Strom von Verboten und Verschärfungen kein zusammenhängendes ideologisches Bild. Denn was genau ist unter „traditionellen Werten“ überhaupt zu verstehen? So erklärt Putin einerseits, dass Familien mit acht oder mehr Kindern zur Lebensnorm werden sollten, und zeigt öffentlich nur zu gern seine angebliche Verbundenheit mit dem orthodoxen Glauben. Andererseits bezeichnete er den Zerfall der UdSSR als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Eine Nostalgie nach Sowjetzeiten wird so regelrecht geschürt und der Name Stalins langsam, aber sicher rehabilitiert. Ein Paradox, denn die von Putin hochgelobte Orthodoxe Kirche war gerade in der UdSSR schrecklichen Verfolgungen ausgesetzt. Was familiäre Werte betrifft, so wurden in den 1980er Jahren jährlich 4,5 Millionen Abtreibungen durchgeführt, womit die Sowjetunion globaler Spitzenreiter war.

Doch diese offensichtlichen Widersprüche scheinen die Kreml-Ideologen nicht zu stören. Im Gegenteil: Die Aufgabe, an der Macht zu bleiben, erfordert eine klare Legitimation, wofür eine staatliche Ideologie gebraucht wird, die ihre Rechtfertigung in der Geschichte sucht. So wurden am 1. September 2023 erstmals nach dem Zerfall der UdSSR alle Schulen in Russland auf ein einheitliches Geschichtsbuch umgestellt, das den Bürgern die „richtige“ Sicht der Geschichte vermittelt. Einer der Autoren des Lehrbuchs ist der Präsidentenberater und ehemalige russische Kulturminister Wladimir Medinski. Das Hauptziel des Lehrbuchs sei, so heißt es in der Zusammenfassung, „die Bildung einer russischen staatsbürgerlichen Identität und des Patriotismus bei den Schülern“.

Der russische Historiker und Menschenrechtsaktivist Sergej Lukaschewski, der das 2022 geschlossene Moskauer Sacharow-Zentrum leitete, bezeichnet das hierdurch vom Kreml gezeichnete Weltbild der russischen Geschichte als „heroisch und schön“. Das Hauptaugenmerk der Ideologie fokussiere auf einen starken Staat. „Es ist verboten, die Macht der Menschen, die diesen Staat führen, infrage zu stellen oder irgendwelche Elemente russischer Geschichte negativ zu bewerten“, so der Historiker im Gespräch mit der Autorin. Gleichzeitig manipuliere der Kreml geschickt die Nostalgie vieler (vor allem älterer) Russinnen und Russen nach der Sowjetunion und damit auch ihre Angst vor der Wiederkehr der „wilden 1990er“, die nach dem Zusammenbruch des riesigen Landes folgten. Für diese Generation stelle die Angst, ihr Land erneut zu verlieren, den Eckpfeiler ihres Denkens dar. Lukaschewski zufolge sei für sie ein starker Staat essenziell, getragen von einem starken Präsidenten, von der Armee und von der Kirche als dessen Institutionen. Ein dazu passender, in russischen sozialen Netzwerken populärer Aphorismus lautet: „Wir hatten solche Angst vor der Wiederholung der 90er, dass wir im Jahr 1937 gelandet sind.“ Damit ist das Jahr der größten stalinistischen Repressionen gemeint.

Die sorgsam gepflegte anti-westliche Haltung des Kremls entpuppt sich als eine „Niederwerfung vor dem Westen“.

Seine starke Fixierung auf die Geschichte demonstrierte Putin erst kürzlich in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson. Ganze 23 Minuten lang hielt er dem staunenden Carlson einen Vortrag zur Geschichte der Ukraine und Russlands, beginnend im Jahr 862. Dabei zeigte sich wieder einmal die ganze Bandbreite der Widersprüchlichkeit der Kreml-Ideologie: Alle Anstrengungen der Propaganda sind letztlich allein darauf ausgerichtet, die (nicht nur) moralische Überlegenheit Russlands gegenüber dem dekadenten Westen zu beweisen. Selbst der Krieg in der Ukraine wird von Propagandisten so als Krieg gegen die NATO dargestellt. Eine aggressive Anti-Westlichkeit ist wesentlicher Bestandteil dieser Ideologie. Wenn im Gegenzug jedoch ein amerikanischer Journalist nach Moskau kommt, wird sein Besuch regelrecht bejubelt und ist in sämtlichen staatlichen Medien das Thema Nummer 1. Jeder Schritt Carlsons wurde in Moskau beinahe minutiös verfolgt, egal ob er das Bolschoi-Theater besuchte oder ein Exponat der patriotischen Ausstellung „Russland“ bewunderte. Der Vorsitzende des russischen Journalistenverbandes, Wladimir Solowjow, wollte den amerikanischen Moderator sogar in seinen Verband aufnehmen. Die sorgsam gepflegte anti-westliche Haltung des Kremls entpuppt sich so als eine „Niederwerfung vor dem Westen“. Im Umkehrschluss also genau als das, wogegen die Propaganda so verzweifelt kämpft – ganz im Stil Stalins, der eine Kampagne gegen die „Anbetung des verrotteten Westens“ entfesselt hatte.

Ein wichtiges Argument der anti-westlichen Propaganda ist hierbei die angebliche „Cancel Culture“ gegen Russland im Westen. Dabei schadet das Regime der russischen Kultur hiermit vielmehr selbst. Denn in russischen sozialen Netzwerken geistert eine Liste von Namen russischer Schriftsteller herum, die in verschiedenen Perioden der russischen Geschichte staatlicher Unterdrückung ausgesetzt waren: „Puschkin wurde verbannt; Dostojewski wurde zum Tode verurteilt, dann begnadigt und verbannt; Tolstoi wurde aus der Kirche ausgeschlossen; Gumiljow wurde erschossen; Mandelstam wurde verbannt und getötet; Brodsky wurde aus dem Land gedrängt; Solschenizyn wurde verfolgt, verbannt und aus dem Land gedrängt.“ Dieses traurige Verzeichnis endet mit den Namen moderner Autoren, die erst kürzlich gezwungen waren, ins Exil zu gehen, darunter Boris Akunin, Dmitri Gluchowski oder Ljudmila Ulitzkaja. „Liebe Weltgemeinschaft, bitte ‚cancelt‘ die russische Kultur nicht“, schrieb ein Kommentator mit trauriger Ironie. „Wir schaffen es auch alleine.“