Nachdem das international nicht anerkannte Transnistrien lange keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, macht es jetzt wieder lautstark von sich reden. Am 28. Februar kamen in Tiraspol Abgeordnete aller Ebenen zu einem Kongress zusammen und beschlossen, angesichts der „durch Druck seitens der Republik Moldau verursachten Verschlechterung der Wirtschaftslage“ Russland um Hilfe zu bitten. Gleichzeitig wandten sie sich an die UNO, die OSZE, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und sogar die EU mit dem Wunsch, sie mögen ihren Einfluss auf die moldauische Regierung geltend machen.
Auslöser war eine Reihe von Maßnahmen, die Chișinău entweder schon ergriffen hat oder für die Zukunft plant. Die Republik Moldau verändert Schritt für Schritt die Realitäten, an die Transnistrien sich während des seit Jahrzehnten ungelösten Konflikts mit Moldau gewöhnt hat. Die erste gravierende Veränderung erfolgte Anfang 2023: Das Parlament ergänzte das moldauische Strafgesetzbuch um einen „Separatismus“-Paragrafen, den es bis dato nicht gegeben hatte und der seither wie ein Damoklesschwert praktisch über jedem transnistrischen Politiker und Funktionär hängt. Für „Handlungen, die auf die Abtrennung von Teilen des Staatsgebietes der Republik Moldau abzielen“, für „separatistische Bestrebungen sowie die Verbreitung von Materialien und/oder Informationen, die zu Separatismus anstiften“, drohen nunmehr lange Gefängnisstrafen.
Die Republik Moldau verändert Schritt für Schritt die Realitäten, an die Transnistrien sich während des seit Jahrzehnten ungelösten Konflikts mit Moldau gewöhnt hat.
Trotz Tiraspols anhaltender Kritik am „Separatismus“-Paragrafen im Strafgesetzbuch gingen die moldauischen Behörden noch einen Schritt weiter: 2024 trat der neue Zollkodex der Republik Moldau in Kraft, mit dem die seit Jahren gewährten Zollvergünstigungen für transnistrische Unternehmen abgeschafft werden. Nach dem moldauischen Zollgesetz von 1997 waren „Wirtschaftsteilnehmer, die auf dem Staatsgebiet der Republik Moldau ansässig sind, aber keine steuerlichen Beziehungen zu deren Haushaltswesen haben“, von Ein- und Ausfuhrzöllen befreit. Die schwerfällige Formulierung bedeutet im Klartext: Unternehmen aus Transnistrien brauchten keine Zölle zu zahlen. Mit dieser Vergünstigung ist es nun vorbei. Zudem hat die Republik Moldau vor, ab diesem Jahr transnistrische Unternehmen für Umweltschäden zur Kasse zu bitten und Autos mit transnistrischem Nummernschild nicht mehr auf Nationalstraßen fahren zu lassen. Diese Maßnahmen stehen im Aktionsplan der Regierung für 2024, wurden aber noch nicht umgesetzt.
Die neue moldauische Zollordnung sorgt in Tiraspol für mehr Beunruhigung als der neue „Separatismus“-Paragraf im Strafgesetzbuch. In Transnistrien kam es zu Protestkundgebungen gegen die von Moldau errichtete „Blockade“. Die Proteste wurden als spontaner Ausdruck des allgemeinen Volkszorns über Chișinăus Vorgehen dargestellt, aber dafür waren sie zu gut organisiert. Die Empörung gipfelte nun am 28. Februar in einem Sonderkongress von Abgeordneten aller Ebenen der nicht anerkannten Republik Transnistrien. Den größten Medienrummel gab es allerdings im Vorfeld: In diversen Ländern spekulierte die Presse darüber, ob Transnistrien um den Anschluss an Russland bitten wird oder nicht – zumal wegen der zeitlichen Nähe des Kongresstermins zum 29. Februar, an dem Wladimir Putins Rede zur Lage der Nation vor der Föderationsversammlung anstand. Die meistgeäußerte Verschwörungstheorie lautete, der Kongress in Tiraspol werde Moskau um Wiedervereinigung mit Russland bitten und Putin werde am Tag darauf dieser Bitte nachkommen. Es geschah allerdings weder das eine noch das andere.
Putin ging in seiner Rede auf Transnistrien gar nicht ein.
Putin ging in seiner Rede auf Transnistrien gar nicht ein, und das Ergebnis des Kongresses in Tiraspol war ein schwammiges Dokument, in dem Chișinău scharf kritisiert und in verklausulierter Form auch der Kurs in Richtung Anschluss an Russland bestätigt wird. Ziel der transnistrischen Behörden, so heißt es in der vom Kongress verabschiedeten Erklärung, sei die „Verwirklichung des bei sämtlichen Referenden zum Ausdruck gebrachten Volkswillens“. Mit „sämtlich“ ist unter anderem auch das Referendum von 2006 gemeint, bei dem 97 Prozent der Bevölkerung der nicht anerkannten Republik sich für den Unabhängigkeitskurs und eine spätere Vereinigung mit der Russischen Föderation aussprachen.
Auf die von der moldauischen Regierung unternommenen Schritte reagierte der Kongress allerdings nicht mit konkreten Maßnahmen. Stattdessen beschloss er einen Rundumschlag von Appellen an UNO, OSZE, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die EU und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Transnistrien werde all diese Akteure bitten, ihren Einfluss auf die Republik Moldau geltend zu machen und nicht zuzulassen, dass sie die nicht anerkannte Republik unter Druck setzt und es am Dnister zu einer Eskalation kommt; außerdem solle Moldau zur Rückkehr an den Verhandlungstisch bewegt werden.
An Moskau will Tiraspol die Bitte richten, angesichts des „wachsenden moldauischen Drucks und der Tatsache, dass auf dem Gebiet der Transnistrischen Moldauischen Republik mehr als 220 000 russische Staatsbürger leben, diplomatische Maßnahmen zum Schutz Transnistriens zu ergreifen“. Bemerkenswert ist, dass in der ersten Fassung der Erklärung die Präzisierung fehlte, dass diplomatische Schutzmaßnahmen gemeint sind. Dadurch wurde ein breiter Interpretationsspielraum eröffnet, der auch militärischen Beistand beinhalten konnte. Im endgültigen Wortlaut des Dokuments wurde die Bitte an Moskau konkretisiert und verschwörungstheoretischen Deutungen ein Riegel vorgeschoben.
Doch was bleibt nun unter dem Strich? Transnistrien hat ein Medien-Event veranstaltet und sich auf jeden Fall Aufmerksamkeit verschafft – ganz ohne drastische Schritte und radikale Beschlüsse. Die finsteren Prognosen haben sich nicht bewahrheitet, dem Kongress aber enorme Publicity verschafft. Unter PR-Gesichtspunkten wurde die Mission also erfüllt. In allen anderen Punkten ist die Lage weniger eindeutig.
Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich die Situation für Transnistrien verschlechtert.
Die Art und Weise, wie Tiraspol in jüngster Zeit agiert, verlangt nach einer mehrdimensionalen Betrachtung. Da ist zum einen die russische Dimension. Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich die Situation für Transnistrien verschlechtert. Für Kiew wurde Transnistrien zur Bedrohungszone – wegen seiner lauthals erklärten Russlandfreundlichkeit und der dortigen russischen Militärpräsenz, die neben einer Friedenstruppe auch eine Einheit der russischen Streitkräfte und insgesamt rund 1 000 Soldaten umfasst. Der transnistrische Abschnitt der moldauischen Grenze zur Ukraine ist seit 2022 geschlossen, sodass Transnistrien seine Ein- und Ausfuhren (70 Prozent seiner Exporte gehen in die EU) nur noch über die Republik Moldau abwickeln kann, die damit ein wichtiges Druckmittel gegenüber der ihrer Kontrolle entzogenen Region in die Hand bekam. Durch den Krieg ist Transnistrien also angreifbarer geworden.
Auch Russland ist am Dnister inzwischen in einer deutlich geschwächten Position. Chișinău unterhält seit zwei Jahren auf keiner Ebene mehr Kontakte zu Moskau. Dadurch kann Russland Tiraspol politisch und diplomatisch nicht mehr so unterstützen wie früher. Die internationalen Verhandlungen unter Beteiligung Moskaus liegen brach: Russlands wiederholte Versuche, den Verhandlungsprozess im „5+2“-Format (Chișinău und Tiraspol als Konfliktparteien, die OSZE, Russland und die Ukraine als Vermittler, USA und EU als Beobachter) wieder in Gang zu bringen, blieben erfolglos. Aus nachvollziehbaren Gründen sperrt Kiew sich gegen einen Neustart – und nach Chișinăus Einschätzung ist ein business as usual unmöglich, solange die Armee des einen Vermittlers die Städte des anderen Vermittlers bombardiert. Mit seinem Hilfegesuch an Russland und die Welt gibt Transnistrien Moskau die Gelegenheit, zu erklären, dass es nach wie vor mit im Spiel ist und die Frage der Wiederbelebung der Verhandlungen erneut auf die Tagesordnung setzen kann.
Russland macht aus seiner Ablehnung gegenüber dem moldauischen Staatsoberhaupt keinen Hehl.
Es gibt noch eine zweite Dimension: die moldauische. Im Herbst finden in der Republik Moldau Präsidentschaftswahlen statt, bei der Amtsinhaberin Maia Sandu sich um eine zweite Amtszeit bewerben will. Die Beziehungen der pro-westlichen Sandu und ihres Teams zu Moskau sind schlecht: Präsidentin, Regierung und die Regierungspartei „Aktion und Solidarität“ stehen geschlossen hinter der Ukraine und kritisieren die russische Regierung scharf. Umgekehrt macht Russland aus seiner Ablehnung gegenüber dem moldauischen Staatsoberhaupt keinen Hehl und unterstützt die gegen Sandu opponierenden Kräfte in der Republik Moldau. Moskau hat Interesse an einem Machtwechsel in der Republik, und der zwar rein verbale, aber recht lautstarke Konflikt zwischen Chișinău und Tiraspol bietet einen aktuellen Anlass, der moldauischen Regierung vorzuwerfen, sie sei nicht in der Lage, für Stabilität zu sorgen.
Darüber hinaus haben die jüngsten Ereignisse aber noch eine eigene, inner-transnistrische Dimension. Die nicht anerkannte Republik ist nämlich auch ein Geschäftsmodell. Die dort ansässige Holding „Sheriff“ hat in allen einträglichen Wirtschaftszweigen eine Monopolstellung – vom Groß- und Einzelhandel über Kraftstoffversorgung und Telekommunikation bis zur Glücksspielbranche und Industrieproduktion – und arbeitet seit 30 Jahren unter maximal komfortablen Rahmenbedingungen. Auch politisch nimmt „Sheriff“ Einfluss: Die Wahl des heutigen transnistrischen Regierungschefs Wadim Krasnoselski wurde durch das Unternehmen tatkräftig unterstützt.
Dass die Republik Moldau sich nun daranmacht, die Spielregeln zu ändern, muss den transnistrischen Giganten natürlich beunruhigen. Der Kongress sollte das Signal aussenden, dass „Sheriff“ nicht vorhat, klein beizugeben. Der Widerstand ist allerdings wohldosiert – die Resultate des Kongresses sprechen für sich. In der Unternehmensführung von „Sheriff“ sitzen Pragmatiker, die genau wissen, dass drastische Schritte die Situation noch verschlimmern können. Konzerneigentümer Victor Gushan ist ukrainischer Staatsbürger (wie übrigens auch Regierungschef Wadim Krasnoselski), hat Vermögen in der Ukraine und will nicht auf den Sanktionslisten des Westens erscheinen.
Den transnistrischen Eliten ist der Status als nicht anerkannte Republik lieb und teuer.
Oft wird Transnistrien bedingungslose Gefolgschaft gegenüber dem Kreml unterstellt, aber das entspricht nicht der Realität. So haben die dortigen Behörden zum Beispiel in zwei Jahren kein einziges Mal Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine unterstützt, sondern mehrfach betont, dass sie ukrainische Flüchtlinge aufnehmen und ihnen Hilfe leisten. Den transnistrischen Eliten ist der Status als nicht anerkannte Republik lieb und teuer, denn er bringt sie erstens in den Genuss kostenloser Gaslieferungen („Gasprom“ stellt diese Lieferungen zwar Chișinău in Rechnung, fordert die Zahlungen aber nicht ein, sodass Tiraspol sein Gas zum Nulltarif bezieht) und ermöglicht ihnen zweitens, mit der EU Handel zu treiben, ohne sich Chișinău zu unterwerfen und von ihm abhängig zu sein. Das war die Situation vor Russlands Einmarsch in die Ukraine.
Der ungelöste transnistrische Konflikt nimmt schon seit Langem kuriose Formen an. Einerseits schottet Transnistrien sich mit Zollstationen an der Grenze von Moldau ab, andererseits sind die beiden Ufer des Dnister eng miteinander verflochten. Das moldauische Regionalkraftwerk, von dem Moldau seinen Strom kauft, liegt auf transnistrischem Gebiet. Die Bewohner der nicht anerkannten Republik bekommen (neben russischen und ukrainischen) moldauische Pässe, fahren zum Arbeiten, Studieren oder Shoppen nach Chișinău und lassen sich dort ärztlich behandeln. Der transnistrische Fußballclub „Sheriff“ – der Vereinseigentümer ist unschwer zu erraten – holte mehrmals den moldauischen Meistertitel und tritt in den europäischen Pokalwettbewerben unter moldauischer Flagge an. Die transnistrische Bevölkerung nimmt an den moldauischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen teil. Solche Eigenheiten gab es bei keinem anderen territorialen Konflikt im postsowjetischen Raum. Das heißt nicht, dass diese bestehende Konstruktion nicht zum Einsturz gebracht werden könnte, wenn der Wille dazu vorhanden wäre. Doch im Augenblick ist dieser Wille auf keiner Seite erkennbar.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld