Seit der Finanzkrise 2008 gab es große Fortschritte bei den Reparaturarbeiten innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion, etwa bei der Etablierung der Bankenunion. Schon beim Thema gemeinsame Einlagensicherung sind sich die Mitgliedsstaaten allerdings selbst ein Jahrzehnt nach der Finanzkrise immer noch nicht einig. Auch hinsichtlich der Bewertung der von EU-Kommission und IWF verordneten Sparprogramme besteht weiterhin kein Konsens. Kein anderer finanzpolitischer Streit hat die Mitgliedstaaten jedoch so entzweit, wie der über die Vergemeinschaftung von Schulden.

Bedenkt man, wie heftig dieser Streit auch öffentlich geführt wird, ist es erstaunlich festzustellen, dass es die Vergemeinschaftung von Schulden innerhalb der EU und Eurozone schon längst gibt. Lediglich nicht in allgemeinen Anleihen oder Eurobonds. So hat die Europäische Investitionsbank (EIB) in Europa im vergangenen Jahr über 50 Milliarden Euro an Krediten vergeben. Jeder Euro, den die EIB an Unternehmen vergibt, wird über Anleihen finanziert, für die die Mitgliedstaaten gemeinsam haften – es handelt sich bei ihnen um vergemeinschaftete Schulden. Die EZB kaufte zuletzt italienische Anleihen in Milliardenhöhe, auch dies ist nur mit einem gemeinsamen Zahlungsversprechen der EZB-Mitgliedstaaten möglich. Und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), der nationale Haushalte kapitalisieren soll, wird auch von einem gemeinsamen Zahlungsversprechen der Euroländer gedeckt.

Zu diesen Institutionen und Reforminitiativen innerhalb der Union kamen in den letzten Jahren zwei besondere weltumspannende Entwicklungen hinzu, die die Entwicklung in der Wirtschafts- und Währungsunion heute und in Zukunft erheblich beeinflussen werden: der Aufstieg Chinas und eine Veränderung innerhalb der USA, die man „Neuinterpretation“ der globalen Rolle der USA nennen kann. Viele haben dies als einen Schritt hin zu einer G-2-Welt bezeichnet, dominiert von den zwei konkurrierenden Großmächten USA und China.

In Europa hat sich deshalb die Überzeugung durchgesetzt, dass die Europäische Union unabhängiger werden muss. Diese Debatte findet auch vor dem Hintergrund möglicher Tendenzen einer De-Globalisierung statt. Einig sind sich die meisten in Europa, dass wir eine solide Wirtschaft brauchen – mit starker Binnennachfrage, soliden Banken, wettbewerbsfähigen Unternehmen und Sozialstandards, die nicht in einem globalen „Race to the Bottom“ geopfert werden dürfen. Und dazu gehört natürlich auch eine echte europäische Währung.

Einig sind sich die meisten in Europa, dass wir eine solide Wirtschaft brauchen – mit starker Binnennachfrage, soliden Banken, wettbewerbsfähigen Unternehmen und Sozialstandards, die nicht in einem globalen „Race to the Bottom“ geopfert werden dürfen.

Allerdings gab es über die Frage, wie Europa diese neue Unabhängigkeit im 21. Jahrhundert erreichen sollte, völlig verschiedene Vorstellungen. Wenn man die innereuropäische Debatte zu den Themen Brexit, Migration, Klimawandel und Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit Revue passieren lässt, kann man festhalten: Am Vorabend der Corona-Krise war die EU im Hinblick auf die wichtigen und grundsätzlichen Herausforderungen völlig uneinig. Auch über die Vergemeinschaftung von Schulden in Form sogenannter Eurobonds.

Es ist absehbar, dass einige Länder der EU mit der Bewältigung der Corona-Krise allein überfordert sein könnten. Entweder schon heute oder in Zukunft, wenn es nach dem Überstehen der Krise beispielsweise um die Finanzierung von Konjunkturpaketen geht. Eine gemeinschaftliche Europäische Anleihe, die die Mitgliedstaaten in die gemeinsame Haftung nimmt, kann nur einstimmig von den Mitgliedstaaten ins Leben gerufen werden. Seit Wochen ist jedoch klar, dass sich die Staaten hierzu nicht einig werden. Zu unversöhnlich die Positionen, zu tief die Gräben, die die Debatten der letzten Jahre verursacht haben.

Klar ist, dass die Mitgliedstaaten in dieser Krise solidarisch zusammenstehen müssen. Das bedeutet, dass Länder wie Deutschland und die Niederlande, die sich am Kapitalmarkt günstiger finanzieren als andere, diesen Vorteil innerhalb der Union teilen müssen. Diese Finanzmittel sind ein Zeichen der Solidarität, aber auch praktische Wirtschaftshilfe, die uns selbst zugute kommt. Schließlich profitiert Deutschland wie kein anderes EU-Land vom gemeinsamen Binnenmarkt.

Die Finanzmittel dürfen nicht an unnötige Bedingungen geknüpft werden, die einem Rückfall in die Austeritätspolitik nach der Finanzkrise gleichkämen.

Und klar ist auch: Diese Krise wurde nicht von den Mitgliedstaaten verursacht. Die neuen Corana-Viren sind ein „externer Effekt“. Deshalb muss gelten, was Olaf Scholz und Norbert Walter-Borjans Ende März gefordert haben: Die Finanzmittel dürfen nicht an unnötige Bedingungen geknüpft werden, die einem Rückfall in die Austeritätspolitik nach der Finanzkrise gleichkämen. Beide plädieren zu Recht dafür, jetzt den ESM und die EIB zu nutzen, weil diese Institutionen schon bestehen und somit Finanzhilfen zu günstigen Konditionen aufnehmen und schnell an die Mitgliedstaaten auszahlen könnten.

Mit dieser Position kann es Deutschland gelingen, einen Kompromiss zwischen den „Bond-Gegnern“ und „Bond-Befürwortern“ zu stiften und für Ausgleich zwischen dem Norden und dem Süden Europas zu sorgen. Eine Rolle, die traditionell von Frankreich und Deutschland gemeinsam übernommen, aber derzeit nicht gemeinsam ausgeübt wird. Deutschland stünde diese Rolle jetzt besonders gut zu Gesicht, weil wir unter Finanzminister Wolfgang Schäuble nach der Finanzkrise nicht etwa Vermittler und Moderator in Europa waren, sondern uns auf die Seite der Nordländer gestellt haben. Dies war ein historischer Fehler, der den (finanzpolitischen) Graben in Europa immens vertieft hat.

Wir müssen nun den Brand löschen und deshalb schnell handeln. Die EZB, die EIB und der ESM sind Institutionen, die Ländern wie Italien und Spanien schon heute helfen könnten und dabei gemeinschaftlich finanziert sind. Wir müssen jetzt auf dieses Instrumentarium zurückgreifen, weil wir den Grundkonflikt über Eurobonds zeitnah nicht lösen können werden.

Diese Krise zeigt auch: Wenn wir mit den Herausforderungen der globalen Veränderungen fertigwerden und dabei nicht in einem permanenten Krisenmodus durch das 21. Jahrhundert geschaukelt werden wollen, wo in nächtlichen Sitzungen entschieden wird, ob der Kapitalmarkt oder die innereuropäische Solidarität siegt, müssen wir die Wirtschafts- und Währungsunion auf ein solideres Fundament stellen. Dazu gehören Eigenmittel der Europäischen Union – etwa durch eine eigene Steuer –, eine gestärkte EZB, eine Europäische Arbeitslosenrückversicherung, eine gerechte europäische Unternehmensbesteuerung, Eurobonds und ein europäischer Finanzminister.

Um unabhängig von globalen Verwerfungen und Entwicklungen in China und den USA zu sein, sind diese Weiterentwicklungen unbedingt notwendig. Es reicht nicht, dass wir europäische Solidarität fordern, wir müssen sie auch institutionell umsetzten. Der Rest der Welt muss uns glauben können, wenn wir sagen: „Wir in Europa stehen zusammen, komme was wolle.“ Erst wenn dieser Satz von Washington bis Peking verstanden wird, haben wir die Unabhängigkeit, die wir in diesem Jahrhundert brauchen, um unsere Freiheit, unseren Wohlstand und die Art wie wir leben wollen, erhalten zu können.