Es ist noch gar nicht so lange her, da gehörten die Worte „Griechenland“, „Krise“ und „Schulden“ zum Standardrepertoire, mit dem ausländische Beobachter, vor allem in Deutschland, Hellas beschrieben. Nun, da Griechenland zum zweiten Mal innerhalb von fünf Wochen vor Parlamentswahlen steht, dominieren ganz andere Begriffe. Es ist die Rede davon, dass das Land „über den Berg“ sei, es „geschafft“ habe. Der wirtschaftliche Aufschwung erregt Aufsehen. Die strategische Bedeutung Griechenlands im östlichen Mittelmeer ist nicht zuletzt durch Flüchtlings- und Migrationsströme gewachsen. Das Kentern des mit Flüchtlingen überladenen Kutters im Ionischen Meer hat dies auf tragische Weise in Erinnerung gerufen.

Sich ein überzeugendes Bild von Griechenland zu machen, gleicht der Quadratur des Kreises. Der Blick auf meine Wahlheimat, in der ich mit kurzen Unterbrechungen fast 25 Jahre gelebt habe, ist kontrastreich. Vieles ist in den letzten zehn Jahren in Bewegung geraten. Wirtschaft und Gesellschaft haben sich verändert, mit Folgen für den Arbeitsmarkt, die Wohnsituation vieler Menschen, die Gesundheitsversorgung sowie die Art, wie die Zivilgesellschaft den staatlichen Institutionen begegnet.

Die Beschäftigung nimmt seit 2021 kontinuierlich zu. Insbesondere der Dienstleistungssektor (Verkehr, Telekommunikation, Datenverarbeitung, Tourismus) trägt zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei. Das verarbeitende Gewerbe stagniert hingegen. Viele der neuen Arbeitsplätze sind Teilzeitarbeitsplätze oder befristet. Die anhaltend hohe Inflation, steigende Mieten in den Ballungszentren Athen, Thessaloniki und auf den beliebten (Urlaubs-)Inseln sowie die Energiekosten neutralisieren jedoch die Einkommenszuwächse der letzten Jahre.

Bei den kommenden Parlamentswahlen am 25. Juni handelt es sich um eine Neuwahl. Am 21. Mai stand die politische Bilanz der konservativen Einparteienregierung des amtierenden Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis zur Abstimmung. Entgegen aller Prognosen, die der Nea Dimokratia Stimmenverluste voraussagten, gelang Mitsotakis mit über 40 Prozent der Stimmen ein Triumph. Die linksradikale Syriza des ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras verlor fast die Hälfte ihrer Wählerbasis, während die sozialdemokratische PASOK-KINAL für ihre Verhältnisse respektable 11,4 Prozent erreichte. Da jedoch keine der Parteien bereit war, ein Regierungsbündnis einzugehen, kommt es nun am Sonntag zu Neuwahlen.

Was erklärt den Ausgang der ersten Wahl und was ist nach der Zweiten zu erwarten? Eine Wechselstimmung war vor der ersten Wahl kaum erkennbar. Aber die Wählerwanderungen von Syriza zu anderen Parteien links und rechts unterstrichen, dass Tsipras die Stimmungen und Alltagserfahrungen vieler Menschen völlig falsch eingeschätzt hatte. Selbst bei den Erstwählerinnen lagen die Konservativen vorn.

Die strategische Bedeutung Griechenlands im östlichen Mittelmeer ist nicht zuletzt durch Flüchtlings- und Migrationsströme gewachsen.

Die beiden aufeinander folgenden Wahlkämpfe in Griechenland sind geprägt von dem Bedürfnis vieler Menschen, die Krisenjahre und die damit einhergehende Polarisierung hinter sich zu lassen. Das hat Mitsotakis verstanden und Tsipras ignoriert. Sollte Tsipras diese strategische Fehleinschätzung wiederholen, wird nicht nur ein erneuter Sieg von Mitsotakis die Folge sein, sondern auch eine öffentliche Debatte über die inhaltliche und personelle Neuausrichtung des linken Parteienspektrums in Griechenland.

Anders als im Nachbarland Türkei, wo Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fast zeitgleich stattfanden, zeigt die Entwicklung in Griechenland, dass die wirtschaftliche Lage des Landes und deren Einschätzung durch die Mehrheit der Wähler einen erheblichen Einfluss auf die Wahlentscheidung hatte. Während Präsident Erdoğan mit nationalistischer Rhetorik und autokratischem Führungsstil in der Stichwahl knapp wiedergewählt wurde, punktete Mitsotakis in Griechenland mit Hinweisen auf den erfolgten wirtschaftlichen Wandel, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das neu gewonnene internationale Ansehen des Landes.

Aufschlussreich ist, dass eine an Sachthemen orientierte Kritik an Wirtschaft und Gesellschaft in Griechenland eher von der Zentralbank als von den Oppositionsparteien kommt. Zentralbankpräsident Giannis Stournaras hat sich in Interviews und Meinungsbeiträgen während der Wahlkämpfe wiederholt als Mahner zu Wort gemeldet. Er erinnert die Regierung Mitsotakis daran, dass es trotz der überstandenen Covid-19-Pandemie und wegen der russischen Invasion in der Ukraine keinen Grund zur Selbstzufriedenheit gibt. Sinkende Arbeitslosigkeit und überdurchschnittliche Wachstumsraten (im Vergleich zu anderen Mitgliedsländern der Eurozone) lassen die Bürgerinnen und Bürger heute anders auf ihr Land blicken und das griechische Parteiensystem neu bewerten.

Dennoch bleiben Baustellen, die sowohl Stournaras als auch die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank identifizieren. Die Steuerflucht der privaten Haushalte und die Steuervermeidung der Unternehmen bleiben große Herausforderungen. Als Nettoenergieimporteur ist Griechenland von den Preisschwankungen bei fossilen Energieträgern abhängig, mit entsprechenden Folgen für die Preisinflation. Das Zugunglück im Februar dieses Jahres hat erhebliche Defizite bei der Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur offenbart und ein Schlaglicht geworfen auf Korruption und Missmanagement bei der Auftragsvergabe (auch bei EU-finanzierten Projekten der griechischen Eisenbahn).

Es sind diese Missstände, die nach wie vor dazu führen, dass insbesondere junge, gut ausgebildete und mehrsprachige Menschen entweder mit den Füßen abstimmen oder sich nicht zu einer Rückkehr nach Griechenland entschließen können. Niedrige Gehälter im öffentlichen Dienst und prekäre Arbeitsverhältnisse für Berufsanfänger in weiten Teilen der Privatwirtschaft sind kein Zeichen dafür, dass ihnen der „rote Teppich“ ausgerollt wird.

Doch auf diese Generation der heute 25- bis 35-Jährigen wird es in Griechenland in den nächsten Jahren entscheidend ankommen. Als Jugendliche und junge Erwachsene haben sie die Krisen der letzten Jahre hautnah miterlebt. Sie haben erfahren, wie ihre Eltern vor einem Jahrzehnt vor den Trümmern ihrer Lebenspläne standen und befürchteten, aus dem Euro auszusteigen und zum „schwarzen Schaf“ der EU zu werden. Dazu ist es nicht gekommen. Die Folgen dieser Erfahrungen zeigen sich jedoch im Wahlverhalten. Statt Polarisierung und Krisenrhetorik artikulieren diese Menschen den Wunsch, die Mühen der Ebene zu meistern.