Vertreter einer humanitären Flüchtlingspolitik fordern eine großzügige Evakuierung der überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln und verweisen darauf, dass dafür in Deutschland allein schon hinreichend Aufnahmekapazitäten bereitstehen. Skeptiker gegenüber einer solchen Lösung betonen, dass dies falsche Signale aussende und dass die Lager innerhalb weniger Wochen wieder auf eine abermals skandalöse Weise überfüllt sein würden, weil ja noch Millionen anderer Menschen jenseits des Mittelmeers nach einer besseren Zuflucht oder einem besser gesicherten Lebensunterhalt suchen.

In den Migrationswissenschaften werden solche Signale oft als „Pull-Effekte“ bezeichnet. Der einseitige Verweis auf solche Effekte wird von Befürwortern gesicherter Grenzen gerne als Begründung für eine konsequente Abschottungs- und Abschreckungspolitik verwendet. Freunde einer offenen Einwanderungspolitik sehen im Verweis auf Pull-Effekte hingegen nur ein Totschlagargument gegen humanitäre Lösungen mit der Folge einer Zementierung des Flüchtlingselends. Die Auseinandersetzung um die „Pull-Faktoren“ ist also zu einem migrationspolitischen Glaubenskrieg zwischen Befürwortern und Gegnern einer liberaleren Einwanderungspolitik geworden. Es lohnt folglich, der Frage nach der empirischen Relevanz von Pull-Faktoren nachzugehen, um auf dieser Basis über angemessene migrationspolitische Konsequenzen nachzudenken.

In den Migrationswissenschaften kennen wir „Pull-Faktoren“ als Teil eines Modells, welches das Zusammenspiel zwischen Push-Faktoren (d.h. Migrationsdruck in Herkunftsregion), Pull-Faktoren (Migrationsanreize in potenziellen Zielregionen) und Migrationskosten (finanzieller, zeitlicher, risikobedingter Aufwand) zur Erklärung von räumlichen Migrationsmustern heranzieht. Dessen Kernaussage erscheint so banal wie plausibel: Menschen wandern – per saldo – von dort, wo die Perspektiven schlecht sind, dorthin, wo diese attraktiv erscheinen, unter der Voraussetzung, dass der Weg dorthin erschwinglich und nicht zu beschwerlich ist.

Auch unter Migrationswissenschaftlern ist dieses Modell umstritten. Jenen, die sich für die Vielschichtigkeit individueller Migrationsmotive interessieren, ist das Modell zu wenig differenziert oder zu mechanistisch. Es handelt sich ja auch um einen generalisierenden, makro-demografischen Erklärungsansatz zur quantitativen Erklärung von Migrationsströmen bzw. -mustern. Also um die migrationspolitisch durchaus relevante Frage, warum wie viele Menschen von A nach B wandern. Man sollte also nicht gleich das Erklärungsmodell verwerfen, nur weil manche daraus problematische Schlussfolgerungen ziehen.

Das Push-Pull-Migrationskosten-Modell liefert keine Antworten auf die Frage, welche Faktoren in welchem konkreten Fall ausschlaggebend waren. Vielmehr sagt es, welche Faktoren bei der empirischen Analyse berücksichtigt werden sollten. So gibt es beispielsweise zahllose Untersuchungen zum Thema Landflucht darüber, in welchem Maße nun die Landverknappung, die niedrigen Erzeugerpreise oder der Klimawandel zur Abwanderung gezwungen haben und in welchem Maße die „Lichter der Städte“, die höheren Löhne oder die familiären Netzwerke dorthin gelockt haben. Mit von Fall zu Fall unterschiedlichen Ergebnissen.

Es herrscht breite Übereinstimmung darin, dass Push-Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Landverknappung, Krieg oder Perspektivlosigkeit die entscheidenden migrationsverursachenden Faktoren sind.

Im Falle der aktuellen Migrationsbewegungen aus armen und von bewaffneten Konflikten belasteten Ländern in Richtung Europa, Nordamerika oder in die reichen arabischen Golfstaaten herrscht breite Übereinstimmung darin, dass Push-Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Landverknappung, Krieg oder Perspektivlosigkeit die entscheidenden migrationsverursachenden Faktoren sind. Darauf deutet die Tatsache hin, dass die meisten Migranten innerhalb ihrer Herkunftsländer oder in nur wenig attraktivere Länder innerhalb ihrer Herkunftsregion gewandert sind.

Untersuchungen, die belegen, dass nur die etwas besser Gestellten in entferntere Destinationen wie Europa oder die Golfstaaten kommen, deuten daraufhin, dass zum einen die reicheren Regionen mit ihren höheren Löhnen und größeren Jobchancen attraktiver sind (Pull!), dass zum andern aber die Migrationskosten dorthin die große Mehrzahl der zur Migration Gezwungenen davon abhalten, diese attraktiveren Destinationen anzustreben oder zu erreichen.

Die Pull-Faktoren beeinflussen also die Migrationsziel-Präferenzen der zur Migration Gezwungenen, aber die Migrationskosten inkl. -risiken zwingen dazu, mit zweit- oder drittbesten Zielorten vorliebzunehmen. Auch die Migrationsbewegungen nach Deutschland 2015 und danach sind ein Indiz für die hohe Relevanz von Pull-Faktoren in Kombination mit Migrationskosten: Die temporäre Öffnung in Verbindung mit einer demonstrativen Willkommenskultur (in Migrantenkreisen oft interpretiert im Sinne von „dort werden wir gebraucht“) hat die Zahl der Zugewanderten im Herbst 2015 in kürzester Zeit stark ansteigen lassen.

Die Schließung (durch Ungarn, Kroatien, Italien, später Griechenland, aber mit stillschweigender Billigung der Bundesregierung und der EU) und die begrenzte Macht der Willkommenskultur bei der Verkürzung der frustrierend langen Warteschleifen haben den Pull-Effekt insgesamt drastisch reduziert und die Migrationskosten/-risiken wieder erhöht. Die Zahl der Angekommenen, aber auch derer, die sich auf den Weg machten, hat sich schnell deutlich verringert. Der Zusammenhang mit der Veränderung der Pull-Faktoren und Migrationskosten ist also evident. Ebenso deutlich aber liegt auf der Hand, dass diese Faktoren hier zum Zweck einer inhumanen Abschreckungspolitik instrumentalisiert wurden.

Ebenso deutlich liegt auf der Hand, dass Pull-Faktoren zum Zweck einer inhumanen Abschreckungspolitik instrumentalisiert wurden.

Deshalb diese Faktoren zu leugnen, käme jedoch einer fahrlässigen Vogel-Strauß-Politik gleich. Einer Politik, die die Fortsetzung des gegenwärtigen Elends heraufbeschwört, indem sie Hoffnungen weckt, die sie angesichts des begrenzten Umfangs der Aufnahmefähigkeit nicht einlösen kann oder will. Welche migrationspolitischen Konsequenzen aber können Einwanderungsländer ziehen, wenn sie einerseits die Augen vor der Relevanz von Pull-Faktoren und Migrationskosten nicht verschließen, diese aber andererseits nicht im Sinne einer inhumanen Abschreckungspolitik instrumentalisieren wollen?

Erstens: Die Bekämpfung der Push-Faktoren im Sinne einer Migrationsursachenbekämpfung – sowohl bei Fluchtursachen als auch bei Ursachen für Arbeitsmigration – muss Vorrang haben. Sie ist aber selbst bei einer konsequent daran orientierten Entwicklungs- und Friedenspolitik nicht hinreichend, um in absehbarer Zeit den Migrationsdruck wesentlich zu mindern. Darauf deuten sowohl die Schwierigkeiten einer Friedenslösung für Libyen als auch die bei der Schaffung von Jobs für Afrika hin.

Zweitens: Ein Anreizsystem, das Menschen dazu verleitet, sich erst in Not zu begeben, um aus dieser dann in einer humanitären Aktion ins vermeintliche Paradies (eine prekäre „Duldung“ im Zielland) gerettet zu werden, ist pervers und nicht human. Unsere Humanität darf sich also nicht auf Menschen in Not beschränken. Sie muss Wege schaffen, bei denen Menschen gar nicht erst in Not geraten. Dies impliziert aber eine Senkung der Migrationskosten, schafft also Anreize zur Migration.

Drittens: Solche legalen und sicheren Wege müssten über Antragsverfahren in den Herkunfts- bzw. Transitregionen der Migranten eröffnet und reguliert werden. Dabei wäre – entsprechend internationalem Recht – zu unterscheiden zwischen Verfahren für persönlich politisch Verfolgte (basierend auf Asylrecht), für Kriegsflüchtlinge (Umsiedlung von Kontingenten basierend auf akuten Notsituationen in Erstaufnahmeländern) und für Arbeitsmigranten (basierend auf Arbeitskräftebedarf und Arbeitsverträgen).

Viertens: Da die Zahl der Antragsteller wahrscheinlich auch bei großzügiger Bemessung die Aufnahmekapazitäten der Zielländer stets übersteigen würde, müsste zur Begrenzung der Zahl der Zugelassenen ein faires, rechtsstaatliches und bedarfsgerechtes Auswahlverfahren in den Herkunftsregionen anstelle des derzeitigen Abschreckungsverfahrens an den EU-Grenzen treten.

Ein Anreizsystem, das Menschen dazu verleitet, sich erst in Not zu begeben, um aus dieser dann in einer humanitären Aktion ins vermeintliche Paradies gerettet zu werden, ist pervers und nicht human.

Fünftens: Solange der Andrang die Aufnahmekapazitäten deutlich übersteigt, sind aufenthaltsrechtliche Konditionen wie zeitliche Befristung und Regelung der Rückkehr ins Auge zu fassen. Derartige Begrenzungen des Aufenthaltsstatus reduzieren die Attraktivität, also den Pull-Effekt, sind aber angesichts der eröffneten Möglichkeiten nicht als inhumane Abschreckung einzustufen, zumal sie der Erweiterung der Aufnahmemöglichkeit für weitere Bedürftige in Zukunft dienen.

Sechstens: Solch eine selektive Öffnung wird den Anreiz, sich auf illegalen Wegen nach Europa zu begeben, nur dann signifikant mindern, wenn sie großzügig gehandhabt wird, also vielen Migranten eine Chance bietet. Minister Seehofer hatte einst eine verkraftbare Größenordnung von 200 000 pro Jahr allein für Deutschland ins Spiel gebracht. Unter Berücksichtigung der geschätzten Zahlen der derzeit als Schwarzarbeiter in der EU beschäftigten Eingewanderten und Zeitarbeiter käme man EU-weit wohl auf Größenordnungen von einer Million Menschen jährlich. In solchen Dimensionen müsste man wohl denken, um die Antragsstellung hinreichend aussichtsreich im Vergleich zur aufwändigen irregulären Zuwanderung zu machen.

Siebtens: Nur wenn man faire Chancen dieser Größenordnung eröffnet, lässt sich die weiter bestehende Notwendigkeit einer effektiven Kontrolle der EU-Außengrenzen legitimieren. Wer großzügig Einlass gewährt, erwirbt auch das Recht, das Tor „wegen Überfüllung“ zu schließen und Ankommende auf die zuständigen Antragskanäle zurückzuverweisen.

Die Einsicht in die Wirkungsweise von Pull-Effekten und Migrationskosten kann also helfen, einen TV-Bild-induzierten Notfall-Humanismus für wenige Tausend zu ersetzen durch human geregelte Zugangswege für sehr viele Schutz- und Arbeitssuchende. Es ist an der Zeit, über die Nothilfe für jene im Scheinwerferlicht hinaus zu denken und vorbeugend Not zu vermeiden. Das setzt voraus, dass wir bereit sind, auch über Zugangskonditionen und auch über Grenzregelungen zu sprechen. Anstatt uns solche Debatten zu ersparen mit der zweckoptimistischen Annahme, es würden schon nicht so viele kommen wollen.