Russland

Russland hat ein eigenes Impfmittel entwickelt, das kostengünstiger ist als die bisher auf dem Markt erhältlichen, das zugleich leichter zu handhaben ist, weil es weniger Kühlung benötigt, und das einen Impfschutz von 91,4 Prozent ermöglicht. Diesen Angaben kann man Glauben schenken, denn Russland hat die technischen Möglichkeiten, die Expertise und die Erfahrung in der Entwicklung von Impfstoffen. Der Nachteil: Daran muss man auch glauben, denn wissen kann man es nicht. Und genau daran scheitert vielleicht eine mögliche Erfolgsgeschichte. Die aus Prestigegründen verfrühte Zulassung des Sputnik V getauften Mittels, die bisher weiterhin nicht abgeschlossene 3. Testphase sowie die fehlende Offenlegung der bisherigen Ergebnisse erzeugen Skepsis – international aber auch in Russland selbst. Damit wächst die Gefahr, dass ein vermutlich gutes Impfmittel nicht das nötige Vertrauen gewinnen kann, um es zu Hause und weltweit erfolgreich anzuwenden.

Damit wächst die Gefahr, dass ein vermutlich gutes Impfmittel nicht das nötige Vertrauen gewinnen kann, um es zu Hause und weltweit erfolgreich anzuwenden.

Es bestehen bislang Lieferverträge mit über zehn Ländern über 1,2 Millarden Impfdosen. Seit der Zulassung im August hat Russland allerdings erst 1,5 Millionen Impfdosen hergestellt. Bisher reichen die Kapazitäten bei weitem nicht aus, um den Lieferverpflichtungen zeitnah nachzukommen. Neue Fertigungskomplexe wurden in kurzer Zeit fertiggestellt und sollen ab Februar eine massive Erhöhung der Produktion ermöglichen. Zusätzlich wurden Verträge zur Herstellung des Impfstoffes mit Indien, Brasilien, China und Südkorea abgeschlossen. Auch um eine Kooperation mit Frankreich und Deutschland bemüht man sich. Dies wäre in der Tat eine gute Möglichkeit, nach all den Konflikten der letzten Zeit wieder in eine konkrete Zusammenarbeit einzusteigen, die sowohl für die bilateralen Beziehungen wie auch für die restliche Welt von Vorteil wäre. Jedenfalls, sobald der Impfstoff auch in der EU eine Zulassung erhält.

Das fehlende Vertrauen in die heimische Produktion macht sich aber auch in der russischen Bevölkerung bemerkbar. Zwar steht das Land mit 1 Million Geimpften und einer Impfquote von circa 0,69 Prozent nicht schlecht da. Allerdings wurden in erster Linie medizinisches Personal, Lehrkräfte und Funktionsträger geimpft. In der breiten Bevölkerung ist die Bereitschaft zur Impfung bisher eher gering. Auf die Impfung zunächst verzichten wollen gemäß einer Umfrage des Lewada Institutes ganze 58 Prozent. Die meisten Befragten gaben als Grund für die Zurückhaltung an, dass sie erstmal warten wollen, welche Nebenwirkungen der Impfstoff hat.

Ein weiterer Grund dürfte in der Informationspolitik zur Pandemie liegen. Stets betonte man, dass Russland viel besser durch die Pandemie komme. Niedrige offizielle Todesraten (die massiv unter den Angaben zur Übersterblichkeit liegen) und die sehr zurückhaltenden Schutzmaßnahmen mit nur geringen Eingriffen in den Alltag führen zu einer gewissen Sorglosigkeit. Wozu impfen, wozu ein Risiko eingehen, wenn doch alles gar nicht so schlimm ist, wird ein großer Teil der Menschen denken. Der Staat fängt nun an gegenzusteuern. Ein Impfzertifikat soll ausgegeben werden. Noch ist nicht klar, welche Vorteile es bringen wird. In Moskau kann man das allerdings bereits erahnen. Personengruppen, denen der kostenfreie Zugang zum öffentlichen Nahverkehr mit Beginn der zweiten Welle gestrichen wurde, können diesen wieder nutzen – mit Nachweis der Impfung. Weitere Anreize werden folgen, um die angestrebte Impfquote von 70-80 Prozent bis Ende des Jahres zu erreichen. Spätestens dann weiß man auch sicher, wie gut der Impfstoff wirklich war.

Peer Teschendorf, FES Moskau

Großbritannien

Beim Impfstoff ist das Vereinigte Königreich vorn dabei. Der Biontech-Impfstoff wurde schon Anfang Dezember freigegeben und das von AstraZeneca und der Oxford-Universität entwickelte Vakzin Anfang Januar. In einer zentral angelegten Impfkampagne sollen Risikogruppen baldmöglichst immunisiert werden. Dabei sind bereits substantielle Fortschritte erzielt worden. Bis zur ersten Januarwoche wurden mehr als eine Million Britinnen und Briten geimpft. Derzeit wird darüber nachgedacht, die zweite Impfung hinauszuzögern, um eine größere Zahl erreichen zu können. Bis Mitte Februar sollen etwa 14 Millionen Menschen aus den Hochrisikogruppen eine erste Spritze bekommen haben und so geschützt werden. Das ist dringend nötig, denn auch bei den Ansteckungszahlen, den Krankenhauspatienten und den Todesfällen ist das Vereinigte Königreich „vorn dabei“.

Dennoch ist der frühe Beginn der Impfung für die Regierung des pathologischen Optimisten Johnson ein Umstand, der nicht ungenutzt bleiben darf. „Das ist kein Wettrennen, aber ich sage nur, dass wir im Vereinigten Königreich schon mehr Menschen geimpft haben als ganz Europa zusammen.“ Diese Formulierung des Premierministers vom 3. Januar, die momentan von vielen Tories verwendet wird, illustriert schön den Schnittpunkt von Brexit und der Covid-Krise. Deutlich grobschlächtiger war hier Bildungsminister Gavin Williamson, der die frühe Zulassung darauf zurückführte, dass man einfach die besseren Leute habe als Frankreich, Belgien oder die USA und schlicht ein besseres Land sei.

Gleichzeitig mehren sich die Zweifel, ob die Regierung, die sich in der Covid-Krise bisher nicht mit Ruhm bekleckert hat, in der Lage sein wird, die logistische Mammutaufgabe einer Massenimpfung zu leisten.

In der Realität stellt sich das ein wenig differenzierter dar. Die britische Entscheidung basierte auf europäischem Recht und machte lediglich Gebrauch von der Möglichkeit einer Notfallzulassung. Diese ist zwar schneller, bürdet dem zulassenden Staat allerdings Haftungsrisiken auf – ein Umstand, der in der Inselpresse eher selten auftaucht. Dafür nutzen Impfskeptiker es für ihre Zwecke und versuchen, die aktuelle Situation zu ihren Gunsten zu nutzen. Dabei kommt ihnen zugute, dass die „Anti-Vaxxer“ im Vereinigten Königreich etwa 5 Millionen Follower in den sozialen Medien haben und auf einen langjährigen harten Kern von Impfskeptikern bauen können. Ein prominenter Name in diesen Kreisen ist übrigens Corbyn, auch wenn es sich dabei nur um Piers Corbyn handelt, den befremdlichen Bruder des ehemaligen Labour Vorsitzenden Jeremy Corbyn.

Gleichzeitig mehren sich die Zweifel, ob die Regierung, die sich in der Covid-Krise bisher nicht mit Ruhm bekleckert hat, in der Lage sein wird, die logistische Mammutaufgabe einer Massenimpfung zu leisten. Das Gesundheitssystem NHS ist von der dritten Welle und der Virusmutation überlastet, das Personal durch die Dauerbelastung seit März ausgezehrt und die Regierung plant weiterhin ein Einfrieren der Gehälter. Johnson droht mithin der nächste Fall von „zu viel versprochen“. Das dürfte ihn noch mehr unter Druck setzen. Zwar ist es kein Wettrennen, aber wenn er im Frühjahr nicht immer noch vorn dabei ist, dürften Fragen nach seiner politischen Zukunft lauter gestellt werden.

Christos Katsioulis, FES London

Polen

Auch in Polen haben die Impfungen gegen das Corona-Virus begonnen. Die erste Impfung erhielt am 27. Dezember die Oberschwester eines Warschauer Krankenhauses. Dies entspricht der Impfstrategie der polnischen Regierung: In der prioritären „Gruppe Null“ befindet sich das medizinische Personal. Es handelt sich um circa 900 000 Menschen, die bis Ende Januar geimpft sein sollen und von denen sich bisher 500 000 für eine Impfung registriert haben. Ganz ohne Probleme verlief der Impfstart allerdings nicht. Medien berichten über Probleme von Krankenhäusern, die gelieferten Dosen des sensiblen Pfizer/Biontech-Vakzins vernünftig zu verimpfen. Einige Krankenhäuser hätten mehr Impfstoff erhalten, als sie zunächst hätten nutzen bzw. einlagern können. Dennoch steht Polen im europäischen Vergleich nicht schlecht da. Mit 0,37 Geimpften pro 100 000 Einwohnern (Stand 6. Januar) steht das Land im europäischen Mittelfeld. Nur die beiden deutlich größeren Länder Deutschland und Italien haben mehr Impfungen verabreicht als Polen.

Die eigentliche Belastungsprobe des Impfsystems wird Ende Januar kommen. Dann sollen die Massenimpfungen beginnen. Die „Gruppe 1“ aus Senioren, Einwohnern von Pflege- und Altersheimen, „uniformierten Diensten“ (Polizei, Feuerwehr, Streitkräfte etc.) und Lehrenden umfasst circa 10 Millionen Menschen. Sie sollen an circa 6 000 Impfpunkten geimpft werden können. Ab den 15. Januar sollen sich Menschen online für diese Impfungen registrieren können. Ein zentrales Priorisiserungskriterium soll das Alter sein: Menschen über 75 werden als erste geimpft.

Unklar ist allerdings noch, wie groß die Impfbereitschaft überhaupt ist. Impfgegner und –skeptiker gibt in allen Milieus. Bei einer repräsentativen Umfrage Ende Dezember erklärte 43,8 Prozent aller Befragten, sich nicht gegen COVID-19 impfen lassen zu wollen, 43,4 Prozent dagegen wollen sich impfen lassen, 12,9 Prozent waren sich noch nicht sicher.

Ein Mangel an Impfstoff ist bisher kein Thema in Polen. Das Land wird über das gemeinsame Einkaufsprogramm der EU versorgt, und momentan treffen circa 300 000 Impfdosen pro Woche ein. Wenn das Moderna-Vakzin ausgeliefert wird, könnten bis zu 400 000 Dosen dieses Impfstoffes pro Woche hinzukommen. Wenn die 6 000 Impfpunkte funktionieren, könnte das Land allerdings geschätzt bis zu 4 Millionen Impfungen pro Monat durchführen – das wären weit mehr, als Impfdosen aus dem EU-Kaufprogramm zur Verfügung stehen werden. Entsprechend führt die Warschauer Regierung seit Weihnachten Gespräche mit Pfizer/Biontech über zusätzliche nationale Käufe. Die Anregung, eine zweite, nationale Beschaffungslinie aufzumachen, soll nicht zuletzt von den entsprechenden deutschen Bemühungen ausgegangen sein. Nächste Woche sollen die Ergebnisse dieser Verhandlungen bekannt gegeben werden.

Auch der zuletzt immer unglaubwürdiger werdende Underdog-Populismus der PiS dürfte in den letzten Tagen eine kräftige Schutzimpfung erhalten haben.

In der öffentlichen Wahrnehmung wurde der Start der Impfkampagne allerdings von einem „Skandal“ um die Impfung von circa 20 mehr oder weniger bekannten Figuren aus der Politik-, Medien- und Kulturszene Warschaus überschattet. Zu diesen medizinisch wenig systemrelevanten Erstgeimpften zählen der frühere Ministerpräsident und heutige MdEP Leszek Miller (SLD), die oppositionsnahe Schauspielerin Krystyna Janda und zwei Direktoren des PiS-kritischen TV-Privatsenders TVN. Das Angebot zur Impfung erhielten sie vom Direktor der Warschauer Universitätsklinik, während medizinisches Personal dieser Einrichtung immer noch auf die Impfung warten soll. Die regierungsnahen Medien haben sich die Gelegenheit zur Skandalisierung dieser Selbst-Privilegierung der Warschauer Bussi-Gesellschaft natürlich nicht entgehen lassen – und ebenso reflexhaft hat sich das liberale Lager zur Verteidigung der Impfungs-Empfänger aufgestellt.

Die gesellschaftliche Wahrnehmung dieses an sich relativ irrelevanten Vorgangs hat vielleicht am besten der in Deutschland für seinen Roman „Der Boxer“ bekannt gewordene Schriftsteller Szczepan Twardoch auf den Punkt gebracht. Er habe durchaus Verständnis für das Verhalten der Geimpften – es gehe schließlich um Leben und Tod. Was er aber verachtenswert finde, sei die Verteidigung dieses Verhaltens durch die Medien- und Kulturelite: „Sie basiert auf der Überzeugung, dass es Menschen gibt, deren Existenz wichtiger und wertvoller ist als die anderer und dies sind natürlich Menschen ihrer Klasse, die ihren Habitus und ihren sozialen Hintergrund teilen.“ Auch der zuletzt immer unglaubwürdiger werdende Underdog-Populismus der PiS dürfte in den letzten Tagen eine kräftige Schutzimpfung erhalten haben.

Ernst Hillebrand, FES Warschau